9. Februar 2012
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1) Wiederherstellung der Familienehre durch Ermordung des vorehelichen Sexualpartners bei der Volksgruppe der Tadschiken
Privatdozent Dr. Lutz Rzehak vom Zentralasien-Seminar des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin nahm in einer E-Mail-Auskunft vom
9. Februar 2012 zu der Frage wie folgt Stellung:
„Die beschriebene Konstellation entspricht zwar nicht dem gängigen Verhaltensmuster von Tadschiken in Kabul, aber es kann auch im Milieu der persischsprachigen Bevölkerung von Kabul (Tadschiken) nicht ausgeschlossen werden, dass jemand die sexuelle Entehrung einer Tochter durch die Tötung der Person zu rächen sucht, der diese Entehrung zugeschrieben wird. Die Situation in Kabul ist heute durch einen Wettbewerb sehr verschiedener Wertesysteme gekennzeichnet, die in einer solchen Situation verschiedene Verhaltensweisen ermöglichen würden. Alle würden aber auf eine Kompensation des durch die Entehrung des Mädchens entstandenen Schadens hinauslaufen. Eine friedliche Konfliktschlichtung würde im Idealfall wahrscheinlich daraus hinauslaufen, eine Eheschließung zwischen dem entehrten Mädchen und der Person anzustreben, der diese Entehrung zugeschrieben wird. Die Tatsache, dass diese Person bereits verheiratet ist, stellt hierbei kein grundlegendes Hindernis dar, weil bis zu vier Frauen geehelicht werden können, wenn jemand hierzu über die finanziellen und materiellen Voraussetzungen verfügt. Wenn der Familienverband des entehrten Mädchens dies nicht wünscht, bliebe die Möglichkeit einer materiellen Kompensation, also eine Entschädigungszahlung mindestens in der Höhe des gängigen Brautpreises oder die Übergabe eines Mädchens im heiratsfähigen Alter aus der Familie des Jungen in die Familie des Mädchens. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass die geschädigte Partei eine Kompensation des durch die Entehrung des Mädchens entstandenen Schadens nur durch die Tötung des Jungen für adäquat erachtet, der hierfür als verantwortlich angesehen wird. Solche Rachemaßnahmen werden in der Regel nicht gegen Kinder gerichtet. Die Frage der Minderjährigkeit (nach Artikel 39 des afghanischen Zivilgesetzkodex gilt jemand mit Vollendung des 18. Lebensjahres als volljährig) spielt hierbei keine Rolle, weil der betreffende Jugendliche in der Wahrnehmung der geschädigten Partei durch sein Verhalten (sexuelle Kontakte) den Schutz von Kindern und Minderjährigen verwirkt hat.“ (Rzehak, 9. Februar 2012)
Weiters enthalten folgende Quellen Informationen zum Thema Wiederherstellung der Familienehre durch Ermordung des vorehelichen Sexualpartners ohne spezifischen Bezug auf die ethnische Gruppe der Tadschiken:
[Textpassage entfernt]
Die New York Times (NYT) berichtet im Juli 2011, dass in Herat ein Junge und ein Mädchen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit, die sich ineinander verliebt hätten, von einer wütenden Menge umringt worden seien und es weiterer Folge zu Gewaltausschreitungen gekommen sei. Die beiden Jugendlichen seien daraufhin von der Polizei inhaftiert worden. Der Vater des Mädchens habe die Behörden aufgefordert, die beiden zu töten:
„The two teenagers met inside an ice cream factory through darting glances before roll call, murmured hellos as supervisors looked away and, finally, a phone number folded up and tossed discreetly onto the workroom floor. It was the beginning of an Afghan love story that flouted dominant traditions of arranged marriages and close family scrutiny, a romance between two teenagers of different ethnicities that tested a village’s tolerance for more modern whims of the heart. The results were delivered with brutal speed. This month, a group of men spotted the couple riding together in a car, yanked them into the road and began to interrogate the boy and girl. Why were they together? What right had they? An angry crowd of 300 surged around them, calling them adulterers and demanding that they be stoned to death or hanged. When security forces swooped in and rescued the couple, the mob’s anger exploded. They overwhelmed the local police, set fire to cars and stormed a police station six miles from the center of Herat, raising questions about the strength of law in a corner of western Afghanistan and in one of the first cities that has made the formal transition to Afghan-led security. The riot, which lasted for hours, ended with one man dead, a police station charred and the two teenagers, Halima Mohammedi and her boyfriend, Rafi Mohammed, confined to juvenile prison. Officially, their fates lie in the hands of an unsteady legal system. But they face harsher judgments of family and community. Ms. Mohammedi’s uncle visited her in jail to say she had shamed the family, and promised that they would kill her once she was released. Her father, an illiterate laborer who works in Iran, sorrowfully concurred. He cried during two visits to the jail, saying almost nothing to his daughter. Blood, he said, was perhaps the only way out. “What we would ask is that the government should kill both of them,” said the father, Kher Mohammed. The teenagers, embarrassed to talk about love, said plainly that they were ready for death. But they were baffled by why they should have to be killed.” (NYT, 30. Juli 2011)
Das deutsche Nachrichtenmagazin Spiegel berichtet am 16. August 2010 über folgenden Vorfall:
„Eine grausame Strafaktion der Taliban zeigt, wie wenig Einfluss Bundeswehr und lokale Polizei rund um Kunduz nur noch haben. Die Aufständischen haben in aller Öffentlichkeit ein junges Paar wegen ‚unsittlichen Verhaltens‘ gesteinigt. […]
Rund hundert Taliban waren mit Motorrädern und ihren umgehängten Waffen in das Dorf gekommen. Sie brachten zwei Gefangene mit: den 28-jährigen Abdul Qayom und die 20-jährige Sedeqa. Der verheiratete Mann und die junge Frau hatten angeblich eine Liebesbeziehung. Anwohner berichten, die Taliban hätten das junge Paar seit Tagen gesucht - wegen ihrer ‚unsittlichen Beziehung‘. Obwohl die beiden mehrmals das Versteck gewechselt hatten, wurden sie schließlich von den Taliban entdeckt. Es war ihr Ende. Beide starben wenig später auf dem Marktplatz von Mullah Qolie. Sie wurden von den Taliban öffentlich gesteinigt.“ (Der Spiegel, 16. August 2010)
Über einen weiteren ähnlichen Vorfall im April 2009 berichtet die Süddeutsche Zeitung (SZ):
„Wegen Übertretung der islamischen Moralgesetze ist in Afghanistan ein junges Paar von den radikalislamischen Taliban erschossen worden. Das Urteil gegen die die 19-jährige Frau und ihren 21-jährigen Freund hatte ein konservativer Klerikerrat in der südwestafghanischen Provinz Nimros gefällt. Beide wurden vor den Augen einer Menschenmenge hingerichtet, wie der Provinzgouverneur Asad mitteilte. Das Paar war aus seinem Heimatort geflohen und wollte in den Iran auswandern. Die Eltern der beiden schickten aber Dorfbewohner los, um sie aufzuhalten und zurückzubringen. Ob sie dann den Taliban übergeben wurden oder von diesen aus den Häusern geholt wurden, war nicht klar. Die afghanische Regierung hat in der abgelegenen Region kaum Einfluss. Die islamisch-fundamentalistische Taliban-Miliz hat dort die Funktion einer Schattenregierung übernommen. Milizführer haben ihren eigenen Polizeieinheiten und ihre eigenen Pseudo-Gerichte.“ (SZ, 14. April 2009)
Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR schreibt in seinen aktuellen deutschsprachigen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom März 2011:
„Personen, die eines Verstoßes gegen die Scharia - wie Blasphemie, Apostasie, Homosexualität oder Ehebruch - bezichtigt werden, sind nicht nur der Gefahr ausgesetzt, Opfer von sozialer Ausgrenzung und Gewalt durch Familien- und Gemeinschaftsangehörige sowie durch die Taliban zu werden, sondern können ebenso strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sein.“ (UNHCR, 24. März 2011, S. 6)
2) Schutz durch Sicherheitsdienste
Die International Crisis Group (ICG) bemerkt in einem Bericht vom November 2010, dass sich das afghanische Justizsystem in einem „katastrophalen“ Zustand befinde. Der Großteil der afghanischen Bevölkerung habe nach wie vor kaum bzw. keinen Zugang Justizeinrichtungen. Viele Gerichte seien unterbesetzt, und die verbliebenen Richter und Staatsanwälte seien anfällig für Korruption. Die Öffentlichkeit habe daher kein Vertrauen in den formalen Justizsektor, und es herrsche eine Atmosphäre der Straflosigkeit:
“Afghanistan’s justice system is in a catastrophic state of disrepair. Despite repeated pledges over the last nine years, the majority of Afghans still have little or no access to judicial institutions. Lack of justice has destabilised the country and judicial institutions have withered to near non-existence. Many courts are inoperable and those that do function are understaffed. Insecurity, lack of proper training and low salaries have driven many judges and prosecutors from their jobs. Those who remain are highly susceptible to corruption. Indeed, there is very little that is systematic about the legal system, and there is little evidence that the Afghan government has the resources or political will to tackle the challenge. The public, consequently, has no confidence in the formal justice sector amid an atmosphere of impunity.” (ICG, 17. November 2010, p. i)
[Passage aus dem Asylbericht des deutschen Auswärtigen Amtes entfernt]
UNHCR schreibt in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom März 2011:
„Die bekannte Praxis der Blutfehde ist in der traditionellen afghanischen Kultur verankert. Blutfehden sind Konflikte zwischen sich bekämpfenden Familien, Stämmen und bewaffneten Gruppen und werden oftmals als Reaktion auf vermeintliche Verletzungen der Ehre von Frauen, von Eigentumsrechten sowie auf Streitfragen hinsichtlich Land und Wasser begonnen. Vergeltung wird durch Tötungen, Körperverletzungen oder im Wege des öffentlichen Anprangerns des Täters oder seiner Familien- oder Stammesangehörigen angestrebt. Blutfehden können zu einem langandauernden, über Generationen hinweg bestehenden Konflikt mit einem Kreislauf aus Gewalt und Vergeltung zwischen den Beteiligten führen. Die Tatsache, dass ein Streit durch formelle Justizmechanismen beigelegt worden ist, führt üblicherweise zu keiner Beendigung einer Blutfehde.“ (UNHCR, 24. März 2011, S. 11)
Amnesty International (AI) hält in einem Bericht vom Oktober 2011 fest, dass die afghanische Regierung einige Fortschritte bei der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der Justiz erzielt habe. Im Justiz- und Sicherheitssektor herrsche weiterhin Mangel an Personal, Infrastruktur, Ausbildung und am politischem Willen, den Schutz von Menschenrechten zu gewährleisten. Die Afghan National Police (ANP), die aus 126.000 Beamten bestehe, sei schlecht bezahlt und ausgebildet und wegen ihrer korrupten und missbräuchlichen Praktiken bekannt. Da die Reformen hauptsächlich auf die Erhöhung der Rekrutenzahlen abgezielt hätten, habe die Qualität der Rekrutierung und der Ausbildungsprogramme gelitten, sodass die Polizeikräfte beim Vollzug und bei der Gewährleistung grundlegender Sicherheiten wenig effektiv seien:
“The Afghan government has made some progress in strengthening the rule of law and delivery of justice by drafting and promulgating new laws and legal procedures; the training of several hundred judges and prosecutors; introducing representation of defendants by defence lawyers; and the creation of a national bar association. But judicial and security sectors still lack the personnel, infrastructure, training and political will to respect, protect and promote human rights. Most Afghans, and in particular women, have difficulty accessing the formal judiciary courts and legal assistance, and instead, in some 80 percent of disputes, have to rely on informal tribal councils, which abuse fair trial rights and are often discriminatory against women.
- The Taleban and other insurgent groups have used this “justice deficit” to criticize the government and impose their own harsh rules.
- The Afghan National Police, which has some 126,000 personnel today, is poorly paid and trained and notorious for corrupt and abusive practices. Illiteracy, drug abuse and desertion are rampant among its ranks (nearly 20,000 police left the force in 2010).
- The emphasis on building up the numbers of recruits has undermined the quality of recruitment and training programmes, making for a police force that is weak in law enforcement and delivering basic security. In parts of the country the police are seen as a greater source of insecurity than the Taleban, undermining the authority and legitimacy of the central government.” (AI, 5. Oktober 2011)
In seinem Länderbericht zur Menschenrechtslage in Afghanistan vom April 2011 (Berichtsjahr 2010) bemerkt das US Department of State (USDOS), dass das Gesetz eine unabhängige Justiz vorsehe. In der Praxis sei die Justiz unterfinanziert, unterbesetzt und von politischer Einflussnahme und weit verbreiteter Korruption geprägt. Die Unabhängigkeit der Justiz werde bedroht durch Bestechung, Korruption und Druck, der von Regierungsbeamten, Stammesführern und Familien von Angeklagten, sowie Personen, die mit der Aufstandsbewegung in Verbindung gebracht würden, ausgeübt werde. Das formale Justizwesen sei in den urbanen Zentren, wo der Einfluss der Zentralregierung am stärksten sei, relativ stark. In den ländlichen Regionen sei es schwächer ausgeprägt. Landesweit seien voll funktionsfähige Gerichte, Polizeikräfte und Gefängnisse selten:
“The law provides for an independent judiciary, but in practice the judiciary often was underfunded, understaffed, and subject to political influence and pervasive corruption. Bribery, corruption, and pressure from public officials, tribal leaders, families of accused persons, and individuals associated with the insurgency threatened judicial impartiality. […] The formal justice system was relatively strong in the urban centers, where the central government was strongest, and weaker in the rural areas, where approximately 72 percent of the population lived. Nationwide, fully functioning courts, police forces, and prisons were rare. The judicial system lacked the capacity to handle the large volume of new and amended legislation. A lack of qualified judicial personnel hindered the courts. Municipal and provincial authorities, including judges, had minimal training and often based their judgments on their personal understanding of Sharia, tribal codes of honor, or local custom.” (USDOS, 8. April 2011, Section 1e)
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 9. Februar 2012)
· AA – Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 10. Jänner 2012
· AI – Amnesty International: Afghanistan ten years on: Slow progress and failed promises, Oktober 2011
· Berrenberg, Jeanne: E-Mail-Auskunft, 26. Februar 2010
· ICG - International Crisis Group: Reforming Afghanistan’s Broken Judiciary, 17. November 2010 (verfügbar auf ecoi.net)
· NYT – New York Times: In Afghanistan, Rage at Young Lovers, 30. Juli 2011
· Rzehak, Lutz: E-Mail-Auskunft, 9. Februar 2012
· Der Spiegel: Taliban steinigen Paar nahe Bundeswehrlager, 16. August 2010
· SZ – Süddeutsche Zeitung: Taliban erschießen junges Paar, 14. April 2009
· UNHCR – UN High Commissioner for Refugees: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 24. März 2011 (zusammenfassende Übersetzung der UNHCR Eligibility Guidelines vom Dezember 2010) (verfügbar auf ecoi.net)
· USDOS - US Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2010 - Afghanistan, 8. April 2011 (verfügbar auf ecoi.net)