Anfragebeantwortung zum Jemen: Lage von Personen, die im Iran studiert haben, bei Rückkehr in den Südjemen (Probleme, Konsequenzen, von welcher Seite) [a-11900-3]

2. Juni 2022

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Auskünften von Expert·innen und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Dieses Produkt stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

Kurzbeschreibungen zu den in dieser Anfragebeantwortung verwendeten Quellen sowie Ausschnitte mit Informationen aus diesen Quellen finden Sie im Anhang.

Die folgende Anfragebeantwortung behandelt nur die Situation von Rückkehrer·innen, die im Iran gelebt haben, in den Südjemen, der unter der Kontrolle des Südübergangsrates (Southern Transitional Council, STC) steht. Die Situation wäre eine andere für Rückkehrer·innen mit Verbindungen in den Iran in Gebiete, die von den Houthis kontrolliert werden. Da die in der Anfrage beschriebene Person aus dem Südjemen stammt, wurde in der Anfragebeantwortung nur dieser Landesteil berücksichtigt.

Dr. Marie-Christine Heinze, Vorsitzende von CARPO (Center for Applied Research in Partnership with the Orient), das sich auf Forschung, Beratung und Austausch zum und im Orient spezialisiert, spricht in einer E-Mail an ACCORD vom Mai 2022 von einer „hohen Gefährdung“ für eine Person, die im Iran studiert habe, und gibt dafür folgende Begründung:

Da er im Iran studiert hat, wird man im Jemen automatisch davon ausgehen, dass er mit den Huthis assoziiert ist oder zumindest mit ihnen sympathisiert. Die Region Lahij, aus der er stammt, liegt im Süden des Landes, außerhalb der Kontrolle der Huthis. Sie gehört aber zu den Regionen im Süden, aus denen schon des Öfteren in den vergangenen Jahren Nordjemenit:innen – selbst solche, die schon seit Jahrzehnten dort leben – in den Norden (also in die Huthi-kontrollierten Gebiete) abgeschoben wurden, weil es viele Vorurteile gegenüber Nordjemenit:innen gibt, welche historisch bedingt sind. Die Diskurse und Perspektiven variieren hier, aber die Vorurteile im Süden gegenüber Nordjemenit:innen sind groß, vor allem auch in solchen Landesteilen wie Lahij, die sich 2015 gegen den Einmarsch der Huthis verteidigen mussten. Wenn jetzt noch bei diesem Mann hinzukommt, dass er im Iran studiert hat, dann wird er sich aller Voraussicht nach seines Lebens in Lahij nicht sicher sein können. Diese Probleme könnten von Seiten der Lokalbevölkerung auftreten, mit Sicherheit aber von den dort vorherrschenden Sicherheitskräften, dem ‚Sicherheitsgürtel‘, die mit dem Südübergangsrat verbunden sind.“ (Heinze, 7. Mai 2022)

Eine auf den Jemen spezialisierte Forscherin erklärt in einem Interview mit ACCORD im Mai 2022, dass wenn eine Person im Iran studiert habe, es naheliegend sei, dass die Person im Südjemen verdächtigt werde mit den Houthis zu kooperieren. Die Houthis würden als Marionetten des Iran betrachtet. Speziell seit 2015 würden Houthis im Südjemen sehr negativ gesehen.

Die Person könne der Spionage verdächtigt werden. In einem solchen Fall bestehe die Möglichkeit, dass die Person inhaftiert werde. Berichten zufolge seien Personen inhaftiert worden, ohne dass ihre Familien informiert worden seien, es gebe Berichte über Folterungen von Inhaftierten, und es sei häufig ein langwieriger Prozess wieder freigelassen zu werden.

Es sei schwierig einzuschätzen, welcher Art von Gefährdung eine Person, die im Iran studiert habe, im Südjemen ausgesetzt sei, da ein solcher Fall sehr unüblich sei. Die individuelle Situation der fraglichen Person spiele außerdem eine Rolle, wenn es um die Wahrscheinlichkeit von Verfolgung gehe. Je nach Status der Familie und politischer Involvierung könne die Situation variieren.

Generell sei eine Person, die im Iran studiert habe, im Südjemen sicherlich nicht willkommen. Das Studium im Iran werde sowohl von der Gesellschaft wie auch von den Sicherheitsbehörden negativ gesehen […]. (Forscherin, 11. Mai 2022).

Es konnten keine Informationen zu Fällen von Rückkehrer·innen, die im Iran studiert haben, gefunden werden. Die folgenden Quellen behandeln Informationen bezüglich Verschwindenlassen, Inhaftierung und Folter von Zivilist·innen im Südjemen aufgrund von politischer Opposition beziehungsweise vermuteter Verbindungen zu den Houthis.

Das Büro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) kommt in seiner Position zu Rücksendungen in den Jemen unter Verweis auf verschiedene Quellen zu dem Schluss, dass Personen, die sich am Konflikt beteiligten Parteien widersetzen beziehungsweise als oppositionell wahrgenommen würden, wie unter anderem Journalist·innen, Menschenrechtsaktivist·innen, Richter·innen und andere Beamt·innen der Justiz, Aktivist·innen und Demonstrant·innen, Akademiker·innen und Personen, von denen angenommen werde, dass sie mit rivalisierenden Parteien in Verbindung stehen würden, besonders gefährdet seien, Gewalt oder Missbrauch durch Konfliktparteien zu erfahren (UNHCR, Oktober 2021, S. 10-11).

Die Organisation SAM for Rights and Liberties dokumentiert in einem Bericht vom August 2021 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen im Jemen im Zeitraum von 2015 bis 2021. Laut SAM hätten alle Konfliktparteien im Jemen politische Gegner verschwinden lassen, unter anderem Zivilist·innen, die als politisch oppositionell angesehen worden seien (SAM for Rights and Liberties, August 2021, S. 78). Die von den Vereinigten Arabischen Emiraten aufgestellten Streitkräfte würden in Gebieten unter ihrer Kontrolle in Aden, Hadramaut, Shabwa, Lahij und Abyan nächtliche Razzien, willkürlichen Verhaftungen, gewaltsames Verschwindenlassen und Folter durchführen (SAM for Rights and Liberties, August 2021, S. 86).

Amnesty International (AI) stellt in seinem Bericht zur Menschenrechtslage im Jemen in 2021 folgende Informationen zur Verfügung:

„Alle Konfliktparteien nahmen weiterhin Personen aufgrund ihrer politischen, religiösen oder beruflichen Zugehörigkeit, ihres friedlichen Engagements oder ihres Geschlechts durch Festnahme, Verschwindenlassen oder Folter ins Visier. […]

Anfang 2021 nahmen STC [Southern Transitional Council]-Kräfte in der Stadt Aden zwei Männer willkürlich fest, weil sie den STC kritisiert hatten. Im Mai nahmen Antiterroreinheiten des STC in Aden einen Mann in Gewahrsam, dessen Schicksal Ende des Jahres unklar war. Im September verschleppten STC-Kräfte am Flughafen von Aden vier Universitätsstudenten, die von einer Auslandsreise zurückgekehrt waren. Ende September wurden sie wieder freigelassen.“ (AI, 29. März 2022)

In einem Bericht vom Juli 2018 spezifisch zu gewaltsamem Verschwindenlassen im Südjemen schreibt Amnesty International, dass Familien, ehemalige und aktuelle Häftlinge, Beamt·innen des Innenministeriums, Anwält·innen und andere Amnesty International mitgeteilt hätten, dass viele Verhaftungen willkürlich seien, ohne Haftbefehle oder eine Erklärung, warum Personen festgenommen würden. Unter anderem seien politische Rivalen und Personen, die sich kritisch über die Praktiken der Koalition geäußert hätten, festgenommen worden (AI, 12. Juli 2018, S. 19).

Mwatana for Human Rights schreibt in einem Bericht aus dem Jahr 2020 über Menschenrechte im Jemen, dass im Juni 2020 ein 51-jähriger Mann in der Provinz Aden von Soldaten der Streitkräfte des Südübergangsrates abgeholt und für einen Monat ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert worden sei. Er sei beschuldigt worden, als Spion für die Gruppe Ansar Allah (Houthis) zu arbeiten. Zum Zeitpunkt des Verfassens des Berichts sei der Mann weiterhin in Haft gewesen (Mwatana for Human Rights, 2020, S. 75).

In einem weiteren Bericht vom Juni 2020 beschreibt Mwatana for Human Rights detailliert die von Mai 2016 bis April 2020 in Gefängnissen in Gebieten des Südübergangsrates vorherrschenden Foltermethoden. Der Bericht ist unter folgendem Link zugänglich

·      Mwatana for Human Rights: In the Darkness; Abusive Detention, Disappearance and Torture in Yemen’s Unofficial Prison, May 2016 – April 2020, Juni 2020
https://mwatana.org/wp-content/uploads/2020/06/In-the-Darkness.pdf

Das US Department of State (USDOS) schreibt in seinem Menschenrechtsbericht über Jemen im Jahr 2021, dass mit dem Südübergangsrat verbundene Sicherheitskräfte im September 2021 Abdulmalik al-Sanabani in der Provinz Lahij festgenommen, ausgeraubt, gefoltert und getötet hätten. Medienberichten zufolge hätten die Soldaten Sanabani, der aus den USA in seine Heimatstadt im Norden des Landes zurückkehrt war, verdächtigt die Houthis zu unterstützen (USDOS, 12. April 2022, Section 1a).

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 2. Juni 2022)

·      AI – Amnesty International: Yemen: 'God Only Knows If he's Alive': Enforced disappearance and detention violations in southern Yemen [MDE 31/8682/2018], 12. Juli 2018
https://www.ecoi.net/en/file/local/1438240/1226_1531728288_mde3186822018english.PDF

·      AI – Amnesty International: Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Jemen 2021, 29. März 2022
https://www.ecoi.net/de/dokument/2070320.html

·      Forscherin, Interview, 11. Mai 2022

·      Heinze, Dr. Marie-Christine: E-Mail, 7. Mai 2022

·      Mwatana for Human Rights: In the Darkness; Abusive Detention, Disappearance and Torture in Yemen’s Unofficial Prison, May 2016 – April 2020, Juni 2020
https://mwatana.org/wp-content/uploads/2020/06/In-the-Darkness.pdf

·      Mwatana for Human Rights: Human Rights in Yemen 2020, 2020
https://mwatana.org/wp-content/uploads/2021/09/Human-Rights-in-Yemen-in-2020-En-1.pdf

·      SAM for Rights and Liberties: The Long Absence, A human rights report documenting cases of enforced disappearance in Yemen during the period from 2015 to 2021, August 2021
https://samrl.org/pdf/en/longabsenceEN.pdf

·      UNHCR – UN High Commissioner for Refugees: Position on Returns to Yemen - Update I; UNHCR Position on Returns to Yemen - Update I, Oktober 2021
https://www.ecoi.net/en/file/local/2063008/6171436e4.pdf

·      USDOS – US Department of State: 2021 Country Report on Human Rights Practices: Yemen, 12. April 2022
https://www.ecoi.net/en/document/2071195.html


 

Anhang: Quellenbeschreibungen und Informationen aus ausgewählten Quellen

Amnesty International (AI) ist eine internationale regierungsunabhängige Menschenrechtsorganisation mit Hauptsitz in London.

·      AI – Amnesty International: Yemen: 'God Only Knows If he's Alive': Enforced disappearance and detention violations in southern Yemen [MDE 31/8682/2018], 12. Juli 2018
https://www.ecoi.net/en/file/local/1438240/1226_1531728288_mde3186822018english.PDF

„But families, former and current detainees, Ministry of Interior officials, lawyers, and others have told Amnesty International many arrests have been arbitrary, without warrants or an explanation why individuals are being arrested. Political rivals and voices critical of the coalition’s practices have also been arrested.“ (AI, 12. Juli 2018, S. 19)

Mwatana for Human Rights ist eine im Jemen ansässige Menschenrechtsorganisation.

·      Mwatana for Human Rights: Human Rights in Yemen 2020, 2020
https://mwatana.org/wp-content/uploads/2021/09/Human-Rights-in-Yemen-in-2020-En-1.pdf

„On Saturday, June 6, 2020, at approximately 10:15 am, in the governorate of Aden, a military vehicle (pickup - Toyota) carrying 8 soldiers wearing military uniforms belonging to the UAE [United Arab Emirates]-backed Southern Transitional Council forces intercepted a civilian car carrying Osama Said (pseudonym - 51 years old). The soldiers removed Osama from his car and took him to one of the security services’ prisons, where he was detained incommunicado for a period of one month and accused of ‘spying for Ansar Allah group (Houthis).’

Osama’s brother (49 years old) told Mwatana: ‘Minutes after Osama’s arrest, I received a call from him, informing me of the place of his arrest so I went immediately to visit him. The investigators told me that I could not see him until the completion of the investigation procedures, and a soldier there advised me not to come again to visit my brother lest I would be arrested.’ Osama was still in detention at the time of writing of the present report.“ (Mwatana for Human Rights, 2020, S. 75)

SAM for Rights and Liberties ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Genf, die von einer Gruppe von Menschenrechtsaktivist·innen, Akademiker·innen und Fachleuten in Europa gegründet wurde, die die Menschenrechte im Nahen Osten überwachen und Verstöße dagegen aufzeigen.

·      SAM for Rights and Liberties: The Long Absence, A human rights report documenting cases of enforced disappearance in Yemen during the period from 2015 to 2021, August 2021
https://samrl.org/pdf/en/longabsenceEN.pdf

„The parties to the conflict in Yemen practiced enforced disappearance against their political opponents, whether they were politicians holding political positions in parties or the state, or civilians believed to be loyal to or oppose them in terms of political orientation. As ‘SAM’ for Rights and Liberties verified that most of those who were arbitrarily detained and forcibly disappeared were arrested from their homes through night raids, their workplaces, or were taken from armed security points on the roads at the entrances to cities.“ (SAM for Rights and Liberties, August 2021, S. 78)

„The armed forces established by the United Arab Emirates, a member of the Arab coalition, practiced widespread violations in their areas of control, specifically in Aden, Hadramaut, Shabwa, Lahj and Abyan where the Security Belt Forces in Aden, Lahj and Abyan governorates, and Elite Forces Hadrami in Hadhramaut, and the Shabwani Elite Forces in Shabwa contributed in many violations such as night raids, arbitrary arrests, enforced disappearances, and torture, as well as the so-called counter-terrorism forces and police stations run by people who owe a brigade to the Transitional Council and the UAE [United Arab Emirates].“ (SAM for Rights and Liberties, August 2021, S. 86)

Das Büro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) ist eine Behörde der Vereinten Nationen mit dem Mandat zum Schutz und zur Unterstützung von Flüchtlingen und zur Hilfestellung bei freiwilliger Rückkehr, lokaler Integration und Neuansiedelung in einem Drittland.

·      UNHCR – UN High Commissioner for Refugees: Position on Returns to Yemen - Update I; UNHCR Position on Returns to Yemen - Update I, Oktober 2021
https://www.ecoi.net/en/file/local/2063008/6171436e4.pdf

„Individuals opposing or perceived to be opposing parties to the conflict, including, inter alia, journalists, human rights defenders, judges and other judicial officials, activists and protestors, academics, and those associated or perceived to be associated with rival parties are particularly at risk of being singled out for violations and abuse by parties to the conflict.“ (UNHCR, Oktober 2021, S. 10-11)

Das US Department of State (USDOS) ist das US-Bundesministerium, das für die auswärtigen Angelegenheiten der Vereinigten Staaten zuständig ist.

·      USDOS – US Department of State: 2021 Country Report on Human Rights Practices: Yemen, 12 April 2022
https://www.ecoi.net/en/document/2071195.html

„On September 8, forces aligned with the Southern Transitional Council detained, robbed, tortured, and killed Abdulmalik al-Sanabani in the Tour al-Baha district of Lahj province. According to media reports, the soldiers suspected Sanabani, who was returning to his hometown in the northern part of the country from the United States, of supporting the Houthis. The Southern Transition Council announced the formation of a committee to investigate; it claimed to have arrested the soldiers involved but did not subsequently hold them accountable.“ (USDOS, 12. April 2022, Section 1a)