Anfragebeantwortung a-7871 vom 7. Februar 2012 – NACHTRAG vom 10. Februar 2012
Afghanistan: 1) Wiederherstellung der Familienehre durch Ermordung des vorehelichen Sexualpartners bei der Volksgruppe der Tadschiken
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Die in der Anfragebeantwortung angekündigte Expertenauskunft ist eingelangt:
Privatdozent Dr. Lutz Rzehak vom Zentralasien-Seminar des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin nahm in einer E-Mail-Auskunft vom 9. Februar 2012 wie folgt zu der Frage Stellung:
„Die beschriebene Konstellation entspricht zwar nicht dem gängigen Verhaltensmuster von Tadschiken in Kabul, aber es kann auch im Milieu der persischsprachigen Bevölkerung von Kabul (Tadschiken) nicht ausgeschlossen werden, dass jemand die sexuelle Entehrung einer Tochter durch die Tötung der Person zu rächen sucht, der diese Entehrung zugeschrieben wird. Die Situation in Kabul ist heute durch einen Wettbewerb sehr verschiedener Wertesysteme gekennzeichnet, die in einer solchen Situation verschiedene Verhaltensweisen ermöglichen würden. Alle würden aber auf eine Kompensation des durch die Entehrung des Mädchens entstandenen Schadens hinauslaufen. Eine friedliche Konfliktschlichtung würde im Idealfall wahrscheinlich daraus hinauslaufen, eine Eheschließung zwischen dem entehrten Mädchen und der Person anzustreben, der diese Entehrung zugeschrieben wird. Die Tatsache, dass diese Person bereits verheiratet ist, stellt hierbei kein grundlegendes Hindernis dar, weil bis zu vier Frauen geehelicht werden können, wenn jemand hierzu über die finanziellen und materiellen Voraussetzungen verfügt. Wenn der Familienverband des entehrten Mädchens dies nicht wünscht, bliebe die Möglichkeit einer materiellen Kompensation, also eine Entschädigungszahlung mindestens in der Höhe des gängigen Brautpreises oder die Übergabe eines Mädchens im heiratsfähigen Alter aus der Familie des Jungen in die Familie des Mädchens. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass die geschädigte Partei eine Kompensation des durch die Entehrung des Mädchens entstandenen Schadens nur durch die Tötung des Jungen für adäquat erachtet, der hierfür als verantwortlich angesehen wird. Solche Rachemaßnahmen werden in der Regel nicht gegen Kinder gerichtet. Die Frage der Minderjährigkeit (nach Artikel 39 des afghanischen Zivilgesetzkodex gilt jemand mit Vollendung des 18. Lebensjahres als volljährig) spielt hierbei keine Rolle, weil der betreffende Jugendliche in der Wahrnehmung der geschädigten Partei durch sein Verhalten (sexuelle Kontakte) den Schutz von Kindern und Minderjährigen verwirkt hat.“ (Rzehak, 9. Februar 2012)
Quellen:
· Rzehak, Lutz: E-Mail-Auskunft, 9. Februar 2012