Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage von Personen aus sunnitisch-schiitischen Mischehen [a-10214]

13. Juli 2017

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Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN), schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom 11. Juli 2017, dass er zum geschilderten Sachverhalt nicht viel sagen könne, außer dass sunnitisch-schiitische Ehen eigentlich kein Problem darstellen würden und es ganz sicher keinen entsprechenden Straftatbestand in Afghanistan gebe. Probleme bei Eheschließungen würden meist dann auftreten, wenn eine der beteiligten Familien ein Problem damit habe. Konflikte im Zusammenhang mit Angelegenheiten, die die Familienehre betreffen – um eine solche Angelegenheit handle es sich bei Heiratsfragen – seien langlebig und könnten auch nach Jahren noch ausgetragen werden. (Ruttig, 11. Juli 2017)

 

In den verfügbaren Quellen konnten keine weiteren aktuellen Informationen zur Fragestellung gefunden werden. Die folgenden Informationen stammen teils aus älteren Quellen und beschäftigen sich teils mit angrenzenden Fragestellungen, die den Kontext der Frage berühren:

 

Die finnische Einwanderungsbehörde (FIS, Finnish Immigration Service) zitiert in einem Bericht vom Mai 2007 zu einer Fact-Finding-Mission im September 2006 einen Beamten des afghanischen Ministeriums für Frauenangelegenheiten, dem zufolge ein junges Paar theoretisch ohne Einverständnis der Eltern heiraten könne. Falls sie aber die Ehe bei einem Gericht registrieren lassen wollten, würde das Gericht das Einverständnis der Eltern überprüfen:

„According to an official of the Ministry of Women’s Affairs, in the Afghan civil law it is clearly stated, that the minimum marriage age for girls is 16 and for boys 18 years. Theoretically a young couple can get married without the consensus of their parents, but if they want to register their marriage in a court, the court will check from the parents whether the couple has their approval for the marriage. If the court suspects that sexual intercourse has taken place before marriage, this can lead to prosecution.” (FIS, 1. Mai 2007, S. 5)

Weiters zitiert das FIS den Beamten mit der Aussage, dass es keine Hindernisse beziehungsweise Hürden für gemischte Ehen gebe. Während des Bürgerkriegs, als Paschtunen und Hazara und andere ethnische Gruppen einander bekämpft hätten, seien Personen aus gemischten Ehen in manchen Regionen verfolgt worden. Heutzutage gebe es hingegen mehr gemischte Ehen. Es sei aber in manchen Gebieten möglich, dass den Taliban nahestehende Mullahs sich einer Eheschließung zwischen Schiiten und Sunniten widersetzen würden. Ethnisch gemischte Ehen seien in urbanen Gebieten üblicher als auf dem Land, jedoch hänge deren Zahl, so der Beamte, stark von lokalen Gegebenheiten und den Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen vor Ort ab. Ehen zwischen Paschtunen und Nicht-Paschtunen seien außerhalb Kabuls recht unüblich, im Gegensatz zur Situation in Kabul selbst. Ehen würden üblicherweise vom Dorfmullah besiegelt, der auch das Recht habe, eine Scheidung durchzuführen. Es gebe normalerweise keine schriftlichen Heiratsurkunden, was Zeugen sehr wichtig mache. Es sei heutzutage üblich, einen Film von der Hochzeitsfeier zu machen, was zumindest in manchen Provinzen von den Behörden als ausreichender Beweis für eine Eheschließung angesehen werde:

„According to an official with the Ministry of Women’s Affairs, there are no barriers or obstacles to mixed marriages. The official noted, that during the civil war, when Pashtoos and Hazaras and other ethnicities where fighting each other, persons from mixed marriages were in some regions persecuted. Nowadays, however, there are more mixed marriages. Yet, in some areas it is possible that Taliban minded Mullahs would resist mixed marriages between Shia’s and Sunni’s.

Ethnically mixed marriages are not uncommon between Uzbeks, Tajiks and Turkmens. An ethnically mixed marriage is more common in urban areas than in the countryside. However, the official with the Ministry of Women’s Affairs noted that local conditions and relations between the ethnicities have a great impact on the amount of mixed marriages. Mixed marriages between Pashto and non-Pashto persons are outside of Kabul quite uncommon in contrary to Kabul itself.

[…] Marriage is commonly sealed by the village mullah, who also has the right to grant a divorce. Usually there are no written marriage documents, which fact makes witnesses very important. Nowadays it’s very common to make a wedding film, which is, at least in Faryab, Mazar-i Sharif and Bamyan also recognized by the authorities as sufficient proof that a wedding has taken place in reality.” (FIS, 1. Mai 2007, S. 6-7)

In einem Bericht des norwegischen Herkunfsländerinformationszentrums Landinfo vom Mai 2011 zum Thema Eheschließung in Afghanistan wird erwähnt, dass die Heiratstraditionen in Afghanistan endogam seien, was in diesem Kontext bedeute, dass Partner aus der eigenen Verwandtschaft, Stammesgruppe oder ethnischen Gruppe bevorzugt würden. Es gebe keine verlässlichen Heiratsstatistiken in Afghanistan, es gebe aber Untersuchungen, die darauf hindeuten würden, dass ungefähr die Hälfte aller Ehen zwischen engen Verwandten geschlossen würden. Einen Cousin oder eine Kusine zu heiraten gelte als optimal:

„The marriage tradition is endogamous, which in this context means that partners from one’s own kinship group, tribe or ethnic group are preferred. There are no reliable marriage statistics available for Afghanistan, but some surveys indicate that approximately half of all marriages involve persons in close kinship. Marrying a cousin is considered optimal, both cross and parallel cousins (Wahab 2006).” (Landinfo, 19. Mai 2011, S. 6)

Wegen mangelnder Statistiken und fehlender systematischer Registrierungen von Ehen durch die Behörden sei es schwierig, etwas über Abweichungen von den Hochzeitstraditionen zu sagen, so Landinfo weiter. Der Bericht zitiert eine Studie der Menschenrechtsorganisation Global Rights aus dem Jahr 2008 (vgl. Global Rights, März 2008), wonach 8,9 Prozent der 4.800 befragten Frauen in einer interethnischen Ehe leben würden. Weiters zitiert Landinfo die Website GlobalSecurity.org, wonach es eine bedeutende Menge von Ehen zwischen ethnischen Gruppen gebe. Diese Ehen hätten die Tendenz, die Grenzen der Loyalität zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen zu verwischen:

„The authorities do not register marriages in a systematic manner, and marriage statistics are not available. It is therefore difficult to draw any conclusions regarding deviations from the marriage traditions. In 2008, the organisation Global Rights conducted a study on domestic violence affecting women in Afghanistan. Of the 4800 respondents (women from various parts of Afghanistan), altogether 8.9 per cent reported that they were in an interethnic marriage. It is pointed out by other sources that the scope of marriages involving partners from different ethnic groups is relatively comprehensive. GlobalSecurity.org (n.d.) states that ‘There is a substantial amount of intermarriage between the ethnic groups. This inter-marriage tends to blur lines of loyalty between different ethnic groups.’ It is claimed that even though endogamous marriages are being preferred, factors such as migration have caused the number of inter-ethnic marriages to increase (Afsaneh 2005, p. 70). Landinfo is not aware of any sources reporting differences between ethnic groups, although some indicate that among Uzbeks, Turkmens and Tajiks there is a widespread reluctance to marry a Pashtun (Aghajanian & Blood 2007, p. 70).” (Landinfo, 19. Mai 2011, S. 9)

Es gebe laut Bericht von Landinfo einen breiten Konsens in Afghanistan, dass Menschen wenig Möglichkeit hätten, eigene Entscheidungen in Bezug auf die Wahl ihrer Ehepartner zu treffen. Trotz starker kultureller Codes und geringer Aussichten, im Falle von Verletzung von Heiratstraditionen fair behandelt oder beschützt zu werden, komme es dennoch vor, dass Paare sich über die Entscheidungen ihrer Familien hinwegsetzten. Berichte über solche „Liebesheiraten“ könnten aber laut Landinfo als anekdotisch beschrieben werden und die Reichweite solcher Beziehungen sei höchstwahrscheinlich eher beschränkt:

„There is a broad consensus that in Afghanistan, people have little opportunity to make their own choices and decisions with regard to marriage partners. Landinfo is not aware of any representative studies or systematically collected information that can attest to the extent and character of forced marriages in Afghanistan. […] Despite strong cultural codes and few opportunities for fair treatment or real protection in the event of violations of marriage traditions, it nevertheless occurs that couples defy their respective families’ decisions on choice of a spouse. Such marriages are often referred to as love marriages. In the strictly gender-segregated Afghan society there are very few or no arenas where young men and women can meet and develop intimate relationships. Girls who have entered/reached puberty are zealously protected from contact with males not belonging to their families. The reporting of love marriages, as far as Landinfo is aware, can be described as anecdotal, and the scope of such relationships is most likely rather limited.” (Landinfo, 19. Mai 2011, S. 16)

Paare, die sich ihren Familien widersetzen und Heiratstraditionen brechen würden, indem sie ihre EhepartnerInnen unabhängig wählen, seien normalerweise nicht in der Lage, sich in ihrer Umgebung niederzulassen und müssten ihre Familien und Häuser verlassen. Landinfo zitiert eine Arbeit des Anthropologen Thomas Barfield aus dem Jahr 2003 (vgl. Barfield, 26. Juni 2003), in der im Zusammenhang mit dem Gewohnheitsrecht der Paschtunen, dem Paschtunwali, erwähnt wird, dass Paare oft aus dem Gebiet fliehen würde, da vom Vater oder den Brüdern erwartet würde, dass sie sie töten. Die Ehre und der Status von Familien würden durch die Ehe bestätigt, die die Rolle habe, die Sexualität von Frauen und Männern zu kontrollieren. Widerstand gegen beziehungsweise Verletzung von Normen im Zusammenhang mit der Wahl von EhepartnerInnen habe einen Einfluss auf die Ehre und das Ansehen der Familie und würde ernste Reaktionen gegen den Mann und die Frau auslösen:

„Couples who confront their families and break marriage traditions by making an independent choice of spouse, will normally be unable to settle in their local environment and will have to leave their families and homes. As Thomas Barfield points out: ‘Because her father and brothers are then expected to kill them, the couple often flees the area and seeks sanctuary (nanawati) elsewhere’ (Barfield 2003). The honour and status of families are confirmed through the institution of marriage ‘[…] with its role in controlling women’s and men’s sexuality’ (Smith 2009a). Pronounced or apparent opposition to or violation of norms related to the choice of a spouse, will affect the family’s honour and esteem, and provoke serious reactions towards the man and the woman alike. In general, various marriage traditions in Afghanistan primarily tend to violate women’s rights. Concerning an independent choice of spouse against the wishes of the family, men may also be exposed to severe sanctions. Some sources argue that women are, nevertheless, more vulnerable in these cases. A report published by the UN Office on Drugs and Crime in March 2007 states that: […] it is reasonable to assume that the person most harshly punished would be the girl, especially if extra-marital sex has occurred, since her loss of virginity would bring great shame to the family (UNODC 2007). Landinfo is not aware of studies or reports that focus on this problem or offer systematic data on the prevalence of love marriages. Most likely, this is due to their fairly limited scope and to the serious stigmatisation associated with opposition to the family and pre-/extra-marital sex. It is reasonable to assume that this is not very widespread, since the consequences of violating traditions would, very likely, be severe.” (Landinfo, 19. Mai 2011, S. 17)

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 13. Juli 2017)

·      Barfield, Thomas: Afghan Customary Law and Its Relationship to Formal Judicial Institutions. Produced for the United States Institute for Peace, Washington, DC, 26. Juni 2003
https://www.usip.org/sites/default/files/file/barfield2.pdf

·      FIS – Finnish Immigration Service: Report from a fact-finding mission to Afghanistan; 5 - 19 September 2006, 1. Mai 2007 (veröffentlicht auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/432_1196090607_finnland-directorate-of-immigration-finnish-fact-finding-mission-report-from-a-fact-finding-mission-to-afghanistan-5-19-september-2006-01-05.pdf

·      Global Rights, Living with Violence: A National Report on Domestic Abuse in Afghanistan, März 2008
http://www.globalrights.org/Library/Women's%20rights/Living%20with%20Violence%20Afghan.pdf

·      Landinfo: Afghanistan: Marriage, 19. Mai 2011
http://www.landinfo.no/asset/1852/1/1852_1.pdf

·      Ruttig, Thomas: E-Mail-Auskunft, 11. Juli 2017