Amnesty Report 2024/25: Zur Lage der Menschenrechte weltweit; Nigeria 2024

Berichtszeitraum: 1. Januar 2024 bis 31. Dezember 2024

Journalist*innen und Kritiker*innen der Behörden wurden festgenommen, angeklagt und willkürlich inhaftiert. Beim Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt durch Sicherheitskräfte zur Auflösung von Protesten kamen mehrere Menschen ums Leben. Zahlreiche Protestierende wurden festgenommen und misshandelt. Aufgebrachte Menschenmengen waren für den gewaltsamen Tod Hunderter Menschen verantwortlich. Mädchen, die von der bewaffneten Gruppe Boko Haram entführt worden waren, erhielten weiterhin weder Unterstützungsleistungen noch Zugang zu Gerechtigkeit. Eine von zwei Gemeinden im nigerianischen Bundesstaat Rivers gegen den Ölkonzern Shell eingereichte Klage wegen Umweltzerstörung wurde von einem Gericht in London zur Hauptverhandlung zugelassen.

Hintergrund

Bei Überschwemmungen in 33 Bundesstaaten kamen mehr als 300 Menschen ums Leben, Zehntausende wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Mehr als 61.000 Hektar Land im Bundesstaat Kogi waren überflutet. Im Bundesstaat Borno hatten 27.000 Menschen aufgrund der Überflutungen keinen Zugang zu humanitärer Hilfe. Zwischen Mitte Mai und Juni 2024 wurden in Borno 1.618 unterernährte Kinder gezählt, was eine Folge der hohen Preise für Grundnahrungsmittel war. Zudem fehlte es an angemessenen sanitären Einrichtungen. Bis Mitte Oktober 2024 wurden über 14.000 mutmaßliche Fälle von Cholera und 378 Todesfälle in Verbindung mit der Krankheit gemeldet.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Am 23. Juli 2024 legte das Repräsentantenhaus einen Vorschlag für ein Gesetz gegen Subversion vor (Counter Subversion Bill), das harte Strafen für Nigerianer*innen vorsah, wenn sie den Text der neu eingeführten Nationalhymne nicht kannten oder Politiker*innen und Gemeindesprecher*innen kritisierten. Der Gesetzentwurf wurde in der ersten Lesung angenommen und zur zweiten Lesung zugelassen. Am 14. August 2024 zog der Sprecher des Repräsentantenhauses den Entwurf jedoch nach öffentlichen Protesten zurück.

Es kam weiterhin zu willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen von Journalist*innen und anderen Personen, die sich kritisch äußerten. Am 15. März 2024 wurde Segun Olatunji, ein Journalist der Nachrichtenwebsite The First News, von Angehörigen der nigerianischen Armee aus seinem Haus verschleppt. Grund dafür war ein von ihm verfasster Artikel, in dem er einem Mitarbeiter des Militärgeheimdienstes von Nigeria (Nigerian Defense Intelligence Agency – NDIA) Vetternwirtschaft vorgeworfen hatte. Aufgrund öffentlichen Drucks bestätigte der NDIA, dass sich der Journalist in ihrem Gewahrsam befand, und ließ ihn am 28. März wieder frei.

Am 1. Mai 2024 wurde Daniel Ojukwu, ein Reporter der gemeinnützigen Organisation Foundation for Investigative Journalism, von Polizeikräften verschleppt und inhaftiert. Vor seiner Festnahme hatte er darüber berichtet, dass Adejoke Orelope-Adefulire, leitende Assistentin des Präsidenten im Bereich nachhaltige Entwicklungsziele, 147 Mio. Nigerianische Naira (etwa 90.000 Euro) auf das Konto eines Restaurants gezahlt hatte. Dabei handelte es sich um staatliche Gelder, die für den Schulbau gedacht waren. Daniel Ojukwu kam aufgrund öffentlichen Drucks zehn Tage nach seiner Festnahme frei. Am 14. August 2024 wurde Fisayo Soyombo, Chefredakteur der Foundation for Investigative Journalism, wegen desselben Berichts inhaftiert. Er kam noch am selben Tag gegen Hinterlegung einer Kaution und unter Auflagen aus der Haft frei.

Am 29. August 2024 nahmen Polizeikräfte den Journalisten Muktar Dahiru wegen eines Beitrags auf Facebook fest, in dem er den Gouverneur des Bundesstaats Kano, Abba Yusuf, "beleidigt" haben soll. Er wurde wegen "krimineller Verschwörung", "Rufmord" und "vorsätzlicher Beleidigung" unter Anklage gestellt.

Am 29. Mai 2024 erließ ein Hohes Bundesgericht in der Hauptstadt Abuja im Federal Capital Territory eine Untersuchungshaftanordnung gegen Chioma Okoli, nachdem sie unter dem Gesetz über Internetkriminalität wegen "Diffamierung" angeklagt worden war. Chioma Okoli hatte auf Facebook in einem Beitrag angegeben, dass ein Tomatenmark von Erisco Foods Ltd eine ungesunde Menge Zucker enthalte. Am 31. Mai wurde sie gegen Kaution und unter strikten Auflagen aus der Haft entlassen. Das Verfahren gegen sie war Ende des Jahres noch anhängig.

Am 27. Mai 2024 wurde Precious Eze Chukwunonso, Herausgeber der Nachrichtenwebsite News Platform, von Polizeikräften festgenommen und für 18 Tage inhaftiert. Er hatte einen Artikel verfasst, in dem er einem lokalen Geschäftsmann vorwarf, an einer Auseinandersetzung mit einer Nachbarin in einem Wohngebiet in Lagos beteiligt gewesen zu sein, bei der Schüsse abgefeuert wurden. Precious Eze Chukwunonso wurde wegen "Verhaltens, das zu einer Störung der öffentlichen Ordnung führen könnte, Verursachens einer Störung der öffentlichen Ordnung durch beleidigende Veröffentlichungen und Verabredung zu einer Straftat" angeklagt.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Am 8. August 2024 durchsuchte die Polizei den Hauptsitz des Gewerkschaftsverbands Nigeria Labour Congress (NLC). Am 19. August bestellte der nigerianische Inlandsgeheimdienst (Department of State Services – DSS) Joe Ajaero, den Vorsitzenden des NLC, für eine Befragung ein. Dabei ging es um eine mutmaßliche kriminelle Verschwörung, Terrorismusfinanzierung, landesverräterische Straftaten, Umsturz und Cyberkriminalität. Am 9. September wurde Joe Ajaero von Angehörigen des DSS am Nnamdi Azikiwe International Airport in Abuja festgenommen.

Recht auf friedliche Versammlung

Die nigerianische Regierung schränkte die Rechte auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit rechtswidrig ein. Nach Protesten, bei denen zwischen dem 1. und 10. August 2024 zahlreiche Menschen unter dem Motto "#EndBadGovernance" ("Beendet schlechte Regierungsführung") auf die Straße gegangen waren, wurden im ganzen Land mehr als 1.000 Personen inhaftiert. Mindestens 24 Protestierende kamen ums Leben, als Sicherheitskräfte die Proteste in den Städten Kano und Maiduguri und in den Bundesstaaten Jigawa, Katsina, Niger und Kaduna gewaltsam niederschlugen.

Am 2. September 2024 erhoben die Behörden Anklage gegen zwölf Männer, die an den regierungskritischen Protesten teilgenommen hatten. Bei ihnen handelte es sich um Adeyemi Abiodun Abayomi, Musa Abdullahi, Michael Tobiloba Adaramoye, Bashir Bello, Angel Love Innocent, Nuradeen Khamis, Buhari Lawal, Lucky Ehis Obiyan, Mosiu Sadiq, Opaluwa Eleojo Simeon, Suleiman Yakubu und Abdulsalam Zubairu. Die Männer wurden wegen konstruierter Vorwürfe vor ein Hohes Bundesgericht in Abuja (Federal Capital Territory) gestellt. Unter anderem warf man ihnen Kapitalverbrechen und Landesverrat, Verschwörung zur Destabilisierung Nigerias, Anstiftung zu Aufruhr und Krieg gegen den nigerianischen Staat vor.

Am 1. November 2024 wurden 114 Protestierende der #EndBadGovernance-Proteste in Gruppen vor einem Hohen Bundesgericht in Abuja angeklagt. Alle waren zuvor festgenommen und misshandelt worden. Eine Gruppe von Angeklagten bestand fast ausschließlich aus Minderjährigen, von denen vier im Gerichtssaal zusammenbrachen, nachdem sie mehr als zwei Monate unter erbärmlichen Bedingungen in Haft gehalten worden waren. Im Bundesstaat Katsina standen ebenfalls zwölf Kinder unter 16 Jahren in einem unfairen Verfahren vor Gericht, weil sie an den #EndBadGovernance-Protesten teilgenommen hatten. Viele von ihnen waren festgenommen worden, obwohl sie sich lediglich auf der Straße aufgehalten hatten, als die Proteste stattfanden.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Am 10. Juli 2024 entschied der Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) im Fall Obianuju Catherine Udeh und 2 weitere gegen die Bundesrepublik Nigeria, dass die nigerianischen Behörden die Rechte der #EndSARS-Protestierenden verletzt hatten. 2020 waren zahlreiche Nigerianer*innen auf die Straße gegangen und hatten unter dem Hashtag #EndSARS friedlich ein Ende der Polizeigewalt, der außergerichtlichen Hinrichtungen und der Erpressungen durch die Special Anti-Robbery Squad (SARS), eine Spezialeinheit der Polizei, gefordert. Nach Ansicht des Gerichtshofs waren die Rechte auf Sicherheit der Person, auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, auf Schutz vor Folter und anderweitiger Misshandlung und auf wirksame Rechtsbehelfe verletzt und die Verpflichtung des Staates, Untersuchungen durchzuführen, nicht eingehalten worden. Der Gerichtshof zog die nigerianischen Behörden jedoch nicht für zwei Vorfälle im Oktober 2020 zur Verantwortung, bei denen an der Mautstation in Lekki und im Bezirk Alausa im Bundesstaat Lagos zwölf Protestierende getötet worden waren.

Rechtswidrige Angriffe und Tötungen

In einem im Oktober 2024 veröffentlichten Bericht hat Amnesty International 363 Vorfälle von Gewalt durch aufgebrachte Menschenmengen zwischen Januar 2012 und August 2023 dokumentiert, bei denen es zu mindestens 555 Todesfällen kam. Viele der Opfer waren zu Tode gefoltert oder anderweitig getötet worden, nachdem ihnen z. B. Diebstahl, Zauberei oder Blasphemie vorgeworfen worden war. Nur in wenigen Fällen wurden Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet. Dies verdeutlichte das Versagen der Behörden, die Menschen in Nigeria vor Gewalt zu schützen.

Zwischen Dezember 2023 und Februar 2024 griffen bewaffnete Gruppen Gemeinschaften in den Bezirken Barkin Ladi, Bokkos und Mangu im Bundesstaat Plateau an. 1.333 Menschen wurden getötet, darunter 260 Kinder.

Im März 2024 starben in Kawori im Bezirk Konduga (Bundesstaat Borno) bei der Detonation einer Bombe 16 Menschen, Dutzende weitere wurden verletzt.

Im April 2024 kam es im Bezirk Omala (Bundesstaat Kogi) zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Landwirten und Hirten, bei denen 21 Menschen ums Leben kamen. Im Juni wurden in den Bezirken Birninkudu, Dutse und Kiyawa (Bundesstaat Jigawa) acht Männer bei einem Angriff von Hirten verletzt.

Am 24. Dezember 2024 töteten Unbekannte mindestens 15 Menschen bei einem Angriff auf die Gemeinde Gidan Ado (Bundesstaat Plateau). Die Leichen der Opfer, bei denen es sich hauptsächlich um Frauen und Kinder handelte, wurden in Häusern, Hinterhöfen und Bauernhöfen gefunden.

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Am 30. September 2024 flog die nigerianische Luftwaffe Angriffe auf das Dorf Jika da Kolo im Bezirk Yadin Kidandan (Bundesstaat Kaduna). 23 Dorfbewohner*innen kamen dabei ums Leben, darunter auch Kinder. Unter den Opfern befanden sich Menschen, die eine Moschee besucht oder auf dem Markt Einkäufe erledigt hatten.

Am 25. Dezember 2024 wurden bei Luftangriffen des Militärs in den Gemeinden Gidan Sama und Rumtuwa im Bezirk Silame (Bundesstaat Sokoto) mindestens zehn Personen getötet.

Rechte von Frauen und Mädchen

Die nigerianischen Behörden ergriffen keinerlei wirksame Maßnahmen, um Angriffe auf Mädchen und auf Schulen zu verhindern. 82 der 276 Schülerinnen, die 2014 von der bewaffneten Gruppe Boko Haram in Chibok im Bundesstaat Borno entführt worden waren, befanden sich weiter in Gefangenschaft. Zwanzig der freigelassenen Schülerinnen wurden gezwungen, weiter mit "reumütigen" Boko-Haram-Kämpfern zusammenzuleben, mit denen sie während ihrer Gefangenschaft zwangsverheiratet worden waren. Seit dem Vorfall 2014 sind bei weiteren Angriffen auf Schulen zahlreiche weitere Mädchen entführt worden.

Im Juni 2024 erklärte Amnesty International in einem Bericht, dass Mädchen, die tatsächlich oder mutmaßlich mit Boko Haram in Verbindung standen und jahrelange Menschenrechtsverstöße durch Mitglieder der bewaffneten Gruppe und Angehörige der nigerianischen Armee erlitten hatten, weder Unterstützungsleistungen bei der Wiedereingliederung erhielten noch Gerechtigkeit erfuhren.

Am 24. August 2024 wurde der Entwurf für ein Gesetz zur zweiten Lesung im Senat zugelassen, mit dem das bestehende Gesetz zum Verbot von Gewalt gegen Personen (Violence Against Persons [Prohibition] Act [2015]) aufgehoben und durch eine andere Fassung ersetzt werden soll. Das Gesetz von 2015 war verabschiedet worden, um geschlechtsspezifische Gewalt in Nigeria einzudämmen.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Die Inflationsrate von 33,4 Prozent im Jahr 2024 – ein Anstieg um 9,32 Prozent im Vergleich zu Juli 2023 – führte angesichts ohnehin hoher Preise für Waren und Dienstleistungen zu einer Verschlechterung des Lebensstandards der Menschen in Nigeria. Am 5. September 2024 hob die nigerianische Regierung den Benzinpreis von 617 Nigerianischen Naira (etwa 0,38 Euro) auf 817 Nigerianische Naira (etwa 0,50 Euro) pro Liter an, ohne Ausgleichsmaßnahmen zum Schutz der Einkommen der Menschen zu ergreifen. Am 9. September 2024 verschafften sich Angehörige des nigerianischen Inlandsgeheimdienstes DSS rechtswidrig Zugang zum Büro der Menschenrechtsorganisation Socio-Economic Rights Accountability Project. Die Organisation hatte zuvor den Präsidenten dazu aufgerufen, die Preissteigerung innerhalb von 24 Stunden wieder rückgängig zu machen.

Zwischen dem 18. und 22. Dezember 2024 wurden 67 Menschen bei Massenpaniken während kostenloser Lebensmittelausgaben zu Tode getrampelt, die meisten von ihnen standen kurz vor dem Hungertod. Am 18. Dezember 2024 starben 35 Kinder bei einem derartigen Vorfall in der Stadt Ibadan (Bundesstaat Oyo). Am 21. Dezember kamen bei Massenpaniken im Zusammenhang mit der Ausgabe von Lebensmitteln 22 Menschen in der Stadt Okija im Bezirk Ihiala (Bundesstaat Anambra) und zehn Menschen in Abuja (Federal Capital Territory) ums Leben.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Am 11. Oktober 2024 entschied ein Berufungsgericht in der britischen Hauptstadt London, dass ein 2015 von den Gemeinden Bille und Ogale (Bundesstaat Rivers) vorgebrachter Fall gegen die Shell Petroleum Development Company, ein nigerianisches Tochterunternehmen des Ölkonzerns Shell, zum Hauptverfahren zugelassen wird. Diese Entscheidung wird vermutlich zur Folge haben, dass wichtige interne Dokumente von Shell veröffentlicht werden. Das Berufungsgericht kippte damit die Entscheidung des Hohen Gerichts im Vereinigten Königreich vom März 2024. Dieses hatte den Fall der beiden Gemeinden, die Shell wegen jahrzehntelanger Umweltzerstörung durch Ölkatastrophen zur Verantwortung ziehen wollten, abgewiesen.

Die von Nigeria ergriffenen Klimaschutzmaßnahmen blieben aufgrund unzulänglicher Klimapolitik und fehlender erneuerbarer Energieformen unzureichend.

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