Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Kabul: Gefährdung reicher, besitzender, wohlhabender Familien im Hinblick auf Entführungen, Lösegelderpressungen oder sonstige kriminelle Übergriffe; insbesondere Hazara [a-10505]

15. Februar 2018

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The National, eine englischsprachige Tageszeitung aus Abu Dhabi, berichtet im März 2017 unter Bezugnahme auf Informationen der Nachrichtenagentur Agence France-Presse über einen Anstieg der Kriminalität in Kabul, insbesondere von Einführungen. Der Artikel berichtet über den Fall von Hadschi Ghulam, einem 53-jährigen Geldwechsler, der von seinen Entführern einen Monat lang festgehalten worden sei. Die afghanische Polizei, die bereits aufgrund der Kämpfe gegen Aufständische überbeansprucht sei, habe Schwierigkeiten, den Entführungen Einhalt zu gebieten, die nicht nur auf Wohlhabende abzielen würden, sondern auf alle, die den Anschein hätten, Geld bei sich zu haben. Ghulam sei auf dem Weg von seiner Arbeit nach Hause von zwei Wagenladungen von Männern in Militäruniform aufgehalten worden. Er habe gedacht, dass es sich um Polizisten handle, die Männer hätten jedoch seinen Sohn und seien Cousin, die mit ihm im Auto gewesen seien, verprügelt und hätten ihn in einem Fahrzeug weggebracht. Er sei verprügelt und in ein Erdloch geworfen worden. Seine Entführer hätten ihn gefoltert und von seiner Familie 2 Millionen US-Dollar Lösegeld gefordert. Einen Monat später hätten Sicherheitskräfte Ghulam im Erdloch in einem kleinen Haus am Rande der Stadt Kabul aufgefunden. Die Entführer seien nicht gefasst worden. Kürzlich habe ein Unternehmer aus Kabul sein Vermögen ausgegeben, um das Lösegeld für seinen entführten Sohn zu zahlen, der trotzdem weiterhin von seinen Entführern festgehalten werde. Laut Angaben der afghanischen Industrie- und Handelskammer seien im Jahr 2016 im ganzen Land etwa 80 Unternehmer entführt worden. Experten zufolge seien viele weitere Fälle jedoch nicht zur Anzeige gelangt, da man Vergeltungstaten der Entführer befürchtet habe. Entführungen und Lösegelderpressung seien eine Art informeller Wirtschaftszweig geworden. Autodiebstahl sei ebenfalls verbreitet. In Kabul sei die Kriminalität so weit verbreitet, dass die Zurschaustellung von Reichtum einem Todesurteil gleich kommen könne. Weitverbreitete Armut und steigende Arbeitslosigkeit würden die Situation verschlimmern und die Polizei sei mit dem Kampf gegen die Taliban, den IS und weitere aufständische Gruppen beschäftigt. Laut Hadschi Zirak, einem Sprecher der Geldwechsler auf dem Schahzada-Markt in Kabul, seien im Jahr 2016 fast 100 Angehörige seiner Berufsgruppe entführt worden. Die Polizei habe hingegen behauptet, dass sie gegen Entführer durchgreife und habe angegeben, im Jahr 2016 bis zu 3.000 Kriminelle, darunter 16 Kidnapper, festgenommen zu haben. Die Unfähigkeit der Regierung, Entführungen Einhalt zu gebieten, habe bei vielen Bürgern, darunter Hadschi Ghulam, zum Verdacht geführt, dass manche Kriminelle gemeinsame Sache mit Sicherheitsbeamten machen würden:

The bruises, scabs and chain markings have long faded, but Haji Ghulam is still visibly traumatised by his month-long abduction, one of dozens of victims of a violent crime surge plaguing the Afghan capital. While the relatively rare kidnappings of foreigners grab international headlines, this wave of abductions of Afghans such as Mr Ghulam has put the city on edge. Afghan police, already stretched on many insurgent battlefronts, are struggling to cope with kidnapping rings that target not just the wealthy, but anyone that appears to have money. Mr Ghulam, a 53-year-old professional money-changer, was waylaid by two carloads of armed men in military uniform as he was driving home from work with his son and cousin in spring last year. ‘I thought they were policemen, but they beat my son and cousin and dragged me to their vehicle. I was blindfolded, slapped, beaten. They drove for an hour and dropped me in a hole in the ground,’ he said. His kidnappers tortured him and sent recordings of his screams to his family, demanding a ransom of $2 million, a huge sum in one of the world’s poorest countries. He was fed little more than a piece of bread every day. A month later, security officials discovered Mr Ghulam in that hole in a small house on the outskirts of Kabul, maimed, emaciated and chained. His kidnappers are still at large. […]

Recently, a Kabul businessman sold off all his entire to pay ransom for his kidnapped son, but he remains in captivity. Reliable official statistics are hard to obtain, but Afghanistan’s Chamber of Commerce and Industries said about 80 businessmen were kidnapped around the country last year. Experts believed many other cases went unreported for fear of reprisals from the kidnappers. Kidnappings and extortion have become a cottage industry. Car thefts are common. Kabul is a city so riddled with crime that displaying wealth can be tantamount to a death sentence. Rampant poverty and rising unemployment only worsen the situation, the underresourced fledgling police force are battling the Taliban, ISIL and other militant groups and the kidnapping rings appear to be feeding off the growing insecurity. Nearly 100 money-changers were kidnapped last year, said Haji Zeerak, a spokesman for money changers in Kabul’s Shahzada market. ‘In addition to the threat of bombings, the city is plagued by kidnappers and extortionists. Because of this, business is down and more people are fleeing the country.’

But the police force insisted a crackdown has begun, citing the 3,000 criminals - including 16 prolific kidnappers - apprehended in the past year. ‘There has been a substantial increase in crime, but we are making progress in fighting it,’ said outgoing Kabul police chief Abdul Rahman Rahimi. ‘We will chase every kidnapper.’ […] The government’s inability to curb kidnappings has led many like Mr Ghulam to suspect that some criminals are in cahoots with security officials. ‘If the Afghan government cannot stop insurgent attacks, can they at least focus on fighting crime?” he said.‘“ (The National, 10. März 2017)

British & Irish Agencies Afghanistan Group (BAAG), ein Dachverband von in Afghanistan tätigen britischen und irischen Hilfsorganisationen, schreibt in seiner Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse im November 2017, dass laut der afghanischen Industrie- und Handelskammer es im Zeitraum von einer Woche zu 13 Entführungsfällen gekommen sei, bei denen Investoren und deren Familienmitglieder entführt worden seien. Am 2. November hätten unbekannte Bewaffnete den Sohn von Mohammed Aref, einem bekannten Unternehmer, erschossen, nachdem die Entführung fehlgeschlagen sei. Fünf Jahre zuvor sei ein anderer Sohn von Aref entführt und später gegen eine Lösesumme von 500.000 US-Dollar wieder freigelassen worden. Ende November seien im Gefängnis Pul-e-Charkhi fünf wegen Entführung Verurteilte hingerichtet worden. Einer der Hingerichteten sei ein ehemaliges Mitglied des Provinzrates von Herat gewesen:

„The Afghanistan Chamber of Commerce and Industries said on the 3rd that in only one week they had registered thirteen kidnapping cases where investors and their relatives were abducted by criminal groups. A day before, unknown gunmen shot dead the son of Mohammad Aref, a prominent businessman, after they failed to kidnap him. Five years ago, another son of Mohammad Aref was kidnapped and later released for a ransom of $500,000. On the 29th, five convicts involved in kidnapping were executed in the Pul-e-Charkhi prison. One of them was a former member of Herat Provincial Council.“ (BAAG, 12. Dezember 2017)

Die afghanische Tageszeitung Afghanistan Times schreibt im Jänner 2018, dass in Kabul drei Personen, die wegen Entführung und Mord verurteilt worden seien, hingerichtet worden seien. Die drei Verurteilten hätten einen 13-jährigen Burschen entführt und nach ein paar Tagen, in denen das Opfer gefoltert worden sei, getötet. Insbesondere in Kabul, so der Artikel, seien vermögende Personen und Unternehmer von Entführungen betroffen:

„‘Execution verdict implemented over three kidnapers charged with abducting and killing of Abasin in Pul-e-Charkhi Garrison in Kabul today morning,’ said a press statement issued by General Directorate of Prison and Detention centers. […] The kidnappers were identified as Mohammad Aref, Dadan Lawang and Abdullah from Paktia, who were charged with kidnapping and killing of Abasin a 13 years old child, added statement. Statement said that the kidnappers had abducted Abasin and killed him after few days’ torture. Kidnapping is one of the most challenges in different part of the country particularly in Kabul for rich people and businessmen. Even kidnapping has negatively affected investment trend across the country.“ (Afghanistan Times, 28. Jänner 2018)

Das schweizerische Eidgenössische Department für auswärtige Angelegenheiten (EDA) erwähnt in seinen im Februar 2018 aktualisierten Reisehinweisen für Afghanistan, dass ein hohes Entführungsrisiko für Ausländer wie für AfghanInnen bestehe. (EDA, aktualisiert am 5. Februar 2018)

 

Das Institute for War and Peace Reporting (IWPR), ein in London ansässiges internationales Netzwerk zur Förderung freier Medien, berichtet im Februar 2018, dass Beamte vor einem Anstieg der Kriminalität in Afghanistan gewarnt hätten, bei der täglich ein reicher Kaufmann oder Investor entführt würde. Die Unfähigkeit der Sicherheitskräfte, diese Gewalt zu verhindern, habe zu Spekulationen geführt, ob Polizeibeamte und Mitglieder der Regierung Verbindungen zu den Kriminellen unterhalten würden. Laut Sayam Pesarlai, dem Sprecher der afghanischen Industrie- und Handelskammer, seien in den letzten zwei Monaten ungefähr 60 Händler und Investoren entführt worden. Die meisten dieser Entführungen hätten sich in den Provinzen Chost, Paktiya, Kandahar und Kundus ereignet. Während offizielle Zahlen niedriger seien, würden viele weitere Fälle aus Angst vor Vergeltungstaten wahrscheinlich nicht zur Anzeige gebracht. Abdul Dschalil Harif, der stellvertretende Vorsitzende der Industrie- und Handelskammer in Kabul, habe berichtet, dass sein eigener Sohn einen Monat zuvor von bewaffneten Männern getötet worden sei. Der Sohn, ein reicher Firmenbesitzer, sei nachmittags vor seinem Haus von fünf Entführern angegriffen worden. Bei dem Angriff sei der Sohn getötet worden, die Entführer hätten dessen Auto gestohlen. Dies sei nicht das erste Mal gewesen, dass Mitglieder der Familie von Abdul Dschalil Harif ins Visier genommen worden seien. Sein ältester Sohn sei 2017 entführt und einen Monat später nach der Bezahlung einer Lösegeldsumme von 550.000 US-Dollar freigelassen worden. Naseer Sultani, ein Bewohner Kabuls, habe angegeben, dass er ängstlich werde, wenn er von Entführungen höre und fürchte, dass die mangelnde Sicherheit lebensbedrohlich werden könne. Ein Problem sei die Verbreitung von Autos mit abgedunkelten Scheiben und ohne Kennzeichen, die oft von höheren Beamten oder örtlichen einflussreichen Personen genutzt würden. Entführer würden sich bei Tag frei in der Stadt in diesen Autos bewegen. Die Polizei könne diese Entführer nicht festnehmen, da viele von ihnen Beziehungen zu mächtigen Personen, darunter Parlamentsabgeordnete und Regierungsbeamte, hätten. Diejenigen, die nicht auf die Forderungen der Entführer eingehen würden, müssten mit schlimmen Folgen rechnen. Im Dezember 2017 sei ein Geldwechsler aus Kabul entführt und schließlich getötet worden, als sein Lösegeld nicht bezahlt worden sei. Laut Saihoon, einem Dozenten der Wirtschaftswissenschaften an der Universität in Kabul, werde, wenn Kriminelle bestimmte Personen entführen würden, darüber in allen Medien berichtet, es werde jedoch nichts weiteres gegen die Entführer unternommen, da oft mächtige Personen und Netzwerke mit Verbindungen zur Regierung involviert seien. Die Entführer seien daher immer mehr motiviert, weitere Personen zu entführen:

Officials are warning of a crime surge across Afghanistan that is seeing rich traders and investors kidnapped at a rate of one a day. The security forces inability to prevent the wave of violence has led some to speculate that police officers and government figures are connected to the criminals. […] Sayam Pesarlai, the spokesman for Afghanistan’s chamber of commerce and industries, said that investment was trailing far behind their own forecasts. Around 60 traders and investors had been abducted over the last two months, he continued, with most of these incidents having taken place in Khost, Paktiya, Kandahar and Kunduz provinces. While official figures are much lower, many cases are likely to have gone unreported for fear of reprisals. […]

Abdul Jalil Hareef, deputy director of Kabul’s chamber of commerce and industry, told IWPR that his own son had been killed by armed men just a month previously. Five kidnappers had ambushed Abdul Mateen Hareef, himself a wealthy father-of-four with his own company, Mateen Istiwar, outside his home at 2pm one afternoon. ‘My son was killed in a confrontation with these kidnappers, who then stole his car, worth 20,000 dollars,’ Hareef continued. This was not the first the family had been targeted by criminals. Hareef’s eldest son was also kidnapped in 2017, but released after a month after the family paid a 550,000 dollar ransom. […]

Naseer Sultani, another Kabul resident, said, ‘I feel scared whenever I hear about abductions, and sometimes I think that this lack of security could pose a threat to our lives as well.’ He said that one issue was the proliferation of cars with tinted windows and no license plates, often used by senior officials or local strongmen. ‘Kidnappers travel openly in the city in broad daylight in these black cars with tinted windows, which also don’t have license plates, but police can’t arrest these kidnappers because many of them have relations to powerful people, members of parliament or government officials,’ he said. The consequences can be grim for those who fail to meet their abductor’s demands. In one recent case, Kabul money changer Ahmadullah Aziz was abducted on December 29, 2017 and subsequently murdered when his ransom was not paid. […]

Saihoon, an economics lecturer at Kabul university, said that administrative corruption, the absence of healthy competition in the market and the lack of support for domestic products had hampered investment in Afghanistan. The government paid little attention to the struggles entrepreneurs faced, he continued, and the atmosphere of fear did not help. ‘When kidnappers and criminals kidnap people, news of these abductions is broadcast throughout the media and news channels, but mostly no action is taken against them because powerful people and networks connected to the government are often involved,’ he continued. ‘So these kidnappers are becoming stronger and stronger and more motivated to continue to kidnap more and more people.‘” (IWPR, 8. Februar 2018)

Es konnten keine Informationen zu Angriffen speziell auf wohlhabende Hazara in Kabul gefunden werden. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass es zu keinen Übergriffen dieser Art kommt. Informationen zur allgemeinen Lage der Hazara in Kabul finden sich unter anderem in folgender Anfragebeantwortung der Rechercheabteilung des Immigration and Refugee Board of Canada (IRB) vom April 2016:

 

·      IRB – Immigration and Refugee Board of Canada: Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment (2014-April 2016) [AFG105491.E], 20. April 2016
https://www.ecoi.net/de/dokument/1058558.html

 

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 15. Februar 2018)

·      Afghanistan Times: Three persons hanged for kidnapping, 28. Jänner 2018
http://afghanistantimes.af/three-persons-hanged-kidnapping/

·      BAAG – British & Irish Agencies Afghanistan Group: Afghanistan in November 2017; Key News, 12. Dezember 2017
https://www.ecoi.net/de/dokument/1423045.html

·      EDA – Eidgenössisches Department für auswärtige Angelegenheiten: Reisehinweise für Afghanistan, aktualisiert am 5. Februar 2018
https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/afghanistan/reisehinweise-afghanistan.html

·      IRB – Immigration and Refugee Board of Canada: Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment (2014-April 2016) [AFG105491.E], 20. April 2016
https://www.ecoi.net/de/dokument/1058558.html

·      IWPR – Institute for War and Peace Reporting: Kidnappings Terrify Afghan Investors - Fears that spate of violence will further curtail much-needed investment., 8. Februar 2018
https://www.ecoi.net/de/dokument/1423941.html

·      The National: Afghan capital plagued by kidnapping and extortion of locals, 10. März 2017
https://www.thenational.ae/world/afghan-capital-plagued-by-kidnapping-and-extortion-of-locals-1.11053