Im zweiten Beitrag unserer Methodenserie befassen wir uns weiterhin mit der Rolle von Zivilist·innen in Konfliktdaten und konzentrieren uns dabei auf die Datensätze von ACLED und UCDP. Durch die Betrachtung von Variablen wie „Civilian Targeting“, „deaths_civilians“ und des Ereignistyps „Gewalt gegen Zivilist·innen“ beschäftigen wir uns mit der Komplexität der verantwortungsvollen Interpretation und Nutzung solcher Datensätze bei der Analyse der Auswirkungen von Konflikten auf Zivilist·innen.
In unserem ersten Beitrag der methodologischen Blogserie von ACCORD zum Thema „Wie man einen Konflikt im Kontext von COI am besten beschreibt“ haben wir den Indikator „Conflict Exposure“ von ACLED (Konfliktexponierung) im Detail untersucht. Im aktuellen Beitrag setzen wir unsere Untersuchung der Rolle von Zivilist·innen in Konfliktdaten fort. Konkret behandeln wir weiter, was quantitative Konfliktdatensammlungen uns darüber sagen können, wie Zivilist·innen involviert und betroffen sind, auf der Grundlage üblicherweise verwendeter Variablen, die die Anzahl der Todesopfer, die Ereignistypen und die beteiligten Akteur·innen angeben, aber auch auf der Grundlage tiefergehender Variablen, die bestimmte Merkmale von Vorfällen angeben, wie z. B. das sogenannte „Civilian Targeting“ (etwa: „Vorfälle mit zivilen Zielen“), das 2023 als neue Variable zu den ACLED-Datensätzen hinzugefügt wurde. Da die Auswirkungen sicherheitsrelevanter Vorfälle auf die Zivilbevölkerung ein zentraler Aspekt vieler COI-Produkte, die sich mit der Sicherheitslage befassen, sind, werden wir in diesem Blogbeitrag verschiedene Variablen vorstellen, die sich auf die Zivilbevölkerung konzentrieren, und ihre unterschiedlichen Bedeutungen und möglichen Implikationen diskutieren. In diesem Blogbeitrag konzentrieren wir uns auf die Datensätze von UCDP, dem Uppsala Conflict Data Program, und von ACLED, dem Armed Conflict Location & Event Data Project, zwei der meistgenutzten Konfliktdatenangebote im COI-Bereich.
Unterschiedliche Datensätze, unterschiedliche Variablen, unterschiedliche Erkenntnisse:
Unabhängig davon, mit welchem Konfliktdatensatz Sie arbeiten, ob es sich um ACLED oder den Georeferenced Event Dataset (GED) von UCDP oder einen anderen handelt, ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Methoden der Datenerhebung unterschiedlich sind und daher zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. ACLED und UCDP beispielsweise messen auf den ersten Blick dasselbe, nämlich konfliktbezogene Vorfälle, doch ihre Zahlen zu Vorfällen und Opfern unterscheiden sich durchweg (Raleigh et al., 2023; Eck, 2012). Die Praktiken der Datenerhebung, die daraus resultierenden Datensätze und ihre Zuverlässigkeit und Validität werden in erheblichem Maße von den verschiedenen Entscheidungen ihrer Ersteller·innen geprägt (einschließlich Entscheidungen über Konzeption, Kodierung und Quellen) (Raleigh et al., 2023, S. 1-3). (Weitere allgemeine Informationen über den Umgang mit quantitativen Daten im Rahmen der COI-Recherche finden Sie in Kapitel 5 des ACCORD-Handbuchs Researching Country of Origin Information).
Tipp: Die Handbücher zu den Datensätzen, die so genannten Codebücher bieten wertvolle Anleitungen und detaillierte Beschreibungen der Datenerhebungsmethodik, der Variablen und mehr! Wenn Sie einen Blick in Beispiele solcher Codebücher werfen möchten, sehen Sie sich die Codebooks von ACLED und UCDP GED an.
Wenn wir speziell jene Variablen betrachten, die sich mit der Rolle der Zivilbevölkerung in Konflikten befassen, sehen wir, dass ACLED und UCDP unterschiedliche Arten von Informationen erheben. Dies wird zum Beispiel deutlich, wenn wir einen Blick auf die GED von UCDP werfen, wo die Zahl der zivilen Todesopfer in der Variable „deaths_civilians“ gesondert ausgewiesen wird. Diese Variable stellt „die beste Schätzung toter Zivilist·innen“ je Konfliktvorfall dar (UCDP, 19. März 2024, S.10-11). Im Allgemeinen unterscheidet UCDP in seinem Datensatz zwischen drei verschiedenen Kategorien von Gewalt: nicht-staatliche, staatliche und einseitige Gewalt (UCDP, 19. März 2024, S. 6). Bei zivilen Todesopfern in Ereignissen, die als „nichtstaatliche Gewalt“ oder „staatliche Gewalt“ (im Original „state-based violence“) kategorisiert werden, handelt es sich laut Codebuch um so genannte „Kollateralschäden“, d.h. zivile Todesopfer infolge von Kämpfen zwischen zwei Konfliktparteien, in Fällen in denen „zivile Unbeteiligte tödliche Verletzungen erleiden“ oder wenn zivile Todesopfer z.B. durch ungenaue Luftangriffe verursacht werden, die ursprünglich nicht auf Zivilist·innen abzielten (UCDP, 19. März 2024, S. 24). Im Falle der dritten Kategorie, der einseitigen Gewalt, bezieht sich die Variable „deaths_civilians“ auf die Anzahl der Zivilist·innen, die von der „Täterpartei“ getötet wurden (UCDP, 19. März 2024, S. 7-11). Allerdings wird nur „die Anwendung von Waffengewalt durch die Regierung eines Staates oder durch eine formell organisierte Gruppe gegen Zivilist·innen, die mindestens 25 Tote zur Folge hat“ als einseitige Gewalt betrachtet – außergerichtliche Tötungen in Haft sind ausdrücklich ausgeschlossen (UCDP, 19. März 2024, S. 30).
Im Vergleich dazu werden die zivilen Todesopfer in den ACLED-Datensätzen nicht gesondert angeführt, da ACLED nur eine Variable in Bezug auf die Todesopfer bereitstellt, die alle durch ein Ereignis verursachten Todesopfer umfasst. Anhand dieser Variable allein ist es nicht möglich, Rückschlüsse auf die Auswirkungen eines Ereignisses auf das Leben von Zivilist·innen zu ziehen. Daher ist es notwendig, auf andere von ACLED bereitgestellte Variablen zurückzugreifen, nämlich die Spalten „Akteur“, den kodierten Ereignistyp und die relativ neue Variable „Vorfälle mit zivilen Zielen“:
Bedeutung in der Praxis:
Aus den oben genannten Variablen und ihren Beschreibungen lassen sich verschiedene Erkenntnisse über Zivilist·innen in Konflikten ableiten:
1. Die Verwendung von "Zivilist·innen" als Akteur ermöglicht es, die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle zu bestimmen, bei denen Zivilist·innen als „Akteur1“, „assoziierter Akteur1“, „Akteur2“, „assoziierter Akteur2“ in einem bestimmten Zeitraum kodiert wurden. Da ACLED jedoch Zivilist·innen bei Ereignissen, die als „Kämpfe“ kategorisiert werden, nicht als „Akteur“ kodiert, obwohl sie bei solchen Ereignissen verletzt oder getötet werden können, stellt diese Zahl nicht die Anzahl aller Ereignisse dar, die das Leben von Zivilist·innen betreffen.
2. Der Ereignistyp „Gewalt gegen Zivilist·innen“ zeigt die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in einem bestimmten Zeitraum, bei denen unbewaffnete Zivilist·innen Opfer von Gewalt in Form von sexueller Gewalt, Angriffen oder Verschleppungen/Verschwindenlassen wurden. Da dieser Ereignistyp jedoch auf diese drei "Unter-Ereignistypen" beschränkt ist, stellt diese Zahl nicht die Anzahl aller Ereignisse dar, bei denen Zivilist·innen Opfer von Gewalt wurden.
3. Die Variable "Vorfälle mit zivilen Zielen" ermöglicht es uns, die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu bestimmen, bei denen Zivilist·innen das Hauptziel oder das einzige Ziel waren, aber diese Zahl stellt nicht die Anzahl aller Vorfälle, bei denen Zivilisten betroffen waren, dar.
Die Optionen 2 und 3 unterscheiden sich darin, dass als „Vorfälle mit zivilen Zielen“ kodierte Vorfälle nicht nur „Gewalt gegen Zivilist·innen“, sondern auch andere Arten von Ereignissen umfassen. Allerdings werden alle Vorfälle, die als „Gewalt gegen Zivilist·innen“ kodiert werden, immer auch als „Vorfälle mit zivilen Zielen“ kodiert.
Diese Variablen erlauben zum Beispiel (im Fall der Optionen 1 und 3) die Analyse, welche Ereignistypen als sicherheitsrelevante Vorfälle vorkommen und wie viele Todesopfer diese gefordert haben. Dabei ist immer zu bedenken, dass es sich nicht ausschließlich um zivile Todesopfer handelt.
Anmerkung: Wie im Codebuch von ACLED angegeben sind die Informationen über die Zahl der Todesopfer in der Regel der „parteiischste“ und „am wenigsten genaue“ Teil der Berichterstattung über Konflikte. Sowohl bewaffnete Gruppen als auch Medien können diese Zahlen manipulieren, um politische Ziele zu verfolgen. Daher sollten diese Zahlen als „indikative Schätzung“ und nicht als „endgültige Todeszahlen“ betrachtet werden. (ACLED, 7. Oktober 2024, S. 38)
Zur besseren Veranschaulichung dieser Aufschlüsselung und wie sich die Analyseoptionen auf die ausgegebenen Zahlen auswirken, bietet die nachstehende Tabelle einen Vergleich:
ACLED-Daten: Irak, 2020-2024, gefiltert nach Unruhekategorie (Variable „disorder_type“): „Politische Gewalt“ (einschließlich der folgenden Ereignistypen: Kämpfe; Explosionen/Fernangriffe, Unruhen und Gewalt gegen Zivilist·innen)
Abbildung 1. Die Tabelle basiert auf ACLED: Curated Data File, Middle East (28 February 2025), Stand: 5. März 2025.
Wie wir jetzt gesehen haben, liefern die ACLED-Daten verschiedene Indikatoren für die Analyse der Auswirkungen von Konflikten auf die Zivilbevölkerung, von denen jeder – bis zu einem gewissen Grad – unterschiedliche Aspekte erfasst. Diese Differenzierung wird noch deutlicher in den Fällen, in denen ACLED spezifische Praktiken für die Kodierung von zivilen Todesopfern definiert hat, die indirekt und ohne direkte Angriffe auf die Zivilbevölkerung auftreten, d.h. ohne dass der Vorfall als „Vorfälle mit zivilen Zielen“ kodiert wird. Nach Angaben von ACLED war dies im Irak besonders relevant. ACLED hält fest, dass zivile Todesopfer, die durch indirekten Beschuss während der Kämpfe verursacht werden, in der Gesamtzahl der Todesopfer enthalten sind, Zivilist·innen aber nicht in der Akteursvariable kodiert werden. Im Falle von Fernangriffen können Zivilist·innen als assoziierte Akteur·innen angeführt werden, wenn eine bewaffnete Gruppe eine andere angreift. Diese Todesopfer oder Verletzte werden dann in der Spalte „Notes“ erfasst und in der Zahl der Todesopfer wiedergegeben (ACLED, 29. November 2023).
Das obige Beispiel verdeutlicht auch, warum es nicht sinnvoll wäre, sich bei der Erstellung von COI-Produkten zur Sicherheitslage in einem bestimmten Land ausschließlich auf die Variable „Vorfälle mit zivilen Zielen“ zu konzentrieren. Dies würde die Realität der Zivilbevölkerung in dem jeweiligen Land nicht angemessen widerspiegeln. Zivilist·innen sind von Konflikten nicht nur dann betroffen, wenn sie bei sicherheitsrelevanten Vorfällen direkt ins Visier genommen werden oder wenn Zivilist·innen bei solchen Vorfällen getötet werden (wie beispielsweise in den UCDP GED-Daten geschätzt). Dies bringt uns zurück zum neuen ACLED-Indikator der „Conflict Exposure“ (Konfliktexponierung), den wir in unserem letzten Blogbeitrag vorgestellt haben: Während die Anzahl der Vorfälle, bei denen Zivilist·innen direkt angegriffen wurden und die Anzahl der Todesopfer verwendet werden können, um das Ausmaß und die Intensität eines Konflikts zu beschreiben, veranschaulicht der ACLED-Indikator für die Konfliktexponierung zusätzlich die Auswirkungen eines Konflikts auf die Zivilbevölkerung, ausgedrückt durch die geschätzte Anzahl der Menschen, die dem Konflikt ausgesetzt sind. In diesem Zusammenhang definiert ACLED den Begriff „Konfliktexponierung“ sehr weit und legt fest, dass Menschen auf unterschiedliche Weise von einem Konflikt betroffen sein können.
Empfehlungen:
Abschließend empfehlen wir:
Quellen:
ACLED – Armed Conflict Location & Event Data Project: How does ACLED code the indirect killing of civilians?, zuletzt aktualisiert: 29. November 2023
https://acleddata.com/knowledge-base/indirect-killing-of-civilians/
ACLED – Armed Conflict Location & Event Data Project: Codebook, 7. Oktober 2024
https://acleddata.com/acleddatanew/wp-content/uploads/dlm_uploads/2024/10/ACLED-Codebook-2024-7-Oct.-2024.pdf
ACLED - Armed Conflict Location & Event Data Project: Curated Data File, Middle East (28 February 2025), Stand: 5. März 2025
https://acleddata.com/curated-data-files/#MiddleEast_2015-2025_Mar5
Eck, Kristine: In data we trust? A comparison of UCDP GED and ACLED conflict events datasets. In: Cooperation and Conflict, Volume 47(1), 2012, S. 124-141 https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0010836711434463
Raleigh, Clionadh et al.: Political instability patterns are obscured by conflict dataset scope conditions, sources, and coding choices. In: Humanities & Social Sciences Communications, No. 74, 2023
https://www.nature.com/articles/s41599-023-01559-4.pdf
UCDP – Uppsala Conflict Data Program: UCDP Georeferenced Event Dataset Codebook, Version 24.1, 19. März 2024
https://ucdp.uu.se/downloads/ged/ged241.pdf