Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von muslimischen Familienangehörigen von vom Islam abgefallen Personen (Apostaten), christlichen Konvertiten und Personen, die sich kritisch gegenüber dem Islam äußerten [a-10384]

9. November 2017

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

Informationen zu dieser Anfrage entnehmen Sie bitte auch folgenden ACCORD-Anfragebeantwortungen:

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) [a-10159], 1. Juni 2017 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/341241/484498_de.html

 

Bitte beachten Sie, dass die in dieser Anfragebeantwortung enthaltene Übersetzung aus dem Norwegischen unter Verwendung von technischen Übersetzungshilfen erstellt wurde. Es besteht daher ein erhöhtes Risiko, dass diese Arbeitsübersetzung Ungenauigkeiten enthält.

 

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo erwähnt in einem im September 2013 veröffentlichten Themenbericht zu Christen und Konvertiten in Afghanistan, dass der Abfall eines Familienmitglieds vom Islam zu einer anderen Religion einen Ansehensverlust für die Familie bedeute. Der Islam sei in die traditionellen Familienstrukturen verwoben und die Haltung, die einzelne Familienmitglieder gegenüber dem Islam einnähmen, sei von fundamentaler Bedeutung für das Ansehen der gesamten Familie.

Weiters schreibt Landinfo unter Berufung auf Hansen Cultural Coaching (HCC), eine norwegische Kulturberatungsfirma, die über Erfahrung mit christlichen Afghanen und der christlichen Gemeinde in Afghanistan verfüge, dass die meisten christlichen Konvertiten im Land ihre religiöse Neuorientierung auch vor ihren nächsten Verwandten verbergen würden. In dem Fall, dass die engere Familie Kenntnis über den Glaubensübertritt erlange und diesen auch akzeptiere, sei es für die von grundlegendem Interesse, dass die Konversion nicht in der Öffentlichkeit bekannt werde. Da das konvertierte Familienmitglied stets als Repräsentant der Ehre und Prinzipien der Familie, des Stammes und des Klans betrachtet werde, sei Landinfo der Auffassung, dass die Familie ein klares gemeinsames Interesse daran habe, dass ein Abfall vom Islam nicht öffentlich bekannt werde:

„Frafall fra islam vil både representere et alvorlig brudd med den grunnleggende ideen om at gruppen står over individet, og sette forbindelsen til familien på spill. For enkelte kan det antagelig også innebære en risiko for at familien aktivt tar skritt for gjenopprette det anseelsestap som konvertering til en annen religion representerer.

Islam er vevd inn i den tradisjonelle familiestrukturen. Hvordan en families medlemmer forholder seg til islam, har fundamental betydning for hele familiens anseelse.“ (Landinfo, 4. September 2013, S. 8)

„HCC har konkret erfaring med kristne afghanere og lukkede kristne husfellesskap i Afghanistan. […] HCC mener at den største trusselen for en afghansk konvertitt er risikoen for at familien får kjennskap til konverteringen. Om familien blir kjent med konverteringen, vil den forsøke å overbevise vedkommende om å gå tilbake til islam. Om så ikke skjer, risikerer konvertitten å bli utestengt fra familien, og i ekstreme tilfelle bli utsatt for vold og trusler. De aller fleste konvertitter skjuler derfor sin religiøse nyorientering også overfor nærmeste familie. I tilfeller hvor nær familie blir kjent med og eventuelt aksepterer konverteringen, vil det være en forutsetning for familien at dette ikke blir offentlig kjent (seminar Landinfo, mai 2013). Fordi konvertitten alltid vil anses som en representant for familiens, stammens og klanens ære og standarder, mener Landinfo at konvertitten og dennes familie har en klart sammenfallende interesse i at frafallet fra islam ikke blir offentlig kjent.“ (Landinfo, 4. September 2013, S. 18)

Al Arabiya, ein sich in saudischem Besitz befindlicher Rundfunksender mit Sitz in Dubai (Vereinigte Arabische Emirate), schreibt in einem Artikel vom März 2011, dass Musa Sayed, ein zuvor wegen Übertritts zum Christentum neun Monate lang in Afghanistan inhaftierter ehemaliger Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), nach seiner Freilassung, die Ende Februar stattgefunden habe, nach Europa ausgereist sei. Dabei beruft sich der Rundfunksender auf Freunde von Sayed, die für das IKRK tätig seien. Diese hätten angegeben, sie seien nicht bereit gewesen, sich früher zu dem Fall zu äußern, da sie befürchtet hätten, Sayeds Familie könnte zum Ziel von Angriffen werden. Mittlerweile habe jedoch auch die Familie das Land verlassen:

„An Afghan Red Cross worker who was jailed and faced a possible death sentence for converting to Christianity has fled the country after being freed, friends and Christian charities said Saturday. Friends of Musa Sayed, a 45-year-old father of six who converted to Christianity six years ago, told AFP he was released without trial in late February after nine months in jail. Afghanistan's constitution forbids conversion from Islam to another religion, a crime punishable by death, although the penalty has not been enforced in recent history. ‘Musa Sayed was released at the end of February. He has gone abroad, to Europe,’ said friends of Sayed, who worked for the International Committee for the Red Cross (ICRC). The friends, who did not wish to be named, said they had been unwilling to speak earlier for fear Sayed's family would be targeted, but added that they had recently left Afghanistan to join him. Sayed was arrested in May 2010 on apostasy charges along with another Afghan man, 50-year-old Ahmad Shah, whose fate is not known.” (Al Arabiya, 19. März 2011)

Die US-amerikanische Tageszeitung New York Times (NYT) berichtet im März 2015 über den Fall einer Frau, die von einem Mob erschlagen worden sei, nachdem man sie fälschlicherweise beschuldigt habe, Seiten eines Korans verbrannt zu haben. Der Vater habe BBC News gegenüber angegeben, dass die Frau nicht, wie anfänglich von der Familie behauptet, psychisch krank gewesen sei. Die Polizei habe ihn gebeten, das zu sagen, um die Gefahr, dass die Familie der Frau weiter angegriffen werde, zu vermindern:

„Hundreds of Afghan protesters marched to the nation’s Supreme Court on Tuesday, demanding justice for a woman who was beaten to death by a mob last week after being falsely accused of burning pages from the Quran. The attack on the woman, a 27-year-old named Farkhunda, was recorded on video by bystanders and widely shared online. […]

Farkhunda’s father told BBC News that she was not, as the family initially said, mentally ill. The police had asked him to say that, he said, to lessen the chance of further attacks on the family of a woman accused of blasphemy.” (NYT, 24. März 2015)

UNHCR erwähnt in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, dass „Rechtsanwälte, die Angeklagte vertreten, denen Apostasie zur Last gelegt wird, […] Berichten zufolge selbst der Apostasie bezichtigt und mit dem Tod bedroht werden“ könnten (UNHCR, 19. April 2016, S. 61).

 

In einem Entscheidungstext des österreichischen Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom September 2016 finden sich unter anderem folgende Informationen des Sachverständigen Dr. Sarajuddin Rasuly:

„‚Zum Schluss möchte ich auch darauf hinweisen, dass die Familienmitglieder der Konvertiten in Afghanistan auf keinen Fall von Sippenhaft betroffen sind. Inzwischen sind tausende afghanische Flüchtlinge in Europa und Amerika konvertiert, während ihre Familien noch in Afghanistan leben. Ich habe während meinen Forschungsreisen in Afghanistan seit 2002, zuletzt vom 21. 3. bis zum 2. 4. 2016, nicht in Erfahrung bringen können, dass die Familienmitglieder der Konvertiten, im Ausland, in Afghanistan von Sippenhaft betroffen wären. Nur wenn die Familie eines Konvertiten oder ein Mitglied seiner Familie ihm in Afghanistan Schutz bietet und diesen auch bewaffnet gegen die Behörde und gegen die Fundamentalisten verteidigt oder vor diesen in Schutz nimmt, wird diese Familie oder dieses Familienmitglied von den Fundamentalisten und der Behörde auf alle Fälle in Rechenschaft gezogen. Nach den bisherigen Angaben des Beschwerdeführers hat sich kein Familienmitglied seines Bruders, aber auch nicht er auf die Seite seines Bruders in Afghanistan gestellt und gegen die Behörde und Fundamentalisten etwas unternommen.‘

Weiters wurde der Sachverständige ersucht, sich dahingehend gutachterlich zu äußern, ob dies auch der Fall wäre, wenn der Konvertit im Ausland lebt und seine Familie seine Konversion in Afghanistan verteidigt?

Dazu führte der Sachverständige aus:

‚Wenn die Familie des Konvertiten in Afghanistan diesen auch in dessen Abwesenheit in Schutz nehmen würde, schafft das eine Grundlage für Sippenhaft und sie würde mit den Fundamentalisten Schwierigkeiten bekommen, aber die Behörde wird in diesem Fall nicht gegen sie tätig. Nach meiner Sachkenntnis sind die Familienmitglieder der Konvertiten bis jetzt zu 100% gegen die Konversion ihrer Familienmitglieder aus dem Islam eingestellt und es ist mir nicht bekannt, dass irgendeine Familie eines Konvertiten in Afghanistan sich positiv über die Konversion ihres Familienmitgliedes im Ausland geäußert hätte. Die obigen Ausführungen beruhen auch auf meinen eigenen Wahrnehmungen während meiner Forschungsreisen.‘“ (BVwG, 8. September 2016)

Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN), schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom Juni 2017, dass ihm keine Informationen zu konkreten Fällen betreffend die Lage von Familienangehörigen (vermeintlicher) Konvertiten zum Christentum vorliegen würden. Allgemein sei festzuhalten, dass ein Übertritt vom Islam zum Christentum (oder zu jeder anderen Religion) bzw. ‚Abfall vom Glauben‘ (Apostasie; ridda oder irtedad) gemäß gängiger Interpretation der Scharia eine ‚Todsünde‘ darstelle und mit dem Tod bestraft werden könne. Die Scharia ist eine der drei geltenden Rechtsquellen in Afghanistan. Das spiegelt sich im sogenannten Islam-Vorbehalt (dass kein Gesetz den Grundsätzen des Islam widersprechen dürfe; Verf. Art. 3) wider, der in der Praxis die in der afghanischen Verfassung enthaltene Religionsfreiheit für Muslime aufhebt. Dass jemand in Afghanistan das Christentum offen und öffentlich propagiere, sei laut Ruttig kaum vorstellbar. Allerdings könne es sein, dass Taliban (oder andere religiöse bzw. religiös motivierte Akteure) darunter etwas anderes verstünden und etwa das, was sie als ‚westliche Werte‘ ansähen, in manchen Fällen mit ‚Christentum‘ gleichsetzten. Dass Familienmitglieder in solche Konflikte hereingezogen würden, könne nicht ausgeschlossen werden. (Ruttig, 12. Juni 2017)

 

Lutz Rzehak, Privatdozent am Zentralasien-Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin (Deutschland), schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom Juni 2017:

„Generell gilt, dass in einer auf patrilinearen Verwandtschaftsstrukturen basierenden Gesellschaft in der einen oder anderen Weise auch andere Mitglieder für eine Tat zur Verantwortung gezogen werden können, die eine einzelne Person begangen haben soll. Zu vergleichbaren Vorkommnissen, die mit einem Übertritt zum Christentum in Verbindung stehen, habe ich keine konkreten Kenntnisse, aber das sollte hier ähnlich gehandhabt werden. Einige Flüchtlinge legen seit einer gewissen Zeit Drohbriefe vor, die sie oder ihre Familienangehörigen von Verantwortlichen der Taliban auf Provinz- oder Bezirksebene erhalten haben. Darin ist gelegentlich ausdrücklich auch die Rede davon, dass auch Verwandte bedroht sind. In den mir bekannten Fällen stützte sich eine solche Bedrohung jedoch auf den Vorwurf, sich nicht am Dschihad beteiligt zu haben.“ (Rzehak, 8. Juni 2017)

 

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 9. November 2017)

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) [a-10159], 1. Juni 2017 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/341241/484498_de.html

·      Al Arabiya: Afghan convert to Christianity flees to Europe, 19. März 2011
https://english.alarabiya.net/articles/2011/03/19/142216.html

·      BVwG – Bundesverwaltungsgerichts: Entscheidungstext W119 1432399-1/8E, 8. September 2016
https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Bvwg/BVWGT_20160908_W119_1432399_2_00/BVWGT_20160908_W119_1432399_2_00.html

·      Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre: Afghanistan: Situasjonen for kristne og konvertitter, 4. September 2013 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1383062872_landinfoafg.pdf

·      NYT - New York Times: Afghan Protesters Demand Justice for Woman Killed by Mob, 24. März 2015
https://www.nytimes.com/2015/03/25/world/asia/afghan-protesters-demand-justice-for-woman-killed-by-mob.html

·      Ruttig, Thomas: E-Mail-Auskunft, 12. Juni 2017

·      Rzehak, Lutz: E-Mail-Auskunft, 8. Juni 2017

·      UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19. April 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/90_1471846055_unhcr-20160419-afg-richtlinien-de.pdf