Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktivitäten der Taliban im Distrikt Kama (Provinz Nangarhar) zwischen September 2016 und heute [a-10872-1]

7. Februar 2019

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

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Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) der University of Sussex dokumentiert seit Beginn des Jahres 2017 politische Gewalt und Proteste in Afghanistan. Während die ACLED-Daten laut eigenen Angaben alle Ereignisse umfassen, bei denen Zivilpersonen das direkte oder einzige Ziel von Gewalt waren, sind Fälle, in denen Zivilpersonen Kollateralschäden erlitten haben, nicht enthalten. Dem ACLED-Datensatz zufolge hätten sich zwischen 1. Jänner 2017 und 26. Jänner 2019 sieben derartige Ereignisse im Distrikt Kama ereignet, zwei davon unter Beteiligung der Taliban. Diese beiden Vorfälle hätten drei Todesopfer gefordert. (ACLED, ohne Datum)

 

Die Provinz Nangarhar sei allerdings laut den von ACCORD veröffentlichten Kurzübersichten über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) zwischen 2017 und dem dritten Quartal des Jahres 2018 (eine Übersicht zu den Vorfällen des vierten Quartals 2018 ist zum momentanen Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht) konstant die vom Konflikt am stärksten betroffene Provinz Afghanistans gewesen. Dies gelte sowohl in Bezug auf die Anzahl der Konfliktvorfälle, als auch auf die Anzahl der daraus resultierenden Todesopfer. (ACCORD, 20. Dezember 2018a, ACCORD, 20. Dezember 2018b, ACCORD, 20. Dezember 2018c, ACCORD, 20. Dezember 2018d)

 

Detaillierte Informationen zur Methodologie und Vorgehensweise von ACLED finden sich auf den Seite 196-197 des ACCORD-Berichts zur Versorgungs- und Sicherheitslage in mehreren afghanischen Großstädten vom Dezember 2018:

 

 

BBC News berichtet im Oktober 2018, dass ein Selbstmordattentäter bei einer Wahlkampfveranstaltung im Distrikt Kama 13 Menschen getötet und mehr als 30 verletzt habe. Sowohl die Taliban als auch die Gruppe Islamischer Staat hätten zum Boykott der Wahl aufgerufen, es habe sich allerdings unmittelbar nach dem Angriff niemand zur Tat bekannt:

„A suicide attacker has killed 13 people and injured more than 30 at an election rally in Nangarhar province - the first major attack on campaigning since it began last Friday. Supporters of parliamentary candidate Abdel Naser Momand had gathered in Kama district when the blast happened. The parliamentary election will be held on 20 October and there have been threats of violence. Both the Taliban and the Islamic State group have urged a boycott of the vote. […] The force of the blast reportedly caused the ceiling to collapse on the crowd of about 250 people. There was no immediate claim of responsibility for the attack.” (BBC News, 2. Oktober 2018)

Während der oben beschriebene Angriff vom Oktober 2018 im ACLED-Datensatz der Gruppe Islamischer Staat zugerechnet wird (ACLED, ohne Datum), berichtet die pakistanische Tageszeitung Daily Times, von nunmehr 16 Toten und dass die Taliban einige Tage nach dem Angriff die Verantwortung für die Tat übernommen hätten:

In a suicide explosion on October 3, at least 16 people were killed in Kama district of eastern Nangarhar province. The Taliban claimed the attack days after they called upon the people to completely boycott the elections and not to participate by ‘denying its value and credibility.’” (Daily Times, 17. Oktober 2018)

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union zur Umsetzung der praktischen Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Asylbereich, veröffentlicht im Dezember 2017 einen Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan auf Provinzebene. Das EASO bezieht sich auf eine Karte des Institute for the Study of War (ISW) vom März 2017, die die behauptete Gebietskontrolle der Taliban und der Gruppe Islamischer Staat in Afghanistan veranschaulicht. Laut dieser Karte sei der an Kama angrenzende Distrikt Goschta eine sehr zuverlässige Taliban-Unterstützungszone („high confidence Taliban support zone“). In einem Artikel der Website Voice of Jihad vom März 2017 hätten die Taliban angegeben, dass die Regierung 75 Prozent des an Kama angrenzenden Distrikts Rodat kontrolliere und Kama zu jenen Distrikten zählen würde, in denen die Taliban-Guerilla-Operationen durchführen würden:

„According to a September 2017 LWJ [Long War Journal] map based on an evaluation of Taliban claims of control, Lalpur, Batikot, Hesarak, Khogyani and Sherzad districts are described as being contested. According to a map published by ISW, some parts of Sherzad and Khogyani districts are ‘Taliban control zones’ while much of Hisarak, Sherzad, Khogyani, Surkh Rod, Chaparkar, Pachiragam, Lal Pur and Goshta are described as ‘high confidence Taliban support zones’. Further ‘high confidence Taliban support zones’ are shown in Achin, Deh Bala districts and west of Jalalabad. In a March 2017 article published on their Voice of Jihad website, the Taliban claim that 95 % of Hisarak and Sherzad districts were under their control, while district centers were under government control. Surkh Rod, Chaparhar, Pachiragam, Mohmand Dara and Ghani Khel districts are half under Taliban control and half under government control. The Taliban further claim that 75 % of Khogyani, Bati Kot and Lalpura districts are under their control, while the government controls 75 % of Rodat and Behsud districts. Taliban guerilla operations were carried out in Kama, Khewa, Dara Nur, Gwashta and Dur Baba. Deh Bala, Kot, Spin Ghar, Achin and Naziyan districts are 25 % under Taliban control, 30 % under government control, the rest of the districts are under the control of ‘miscellaneous bandits.” (EASO, Dezember 2017, S. 198)

BBC News veröffentlichte im Jänner 2018 eine Karte zur Präsenz der Taliban in Afghanistan, die zwischen 23. August und 21. November 2017 erstellt wurde. Der Karte zufolge sei die Präsenz der Taliban im Distrikt Kama niedrig, der Distrikt werde somit rund einmal in drei Monaten angegriffen:

 

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(BBC News, 31. Jänner 2018)

Das Norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo, ein unabhängiges Organ der norwegischen Migrationsbehörden, das verschiedenen AkteurInnen innerhalb der Migrationsbehörden Herkunftsländerinformationen zur Verfügung stellt, veröffentlicht im Oktober 2016 einen Bericht zur Sicherheitslage in der Provinz Nangarhar. Unter Bezugnahme auf eine E-Mail-Auskunft einer internationalen Quelle und mehrere Medienartikel führt Landinfo an, dass die Distrikte Dara-e-Nur, Kuz Kunar und Kama im Nordwesten der Provinz sowie Behsud weitgehend unter staatlicher Kontrolle stehen würden. Bis September 2016 habe es in jedem der Distrikte eine geringe Anzahl an Sicherheitsvorfällen gegeben. Die Angriffe Aufständischer würden in erster Linie Detonationen unkonventioneller Spreng- und Brandvorrichtungen (improvised explosive devices, IEDS) oder direkte Angriffe auf die afghanischen Sicherheitskräfte umfassen. Drei ZivilistInnen seien am 10. Jänner 2016 in Kama durch eine unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen, die offensichtlich auf Sicherheitskräfte abgezielt hätten, getötet worden. Landinfo zufolge gebe es nur sehr wenige sicherheitsrelevante Berichte aus den oben genannten drei Distrikten. Laut Pajhwok habe der nationale Sicherheitsdienst (NDS) Ende Juli 2016 angegeben, einen Bombenbauer im Distrikt Kama verhaftet zu haben, der angeblich mit der Gruppe Islamischer Staat in Verbindung stehe. Landinfo seien zu Veröffentlichungszeitpunkt des Berichts keine weiteren Informationen bekannt gewesen, die auf eine Präsenz der Gruppe Islamischer Staat in Kama hingewiesen hätten. Im Mai 2016 sei der Leiter eines Bildungszentrums im Bezirk Kama angegriffen worden. Er sei allerdings unversehrt wieder aufgetaucht und habe angegeben, Drohungen erhalten zu haben.

„The districts of Dara-e-Nur, Kuz Kunar and Kama in the northwest of the province, in addition to Behsud, according to an international source (e-mail 2016), are largely under government control. Until September 2016, there have been a small number of security incidents in each of the districts. The insurgent-initiated attacks primarily involve the detonation of IEDs [improvised explosive devices] or direct attacks against the Afghan security forces. Three civilians were killed when an IED apparently targeting security forces exploded on January 10 in Kama (Fahim 2016b).

The news media Landinfo has studied reflect this picture. There is very little security related news from the three districts. According to Pajhwok, the national security service NDS claims to have arrested a bomb maker in Kama district, allegedly affiliated to Daesh, in late July (Pajhwok 2016f). Landinfo is not aware of other information indicating that Daesh is present in the district. In May, it was reported from the same district that the head of an educational centre had been attacked on his way home from work. He emerged unscathed from the incident, but claimed he received threats to close the girl’s section at the centre (Fahim 2016h).” (Landinfo, 13. Oktober 2016, S. 23)

Die afghanische Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News berichtet im Oktober 2016, dass die afghanischen Spezialeinheiten laut Angaben eines Beamten vier verdächtige Personen getötet und mehrere andere im Distrikt Kama festgenommen hätten. Die Operation der Spezialeinheiten habe sich gegen die Taliban gerichtet. Laut dem Bericht habe sich ein Bewohner des Distrikts Kama kritisch zu den Geschehnissen geäußert und angegeben, dass Kama einer der friedlichsten Distrikte des Landes gewesen sei, die Regierung aber versuche, Sicherheitsprobleme zu schaffen:

„JALALABAD (Pajhwok): At least four suspected people have been killed and several others detained during an Afghan Special Forces’ operation in eastern Nangarhar province, an official said on Wednesday.

The governor’s spokesman, Attaullah Khogyani, told Pajhwok Afghan News the raid took place in the Sangar Srai area of Kama district on Tuesday night. He said the Afghan forces raided a house to capture a wanted Taliban commander, but the militants opened fire on them. […]

Abdullah Kamawal, a resident of the district, alleged the Special Forces raided a civilian house around 2am and killed four brothers. ‘Afghan forces committed a big crime; they could come to the house in daytimeafter investigations. All the people killed were civilians,’ he insisted. He said Kama was one of the most peaceful districts of the country but the government was trying to create security problems there.” (Pajhwok Afghan News, 5. Oktober 2016)

Bezugnehmend auf die in der Provinz Nangarhar tätigen Akteure verweist das EASO in oben genanntem Bericht auf eine Abhandlung von Borhan Osman vom Afghanistan Analysts Network, wonach die afghanischen Sicherheitskräfte (Afghan National Security Forces, ANSF) nur eine nominelle Präsenz in den Distriktzentren von Nangarhar hätten. In den südlichen und südöstlichen Distrikten der Provinz fehle die staatliche Kontrolle fast vollständig. Im Gegensatz zu anderen Teilen Afghanistans würde diese Lücke jedoch von den Taliban nicht geschlossen, da die Taliban in diesen Bezirken zersplittert seien. Nach Angaben des Afghanistan-Forschers Dr. Antonio Giustozzi beanspruche die Peschawar-Schura der Taliban (die die wichtigste Taliban-Schura, die Quetta-Schura, anerkenne) die Autorität über Nangarhar, obwohl die Schura des Nordens (die die Quetta-Schura und ihre Schattengouverneure, Anführer und Gerichte nicht anerkenne) ihre Aktivitäten in Nangarhar ausdehne. Laut Angaben von Borhan Osman vom September 2016 sei es in den südlichen und südöstlichen Distrikten Nangarhars seit 2007 und insbesondere seit 2012 zu einer zunehmenden Fragmentierung des Aufstandes gekommen, wobei die Schattengouverneure der Taliban Schwierigkeiten hätten, ihre Kämpfer zu kontrollieren und klare Befehlsketten durchzusetzen. In Nangarhar seien in den vergangenen Jahren 13 unterschiedliche in- und ausländische nichtstaatliche bewaffnete Gruppen aktiv gewesen. In einem viel größeren Ausmaß als in anderen Provinzen würden sich Kämpfer auf kriminelle Aktivitäten einlassen, einschließlich „ungeklärter Morde“ an gewöhnlichen Provinzbewohnern, Morde an lokalen Ältesten und Entführungen für Lösegeld. Zwischen 2011 und 2014 sei Nangarhar die Provinz mit der höchsten Anzahl an Gewaltverbrechen gewesen. Die Taliban hätten es in Nangarhar versäumt, eine als Alternative zu den staatlichen Behörden fungierende Herrschaft durchzusetzen, was es der Gruppe Islamischer Staat ermöglicht habe, in Distrikten Fuß zu fassen, in denen sie eine Reihe von kleinen bewaffneten Gruppen rekrutieren hätten können:

„According to a 2016 paper by Borhan Osman of the AAN [Afghanistan Analyst Network], the ANSF [Afghan National Security Forces] only have a ‘nominal presence in the district centres’ of Nangarhar. In the southern and south-eastern districts of the province, government control has been nearly absent. However, unlike in other parts of Afghanistan, this void was not filled by the Taliban due to the fragmented nature of the insurgency in these districts (see below). According to Afghanistan scholar Dr. Antonio Giustozzi, the Taliban’s Peshawar Shura (which recognises the main Taliban shura, the Quetta Shura) claims authority over Nangarhar, although the Shura of the North (which does not recognise the Quetta Shura and its shadow governors, leaders and courts) is expanding its activities into Nangarhar.

As Borhan Osman of the AAN notes in September 2016, the southern and south-eastern districts saw an increasing fragmentation of the insurgency since 2007 and particularly since 2012, with Taliban shadow governors struggling to control their combatants and impose clear chains of command. Indeed, 13 domestic and foreign non-state armed groups have been active in the province during the last years, including the mainstream Taliban, HIA, Salafi groups, Al-Qaeda, the Pakistani Taliban (TTP), Lashkar-e Islam and Ansar ul-Islam. To a much larger extent than in other provinces, fighters engaged in criminal activities including ‘unexplained killings’ of ordinary residents, murders of local elders and kidnapping for ransom. Between 2011 and 2014, Nangarhar had the highest number of violent crimes in the country. Thus, unlike elsewhere, the Taliban have failed to impose a rule functioning as an alternative to the state authorities, allowing the ISKP group to gain a foothold in these districts where it found a number of small armed groups from they were able to recruit.” (EASO, Dezember 2017, S. 196-197)


 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 7. Februar 2019)