Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Provinz Baghlan: Aktivitäten und Rekrutierungsversuche der Taliban in der Provinz, insbesondere in Dand-e-Ghori [a-10245]

25. Juli 2017

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Aktivitäten und Rekrutierungsversuche der Taliban in der Provinz Baghlan, insbesondere im Dorf Dandeghori

Der Afghanistan-Forscher Gran Hewad schreibt in einem im Oktober 2015 vom Afghanistan Analysts Network (AAN) veröffentlichten Artikel, dass sich in den letzten beiden Sommermonaten des Jahres 2015 die Kampfhandlungen in der Provinz Baghlan auf das Gebiet Dand-e-Ghori im Distrikt Dahana-ye-Ghuri konzentriert hätten. Dand-e Ghori liege an der Autobahn, welche Pul-e-Khumri (die Provinzhauptstadt Baghlans) mit Mazar-e-Sharif verbinde. Anfang 2015 hätten die Taliban fast alle Checkpoints der afghanischen Lokalpolizei (Afghan Local Police, ALP) erobert. Die Regierung habe zwar später im selben Monat Gegenangriffe ausgeführt, es jedoch (bis zum Berichtszeitpunkt) nicht geschafft, die Posten wieder zurückzuerobern.

Das Gebiet sei zunächst von den Taliban im Zuge ihrer Frühjahrsoffensive 2015 erobert worden, die bis in den Sommer hineingedauert habe. Im Spätsommer hätten die afghanischen Sicherheitskräfte (Afghan National Security Forces, ANSF) versucht, das Gebiet zurückzuerobern. Nachdem diese Versuche erfolglos blieben, hätten sie begonnen, Taliban-Stellungen aus einem Gebiet namens „Zementhügel“ (engl.: „Cement Hill“), das zwischen Pul-e-Khumri und Dand-e-Ghori liege, mit Granaten zu beschießen. Daraufhin hätten die Taliban begonnen, aus von ihnen kontrollierten Dörfern in Dand-e-Ghori die Stadt Pul-e-Khumri zu beschießen, was zu zahlreichen zivilen Opfern geführt habe:

„In the last two months of the summer, the war in Baghlan was concentrated in an area called Dand-e Ghuri in Dahana-ye Ghuri district which – crucially – lies along the highway connecting Pul-e Khumri with Mazar. The Taleban took over almost all Afghan Local Police (ALP) check posts in the area in early September 2015. Later in the month the government launched counter-attacks, but failed to re-take the posts. As of now (mid-October 2015), just one check post is left under ALP control: QurghanTepa (or Qurghan Hill).

The area was initially captured by the Taleban as part of their spring offensive operation, which extended into early summer. In late summer, the ANSF started their counterattacks to attempt to retake the area. When these did not bear fruit, they started shelling Taleban positions from an area called Cement Hill, which is located between Pul-e Khumri city and Dand-e Ghuri. This is named after the Ghuri Cement Factory, one of the largest industrial enterprises in the country. The Taleban did not respond directly to these attacks, but instead started firing rockets from the villages under their control in Dand-e Ghuri toward the city of Pul-e Khumri. The shelling of the city by the Taleban caused a large number of civilian casualties, included a reported 25 women and children killed and dozens of other civilians injured on the outskirts of the city. Around 250 families were displaced and local schools closed.“ (Hewad, 21. Oktober 2015)

In einem im August 2016 veröffentlichten Artikel schreibt Obaid Ali, Forscher beim AAN, dass den Taliban in den vergangenen beiden Jahren signifikante Vorstöße in der Provinz Baghlan gelungen seien. Der Artikel beschreibt Dand-e Ghori als mehrheitlich von Paschtunen besiedeltes Gebiet, das aus 60 bis 70 Dörfern bestehe und nordwestlich der Provinzhauptstadt Pul-e-Khumri liege. Die Sicherheitskräfte (ANSF) hätten stets Probleme gehabt, die Kontrolle über das Gebiet zu behalten. Nachdem die Taliban 2015 ihre Frühjahrsoffensive angekündigt hätten, hätten sie begonnen, die ANSF in Baghlan anzugreifen. Ihr erstes Angriffsziel sei das Gebiet Dand-e-Ghori gewesen. Im September 2015 sei Dand-e-Ghori in die Hände der Taliban gefallen und fünf Monate lang von ihren kontrolliert worden. Im Jänner 2016 hätten die ANSF einen Großeinsatz unternommen, um das Gebiet von Aufständischen zu räumen, und es sei ihnen Anfang März 2016 gelungen, die Taliban zu vertreiben und die Kontrolle wiederzuerlangen. Die ANSF hätten die Verantwortung über das Gebiet an lokale Kräfte (eine ALP-Einheit unter Führung eines ehemaligen Kommandanten der aufständischen Bewegung Hezb-e Islami-ye Afghanistan, der zum Stamm der Ahmadzai in Dand-e-Ghori gehört) übertragen und das Gebiet verlassen. Einen Tag später seien die Taliban zu einer Gegenoffensive übergegangen und hätten Dand-e-Ghori innerhalb eines Tages wieder eingenommen.

Obwohl die ANSF-Operation („Operation Khurshid 20“) zur Wiedereroberung von Dand-e Ghori sich nicht nachhaltig auf die Sicherheitssituation in Baghlan ausgewirkt habe, seien die negativen Auswirkungen auf das Leben der lokalen zivilen Bevölkerung beträchtlich gewesen. Mehr als 1500 Familien hätten infolge der Kampfhandlungen Dand-e Ghori und den benachbarten Distrikt Dahna-ye-Ghori verlassen. Noch Mitte Juni habe die Zahl der offiziell registrierten Binnenvertriebenen aus diesen beiden Gebieten nach Angaben des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten bei mehr als 5000 Familien gelegen. Laut UNO-Hilfsmission in Afghanistan habe es Anfang 2015 über 32.500 Personen gegeben, die durch die Kämpfe in den Gebieten Dand-e-Ghori und Dand-e-Shahabuddin vertrieben worden seien:

„The Taleban have made significant inroads in a number of strategic areas in the northern province of Baghlan over the past two years. They now pose a greater threat than ever to the Baghlan-Balkh highway, part of the Ring Road which here links Kabul to the north. […]

Dand-e Ghori is a Pashtun-dominated area of around 60 to 70 villages to the northwest of Pul-e Khumri, where the ANSF have always struggled to retain control. After the Taleban announced their so-called spring offensive in 2015, they began attacking the ANSF in Baghlan with Dand-e Ghori as their initial target. Local support for the insurgency in some of the villages and limited ANSF manpower put the government forces at a disadvantage. The insurgents, on the other hand, were able to move around the area freely.

In September 2015, Dand-e Ghori fell to the Taleban and remained under their control for five months […]. In January 2016, the ANSF conducted a large-scale operation to clear the area. On 6 March 2016, they managed to repel the Taleban and retake control. However, a day after the ANSF left Dand-e Ghori, handing over responsibility to local forces – an Afghan Local Police (ALP) unit led by Mullah Alam, a former commander of Hezb-e Islami-ye Afghanistan, from the Ahmadzai tribe of Dand-e Ghori – the Taleban conducted a counter-offensive. They re-took Dand-e Ghori within a day. […]

The ANSF operation in Dand-e Ghori, termed Khurshid 20, while having no lasting impact on the security situation in Baghlan, had significant, negative repercussions on the lives of the local civilian population caught up in the fighting. According to Afghan media reports, more than 1,500 families had to leave Dand-e Ghori and neighbouring Dahna-ye Ghori district as a result of the operations […]. The UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) in Kabul reported that the number of officially registered IDPs for these two locations still exceeded 5,000 families as of mid-June 2016 – indicating that the displacement was not restricted to the period of the operations. UNAMA also highlighted this displacement in its civilian casualty report, citing ‘new patterns of displacement in Baghlan province,’ with ‘more than 32,500 individuals displaced by the fighting in Dand-e-Ghori and Dand-e-Shahabuddin by the beginning of 2016.’” (Ali, 15. August 2016)

Informationen zu aufständischen Aktivitäten in der Provinz Baghlan in den Jahren 2015 und 2016 entnehmen Sie bitte auch dem folgenden Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), einer Agentur der Europäischen Union, deren Ziel es ist, die praktische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Asylbereich zu fördern:

·      EASO - European Asylum Support Office: Afghanistan Security Situation, November 2016, S. 121-123 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/90_1479191564_2016-11-09-easo-afghanistan-security-situation.pdf

 

Der in Doha (Katar) ansässige Nachrichtensender Al Jazeera in einem Artikel vom September 2015 einen aus der Provinz Baghlan berichtenden Al-Jazeera-Korrespondenten mit der Aussage, dass die Taliban „aus jeder Familie junge Burschen mitnehmen und zwangsweise rekrutieren“ würden (Al Jazeera, 30. September 2015).

 

Afghanistan Times Daily, eine in Kabul herausgegebene Tageszeitung, zitiert in einem Artikel vom Oktober 2015 einen Parlamentarier aus Baghlan mit der Aussage, dass die Provinz Baghlan zu einem Rekrutierungszentrum der Taliban geworden sei. Rund 100 Aufständische, die kürzlich bei der Wiedereroberung der Stadt Kundus durch die Sicherheitskräfte ums Leben gekommen seien, seien aus Baghlan gewesen. Nach Angaben eines aus Baghlan stammenden Senators sei die Provinz zu einem sicheren Rückzugsort für die Taliban geworden, wo Tausende von Schülern an religiösen Schulen (Madrassas) sowie arbeitslose junge Menschen von den Taliban rekrutiert worden seien. Afghanische und ausländische bewaffnete Kämpfer seien in mehreren wichtigen Bevölkerungszentren in Baghlan, darunter auch in Dand-e-Ghori, präsent. Die Taliban würden nicht nur junge Leute aus diesen Gebieten rekrutieren, sondern auch Steuern einheben und hohe Summen an islamischen Abgaben (Ushr und Zakat) eintreiben:

Public representatives in the parliament from Baghlan province said that inattention of the government has turned the province into a recruitment center of the Taliban militants. They said that lack of coordination between leaders of the National Unity Government (NUG) has provided an opportunity to the insurgent group to recruit fighters in Baghlan province. The legislators said that hundreds of madrassa (religious school) students and loafers were recruited by the Taliban but the government remained unaware. The reaction came in the aftermath of Kunduz attack. To retake Kunduz city, security forces have launched a large-scale operation and killed hundreds of militants. Around 100 insurgents who were killed in Kunduz were from Baghlan. Their dead bodies were handed over to their families a few days ago. Muhammad Faisal Sami, a senator from Baghlan, told Afghanistan Times that his native province has become a safe haven for the Taliban because thousands of madrassa students and jobless youth are recruited by the insurgent group due to lack of coordination among the security organizations. Afghan and foreign militants have presence in major populated areas of Baghlan including Dand-e-Ghori, Dand-e-Shahabuddin, outskirts of Pulikhumri city, central Baghlan, Aab-Qol and some areas of Borka district, he said. ‘The Taliban are not only recruiting young people from these areas but also imposed taxes on the locals and collected large sums of money in Usher and Zakat. The Taliban send fighters from the province to other areas to challenge writ of the government,’ Sami maintained.” (Afghanistan Times Daily, 25. Oktober 2015)

Zur konkreten Rolle von Mullahs in Zusammenhang mit Rekrutierungen konnten keine Informationen gefunden werden.

Lage von jugendlichen Hazara in diesem Umfeld

In einem Bericht vom September geht das EASO unter Berufung auf andere Quellen wie folgt auf die Rekrutierung von Hazara durch die Taliban in Afghanistan ein:

Antonio Giustozzi says the Taliban recruits Hazaras. Some senior Hazara commanders are with the Taliban in Bamyan and Daikundi, and there are a couple of Taliban shadow governors or provincial-level military leaders who are Hazara. The expert is unaware of any mobile Hazara unit, therefore he assumes they are all local Taliban units. The community leaders and commanders decide in such cases to join the Taliban to protect the population from bandits or against the Taliban itself. Interest in joining the Taliban is local. These Taliban Hazara militias control the village without the interference of outsiders. The fighters of these units are mainly local Hazaras and get a salary and weapons provided by the Taliban.

A message was posted on the Taliban’s website about Hazara elders in Pul-e Khumri (Baghlan) who pledged allegiance to the Taliban. In a New York Times article, a Hazara Taliban commander was mentioned who was engaged in fighting in Kunduz.

In an interview, Borhan Osman explained that there was not much extensive research on the matter. He studied some cases in the province of Ghazni and Uruzgan. However, while Osman noted that cooperation between Hazara communities and Taliban existed, recruitment of Hazaras by the Taliban is not widespread.” (EASO, September 2016, S. 19)

Ein Artikel der US-Zeitung New York Times (NYT) beschreibt die Rekrutierungstaktiken der Taliban in den mehrheitlich von ethnischen Tadschiken und Usbeken besiedelten nordafghanischen Provinzen und zitiert in diesem Zusammenhang einen Taliban-Kommandanten, der nach eigenen Angaben ethnischer Hazara sei:

“[T]he Taliban took care to navigate the fractious ethnic politics of northern Afghanistan, which is largely Tajik and Uzbek, with concentrated settlements of Pashtuns.

The Taliban had traditionally drawn on Pashtuns for its members, but in the north in recent years it has played a canny game of recruiting disaffected ethnic leaders. At times that meant supporting a Tajik tribal elder in a dispute over development dollars against a more powerful Uzbek neighbor. Elsewhere, the Taliban gave commands to Uzbek militants from neighboring countries to operate in northern Afghanistan, which drew ethnic Uzbeks to their cause.

‘I am Hazara myself’ one Taliban commander involved in the capture of Kunduz, Mohammadullah Sadat, said by telephone, identifying himself as a member of a group that has traditionally known terrible persecution at the hands of Pashtuns. ‘We are all fighting side by side under one banner, which is Islam. We are struggling for Islam not for any particular ethnic group.’” (NYT, 30. September 2015)

Es konnten keine weiteren Informationen zu dieser Teilfrage gefunden werden.

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 25. Juli 2017)

·      Afghanistan Times Daily: Govt’s apathy turns Baghlan into Taliban’s safe haven: Lawmakers, 25. Oktober 2015
http://afghanistantimes.af/govts-apathy-turns-baghlan-into-talibans-safe-haven-lawmakers/

·      Ali, Obaid: Taleban in the North: Gaining ground along the Ring Road in Baghlan, 15. August 2016 (veröffentlicht vom Afghanistan Analysts Network)
https://www.afghanistan-analysts.org/taleban-in-the-north-gaining-ground-along-the-ring-road-in-baghlan/

·      Al Jazeera: Afghan Taliban 'recruiting boys' from Kunduz families, 30. September 2015
http://www.aljazeera.com/news/2015/09/afghan-taliban-recruiting-boys-kunduz-families-150930155157751.html

·      EASO - European Asylum Support Office: Afghanistan; Recruitment by armed groups, September 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/90_1474353951_2019-09-easo-afghanistan-recruitment.pdf

·      EASO - European Asylum Support Office: Afghanistan Security Situation, November 2016, S. 121-123 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/90_1479191564_2016-11-09-easo-afghanistan-security-situation.pdf

·      Hewad, Gran: The 2015 insurgency in the North (4): Surrounding the cities in Baghlan, 21. Oktober 2015 (veröffentlicht von AAN, verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/314149/452512_de.html

·      NYT - New York Times: A Taliban Prize, Won in a Few Hours After Years of Strategy, 30. September 2015
https://www.nytimes.com/2015/10/01/world/a-taliban-prize-won-in-a-few-hours-after-years-of-strategy.html