Dokument #2113316
ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (Autor)
22. Juli 2024
Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen, sowie gegebenenfalls auf Auskünften von Expert·innen und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.
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Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.
Kurzbeschreibungen zu den in dieser Anfragebeantwortung verwendeten Quellen sowie Ausschnitte mit Informationen aus diesen Quellen finden Sie im Anhang.
Tauglichkeitskriterien der Armee bei Pflichtwehrdienst, insbesondere hinsichtlich körperlicher Beeinträchtigungen im Bereich der Sehkraft/Augen
Artikel 12c des syrischen Wehrpflichtgesetzes Nr. 30 von 2007 besagt, dass es medizinische Gründe für Wehrdienstuntauglichkeit gibt (Gesetz Nr. 30 von 2007, Artikel 12c). Das Gesetz beinhaltet keine Details oder Erklärungen zu Tauglichkeitskriterien.
Gesetzesdekret Nr. 968 von 1964 zur körperlichen Tauglichkeit für den Wehrdienst beinhaltet 261 Artikel über verschiedene Krankheitsbilder und deren Auswirkung auf die Tauglichkeit von Wehrpflichtigen (Gesetz Nr. 968 von 1964). Laut dem Gesetzesdekret zur körperlichen Tauglichkeit für den Wehrdienst aus dem Jahr 1964 gelten folgende Regeln bezüglich des Einsatzes von Wehrpflichtigen mit Sehschwäche:
Eine Person, deren Sehvermögen auf beiden Augen ohne Korrektur gleich oder größer als 10/10 ist, soll im Feld eingesetzt werden, vorausgesetzt, dass das Sehvermögen auf dem rechten Auge nicht weniger als 5/10 und auf dem linken Auge nicht weniger als 1/10 beträgt.
Diejenigen, deren Gesamtsehvermögen gleich oder weniger als 4/10 beträgt, sind vom Militärdienst befreit. Eine Person, die die Sehvoraussetzungen für das, was in den beiden vorangegangenen Absätzen angegeben ist, nicht erfüllt, wird dem Militärdienst außerhalb des Feldes zugeteilt.
Bei der Abschätzung des Sehgrades wird die folgende Tabelle herangezogen:
Kurzsichtigkeit |
Sehgrad |
Weitsichtigkeit |
+1 |
10/10 |
+2 |
+0.5 |
9/10 |
+2.5 |
-0.25 |
8/10 |
+3 |
-0.5 |
7/10 |
+4 |
-0.75 |
6/10 |
+5 |
-1 |
5/10 |
+6 |
-1.25 |
4/10 |
+7 |
-1,5 |
3/10 |
+8 |
-1,75 |
2/10 |
+9 |
-2 |
1/10 |
+10 |
(Gesetzesdekret Nr. 968 von 1964, Artikel 162)
Laut Artikel 163 desselben Gesetzesdekrets sind Personen, die ein Auge entweder verloren haben oder deren Auge beschädigt ist und die keinerlei Sehkraft in diesem Auge haben vom Wehrdienst ausgenommen. Personen, deren Sehvermögen in einem Auge weniger als 1/10 beträgt sind von Kampfhandlungen ausgenommen, es werden ihnen jedoch administrative Funktionen zugeteilt (Gesetzesdekret Nr. 968 von 1964, Artikel 163).
Ein von ACCORD Ende April 2022 kontaktierter Syrienexperte bestätigte, dass die oben beschriebenen Regeln für die medizinischen Ausschüsse der syrischen Armee Gültigkeit hätten (Syrienexperte, 29. April 2022). Es konnte jedoch nicht herausgefunden werden, ob diese Regeln in der Praxis auch angewandt werden.
Die New York Times (NYT) schreibt in einem Artikel vom Dezember 2017 über die Erfahrungen eines blinden Mannes, Herrn Agha, im Oktober 2013. Er und zwei seiner Freunde seien an einem Checkpoint der Regierung angehalten worden. Herr Agha habe dem Soldaten mitgeteilt, dass er blind sei. Der Soldat habe erwidert, dass seine Augen in Ordnung seien. Die drei seien festgenommen worden und im Gefängnis misshandelt worden. Herr Aghas Freund sei hingerichtet worden. Herr Agha und sein zweiter Freund seien wieder freigelassen worden (NYT, 23. Dezember 2017).
Das Danish Immigration Service (DIS) veröffentlicht im Jänner 2024 einen Bericht über die Wehrpflicht in Syrien, der zu großen Teilen auf Expert·inneninterviews vom Oktober 2023 basiert. DIS erklärt, dass um zu entscheiden, ob die medizinischen Probleme einer Person zu einer Befreiung oder lediglich zur Untauglichkeit für Felddienst führen, die Behörden den Prozentsatz oder Grad der Beeinträchtigung, die durch die medizinischen Probleme einer Person zum Zeitpunkt der medizinischen Untersuchung verursacht wird, bewerten würden. In der Praxis sei es unklar, welche medizinischen Bedingungen eine Person für eine vollständige Befreiung oder für eine Befreiung von Feldeinsätzen berechtige. Es gebe offensichtliche Behinderungen, die eine Person vom Militärdienst befreien würden, wie Blindheit oder vollständige Lähmung. Darüber hinaus seien Männer im Allgemeinen aus medizinischen Gründen wie Fettleibigkeit, Sehschwäche, Krebs, Verlust einer Gliedmaße und psychischen Erkrankungen vom Militärdienst befreit. Laut einem DIS-Bericht vom Juli 2023 sei es zunehmend schwieriger geworden, eine Befreiung aus medizinischen Gründen zu erhalten. Syrians for Truth and Justice (STJ) habe DIS mitgeteilt, dass sogar Menschen mit offensichtlichen körperlichen Behinderungen rekrutiert würden (DIS, Jänner 2024, S. 13).
Neben der Befreiung aus medizinischen Gründen sei es möglich, in feste Dienststellen/feste Positionen (arabisch: ثابتة خدمات, khadamat thabiteh) eingeteilt zu werden und dort seinen Wehrdienst z.B. im Büro, in der Logistik, in der Küche oder beim Wachdienst abzuleisten. Männer würden als felduntauglich gelten, wenn sie medizinische Probleme hätten, die sie für den Einsatz im Feld untauglich machen würden, jedoch nicht für eine Befreiung aus medizinischen Gründen ausreichen würden. Vor 2013 habe ein Behinderungsgrad von 40 Prozent vorliegen müssen, um als felduntauglich zu gelten. Damals hätten Menschen mit Sehbehinderung oder anderen Augenproblemen als felduntauglich gegolten und seien deshalb festen Dienststellen zugewiesen worden. Heutzutage werde eine Person mit Sehbehinderung oder anderen Augenproblemen laut STJ rekrutiert, es sei denn, das Augenproblem sei schwerwiegend. Es sei unklar, welche Erkrankungen eine Person für Feldeinsätze untauglich machen würden, da dies von der Einschätzung des medizinischen Komitees im Militärkrankenhaus abhänge. Einige Quellen hätte jedoch erwähnt, dass es bestimmte Erkrankungen gebe, die eine Person für Feldeinsätze untauglich machen würden. Dazu gehörten Diabetes, Sehschwäche in unterschiedlichem Ausmaß, Herzkrankheiten, Bluthochdruck, Hörbehinderung, Fehlstellungen von Hand und Fuß (hand or foot defects), Asthma oder andere chronische Krankheiten. Die Zuweisung einer Person zu festen Positionen hänge auch von der Einschätzung des verantwortlichen Offiziers ab. Männer, die aufgrund bestimmter gesundheitlicher Erkrankungen als für Feldeinsätze untauglich eingestuft würden, könnten eine Gebühr von 3.000 US-Dollar zahlen, um vom Dienst in einer festen Position befreit zu werden. Im Allgemeinen würde diese Befreiung in der Praxis durchgesetzt und von der Regierung respektiert (DIS, Jänner 2024, S. 14).
Weitere allgemeine Informationen zu Tauglichkeitskriterien der Armee bei Pflichtwehrdienst finden Sie in folgender Anfragebeantwortung von ACCORD vom Mai 2022 sowie im ACCORD-Themendossier zum syrischen Militärdienst vom März 2024:
· ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Syrien: Tauglichkeitskriterien der syrischen Armee; Einsatz von Wehrpflichtigen mit starker Sehschwäche [a-11869], 5. Mai 2022
https://www.ecoi.net/de/dokument/2073006.html
· ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: ecoi.net featured topic on Syria: Military service, 20. März 2024
https://www.ecoi.net/de/dokument/2105521.html
Fehlen eines Auges als Befreiungsgrund vom Wehrdienst
Wie oben beschrieben sind laut Artikel 163 des Gesetzesdekrets Nr. 968 von 1964 Personen, die ein Auge entweder verloren haben oder deren Auge beschädigt ist und die keinerlei Sehkraft in diesem Auge haben vom Wehrdienst ausgenommen. Personen, deren Sehvermögen in einem Auge weniger als 1/10 beträgt sind von Kampfhandlungen ausgenommen, werden jedoch dem Militärdienst außerhalb des Feldes zugeteilt (Gesetzesdekret Nr. 968 von 1964, Artikel 163).
DIS interviewte im Februar 2020 unter anderem den Journalisten und Forscher Asaad Hanna zu Tauglichkeitskriterien. Laut Hanna würden Männer mit bestimmten körperlichen Behinderungen, wie z.B. nur einem Auge, sowie bestimmen psychischen Erkrankungen normalerweise vom Militärdienst befreit. Wer nicht kampffähig sei, erhalte als Ersatz für den regulären Wehrdienst Verwaltungsarbeit (DIS, Mai 2020, S. 75-76). Abbas Almousa von der syrischen zivilgesellschaftlichen Organisation The Day After (TDA) habe angegeben, dass in der Praxis Männer, die eine Gliedmaße oder ein Auge verloren hätten, vom Militärdienst ausgenommen seien (DIS, Mai 2020, S. 61).
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 22. Juli 2024)
· ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: ecoi.net featured topic on Syria: Military service, 20. März 2024
https://www.ecoi.net/de/dokument/2105521.html
· ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Syrien: Tauglichkeitskriterien der syrischen Armee; Einsatz von Wehrpflichtigen mit starker Sehschwäche [a-11869], 5. Mai 2022
https://www.ecoi.net/de/dokument/2073006.html
· DIS – Danish Immigration Service: Syria Military Service, Mai 2020
https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf
· DIS - Danish Immigration Service: Syria; Military service, Jänner 2024
https://www.ecoi.net/en/file/local/2103893/coi-report_syria_military-service_jan-2024.pdf
· Gesetzesdekret Nr. 968 von 1964, Körperliche Tauglichkeit für den Wehrdienst [Arabisch], 1964
https://www.startimes.com/?t=16512202
· NYT – New York Times: ‘I was not going to accept it’: After captivity, blind Syrian forges path to U.S., 23. Dezember 2017
https://www.nytimes.com/2017/12/23/nyregion/i-was-not-going-to-accept-it-after-captivity-blind-syrian-forges-path-to-us.html
· Syrienexperte, E-Mail-Auskunft, 29. April 2022
Anhang: Quellenbeschreibungen und Informationen aus ausgewählten Quellen
Das Danish Immigration Service (DIS) ist die in Dänemark für Einwanderung, Einreise und Aufenthalt von Ausländer·innen zuständige Behörde des Ministeriums für Einwanderung und Integration.
· DIS – Danish Immigration Service: Syria Military Service, Mai 2020
https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf
„Skype meeting with Abbas Almousa, The Day After (TDA), based in Berlin, 7 February 2020: […] In practice, people who have lost an organ, e.g. a limb or an eye, are exempted.“ (DIS, Mai 2020, S. 61)
„Meeting with Asaad Hanna, 18 February 2020, Istanbul:
242. It is a special committee, which conducts assessments of people with medical conditions, that decides whether a person is to be exempted.
243. A person with certain physical disabilities, for instance a person with one eye, or mental disabilities, such as insanity, will usually be exempted. A person who is not able to fight is given administrative work as a substitute for regular military service. However, such persons can sometimes pay a bribe to be allowed to stay at home while the bribed authority makes it look as if the conscript is doing his military service in the office.“ (DIS, Mai 2020, S. 75/76)
· DIS - Danish Immigration Service: Syria; Military service, Jänner 2024
https://www.ecoi.net/en/file/local/2103893/coi-report_syria_military-service_jan-2024.pdf
„2.2.2.1. Medical reasons for exemption
In order to decide whether a person's medical problems make him eligible for exemption or unfit for field operations, the authorities will assess the percentage or degree of disability caused by a person's medical problems at the time of the medical examination.
In practice, it is unclear which medical conditions make a person eligible for exemption or unfit for field operations. However, there are obvious disabilities that will make a person exempted from military service. Men are exempted if, for example, they are blind or completely paralysed. In addition, men are generally exempted from military service for medical reasons such as obesity, poor eyesight, cancer, loss of a limb and mental illnesses. […]
According to a DIS report from July 2023, it has become increasingly difficult to obtain an exemption for medical reasons. STJ [Syrians for Truth and Justice] informed DIS that at present, even people with obvious physical disabilities are being recruited.” (DIS, Jänner 2024, S. 13)
„Apart from being exempted for medical reasons, it is possible to be assigned to fixed services/fixed positions (Arabic: ثابتة خدمات, khadamat thabiteh) and do one’s military service e.g. in an office, in logistics, in a kitchen or in guarding. Men will be considered unfit for field operations if they have medical issues that make them not eligible for deployment in field operations and at the same time not eligible for exemption for medical reasons.
Before 2013, people had to have a 40 % disability to be considered unfit for field operations. At that time, people with impaired vision or other eye problems would be deemed unfit for field operations and therefore assigned to fixed services. Currently, a person with a visual impairment or other eye problems will be recruited unless the eye problem is severe.
Consequently, it is unclear which medical conditions make a person unfit for field operations as it depends on the assessment of the medical committee at the military hospital. However, some sources mentioned that there are certain medical conditions that will make an individual considered unfit for field operations. These include diabetes, poor vision to varying degrees, heart diseases, high blood pressure issues, hearing impairment, hand or foot defects, asthma or some other chronic diseases.
The assignment of an individual to fixed services also depends on the assessment conducted by the officer in charge. […]
Men who are assessed unfit for field operations due to suffering from specific health conditions can pay a fee of 3 000 USD to be exempted from serving in a fixed position. In general, this exemption is being enforced in practice and is respected by the GoS [Government of Syria].” (DIS, Jänner 2024, S. 14)
New York Times (NYT) ist eine US-amerikanische Tageszeitung.
· NYT – New York Times: ‘I was not going to accept it’: After captivity, blind Syrian forges path to U.S., 23. Dezember 2017
https://www.nytimes.com/2017/12/23/nyregion/i-was-not-going-to-accept-it-after-captivity-blind-syrian-forges-path-to-us.html
„Around the city, military checkpoints were used for conscription. And young men like Mr. Agha and Mr. Hadidy, who did not want to flee the country to live impoverished lives away from their relatives, took risks by walking the city.
On Oct. 18, 2013, the tow and another friend were stopped at a checkpoint by Syrian Arab Republic fighters, aligned with government forces overseen by President Bashar al-Assad
‘Why aren’t you in the army?’ a soldier asked the three, who were in their late teens.
Mr. Hadidy and the friend said they had legally paid for a deferment, once a major source of income for the government. Mr. Agha told the soldiers he was blind though young men with medical exemptions were often assigned to administrative roles in the military.
‘Your eyes are good,‘ the soldier said. The three were arrested and placed in separate, dark holding cells.
Over two days, they went without food. Water was provided twice. Mr. Agha was beaten. Then, the three young men were brought together, and without warning, Mr. Hadidy was executed. […]
Because he was blind, Mr. Agha was released; his other friend was also freed.“ (NYT, 23. Dezember 2017)