Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von Witwen (Schutz, Arbeit, Wohlfahrtsstrukturen) [a-9795]

26. August 2016

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

Bitte beachten Sie, dass die in dieser Anfragebeantwortung enthaltenen Übersetzungen aus dem Norwegischen unter Verwendung von technischen Übersetzungshilfen erstellt wurden. Es besteht daher ein erhöhtes Risiko, dass diese Arbeitsübersetzungen Ungenauigkeiten enthalten.

 

Der afghanische Nachrichtensender Tolo News berichtet im Juni 2016 unter Verweis auf Statistiken des afghanischen Ministeriums für Arbeit, Soziales, Märtyrer und Behinderte (Englisch: Ministry of Labor, Social Affairs, Martyrs and Disabled, MoLSAMD), dass es in Afghanistan 500.000 Witwen gebe (Tolo News, 23. Juni 2016).

 

Naheed Esar, Forscherin beim Afghanistan Analysts Network (AAN)[1], schrieb indes in einem Artikel vom Mai 2015, dass es keine aktuellen offiziellen statistischen Daten zur Zahl von Witwen in Afghanistan gebe. Doch würden sowohl die Nichtregierungsorganisation Care als auch die Vereinten Nationen die Zahl der Witwen auf mehr als zwei Millionen schätzen. UN Women würde sogar von zwei Millionen Kriegswitwen sprechen. (Esar, 7. Mai 2015)

 

Ähnlich bemerkt das US-Magazin National Geographic in einem Artikel vom Dezember 2015, dass es in Afghanistan aufgrund des langjährigen Konfliktes mehr als 2,5 Millionen Witwen gebe. Laut Paula Bronstein, einer US-Fotojournalistin, die seit 2001 zu Afghanistan berichte und kürzlich ein Fotoprojekt mit dem Titel „War Widows of Afghanistan“ durchgeführt habe, würden allein in Kabul zwischen 50.000 und 70.000 Kriegswitwen leben. (National Geographic, 7. Dezember 2015)

 

Ähnlich schreibt auch der deutsche Auslandsrundfunksender Deutsche Welle (DW) in einem Artikel vom Jänner 2013, dass in Afghanistan rund 2,5 Millionen Witwen leben würden, von denen bis zu 70.000 in Kabul ansässig seien. Damit würden Witwen fast zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes ausmachen. (DW, 30. Jänner 2013)

Schutz

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) hält in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom April 2016 Folgendes bezüglich der Gefährdungslage und Existenzmöglichkeiten von Witwen fest:

„Frauen ohne Unterstützung und Schutz durch Männer wie etwa Witwen sind besonders gefährdet. Angesichts der gesellschaftlichen Normen, die allein lebenden Frauen Beschränkungen auferlegen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit und auf Erwerbsmöglichkeiten, sind sie kaum in der Lage zu überleben.“ (UNHCR, 19. April 2016, S. 72)

Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) schreibt in ihrem im Februar 2015 erschienenen Jahresbericht zum Schutz von ZivilistInnen im bewaffneten Konflikt (Berichtsjahr 2014), dass Frauen, die nach dem Tod bzw. der Verwundung ihrer Ehemannes als Alleinverdienende zurückgelassen würden, an langfristigen negativen sozioökonomischen Folgen leiden würden und zudem anfällig seien, Opfer von anderen Formen von Gewalt bzw. Misshandlung zu werden. UNAMA habe eine Umfrage unter 60 Witwen durchgeführt. Mehr als ein Viertel von diesen habe angegeben, nach dem Tod ihres Ehemannes zum Ziel von Gewalt (seitens der Verwandtschaft und der weiteren Gemeinschaft) geworden zu sein. Zu den am häufigsten berichteten Formen von Gewalt hätten gezählt: Beschimpfungen, Vertreibung aus dem Familienhaus, erzwungene Wiederverheiratung, körperliche Gewalt und gesellschaftliche Ausgrenzung. In vielen Fällen habe diese Gewalt bereits wenige Tage nach dem Tod des Ehemannes eingesetzt und sei am häufigsten von der Familie des verstorbenen Ehemannes ausgegangen. Interviewpartnerinnen hätten UNAMA gegenüber erklärt, dass die Gewaltbereitschaft darauf zurückzuführen sei, dass Frauen und deren Kinder nach dem Tod der Ehemänner (bzw. des Vaters) als ökonomische Last empfunden würden. Nach demselben Muster würden Verwandte Witwen dazu zwingen, ihre Töchter zu verheiraten. Obwohl mehr als die Hälfte der interviewten Witwen erklärt hätten, dass sie in der Lage seien, ihr Haus ohne Begleitung zu verlassen, hätten viele andere erwähnt, dass sie seit dem Tod ihres Ehemannes in ihrer Bewegungsfreiheit stärker eingeschränkt seien und nur in Begleitung eines männlichen Verwandten außer Haus gehen könnten. Mehrere Witwen hätten erklärt, dass sie den Eindruck hätten, dass sie seit dem Tod ihres Ehemannes innerhalb der Gemeinschaft bzw. der Gesellschaft an Ansehen verloren hätten und als Last wahrgenommen würden. Trotz dieser Einschränkungen hätten mehrere Witwen berichtet, dass ihr Umfeld Verständnis für ihre neue Situation zeige. Die meisten Interviewpartnerinnen hätten angegeben, dass sie von ihrer Umgebung geduldet bzw. unterstützt würden. Einige der Frauen hätten jedoch berichtet, dass ihre Umgebung ihnen gegenüber mit großer Mehrheit ablehnend eingestellt sei. Ein Viertel der befragten Frauen habe angegeben, bei einer Einrichtung bzw. karitativen Organisation um Unterstützung angesucht zu haben. Doch nur eine Frau habe berichtet, dass sie eine positive Antwort auf ihr Ansuchen erhalten habe. Auf die Frage, welche Formen der Unterstützung sie am dringendsten benötigen würden, hätten die interviewten Frauen geantwortet, dass sie (in absteigender Priorität) finanzielle Unterstützung, Nahrungsmittel, Heizmittel bzw. Feuerholz, Wohnraum und Unterstützung für die Ausbildung der Kinder benötigen würden. (UNAMA, Februar 2015, S. 15-16)

 

Ein im Juli 2015 in der deutschen Tageszeitung (taz) erschienener Artikel, der auf dem bereits oben zitierten Bericht der AAN-Forscherin Naheed Esar basiert, merkt bezüglich des gesellschaftlichen Status von Witwen an, der sich auch auf ihren Schutz auswirke:

„Frauen in Afghanistan werden über Männer definiert. Vor der Hochzeit ist eine Frau die Tochter des Vaters, danach die Ehefrau des Mannes. Sie ist Besitz, sogar Ware, und sie verkörpert die ‚Ehre‘ der Familie, die unbedingt beschützt werden muss. Verwitwete Frauen werden deshalb in den Augen der Gesellschaft zu Frauen ‚ohne Identität‘ – und damit ohne Schutz; sie werden zu deg-e be-sarposch – Töpfen ohne Deckel. Witwen gelten als wirtschaftliche Belastung. Diese Einstellung verstärkt sich noch in Kriegszeiten, wenn Familien unter zusätzlichem Druck geraten.“ (Taz, 18. Juli 2015)

AAN-Forscherin Naheed Esar schreibt in ihrem Artikel vom Mai 2015 unter Verweis auf die US-Nichtregierungsorganisation „Beyond the 11th“, die sich für Witwen in Afghanistan einsetzt, dass Witwen im Vergleich zu verheirateten Frauen oder auch Männern einen höheren Risiko psychischer Probleme oder psychosozialer Einschränkungen ausgesetzt seien, die oftmals etwa auf gesellschaftliche Ausgrenzung, Zwangsverheiratung oder geschlechtsspezifische Gewalt zurückzuführen seien. (Esar, 7. Mai 2015)

 

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union, deren Ziel es ist, die praktische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Asylbereich zu fördern, schreibt im Jänner 2016 speziell mit Bezug auf Distrikte in der Provinz Nangarhar, die sich unter der Kontrolle der Gruppe Islamischer Staat (IS) befänden (dies betreffe die Distrikte Kot, Achin und Dehbala), dass dort Familien unter anderem gezwungen würden, „verfügbare Frauen“, d.h. Witwen und unverheiratete Frauen, gegenüber dem IS klar als solche erkennbar zu machen. (EASO, Jänner 2016, S. 109)

 

Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem Länderbericht zur Menschenrechtslage vom April 2016 (Berichtsjahr 2015) (in Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen/häuslicher Gewalt), dass Frauen, die nicht mit ihren Familien wiedervereinigt werden könnten bzw. unverheiratet seien, gezwungen seien, auf unbestimmte Zeit in Schutzunterkünften zu bleiben, da „unbegleitete Frauen“ in der Gesellschaft häufig nicht akzeptiert würden (USDOS, 13. April 2016, Section 6).

 

Bezüglich der Rolle von Verwandten des verstorbenen Ehemannes in Bezug auf Witwen und deren Kinder schreibt Matt Zeller, Fellow an der in Washington ansässigen Denkfabrik Truman National Security Project, in einem im September 2012 veröffentlichten Artikel für die US-amerikanische Onlinezeitung Huffington Post, dass wenn ein afghanischer Mann sterbe, die Verantwortung, sich um dessen Kinder zu kümmern, an den nächsten lebenden Verwandten des Mannes, für gewöhnlich einen der Brüder, übergehe (Zeller, 12. September 2012).

 

Mehrere Quellen berichten über die (auch zwangsweise) Wiederverheiratung von Witwen mit einem männlichen Verwandten des verstorbenen Ehemannes (Levirat). So bemerkt ein älterer UNAMA-Bericht vom Dezember 2010, dass Frauen als Eigentum ihrer eingeheirateten Familie gelten würden und die Zwangsheirat einer Witwe mit einem Verwandten ihres verstorbenen Ehemannes teilweise auf diese Haltung zurückzuführen sei. Eine solche Heirat sei aber oftmals auch ein Mittel, um die Erbschaft der Witwe in der Familie zu behalten. Im Gegensatz zu nationalem und internationalem Recht sowie zum Scharia-Recht, wo beidseitiges Einverständnis als Voraussetzung für eine Ehe vorgesehen sei, müsse die betroffene Frau daher gegen ihren Willen heiraten. Wenn eine Witwe nicht erneut innerhalb der gleichen Familie heirate, würde sie oft riskieren, ihre Kinder zu verlieren. Nach dem afghanischen Zivilgesetzbuch liege die Vormundschaft für die Kinder ab einem gewissen Alter (neun Jahre für Mädchen und sieben Jahre für Burschen) beim Vater. Im Fall von Scheidung oder Tod des Vaters verfüge die Familie des Vaters über die Vormundschaft der Kinder. Aufgrund der mangelnden Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der eigenen Zukunft von Frauen hätten diese nur begrenzt andere Möglichkeiten. In einigen Provinzen sei berichtet worden, dass Witwen ihr Erbe entzogen worden sei, in der Regel durch Zwangsverheiratung mit einem anderen männlichen Verwandten. (UNAMA, 9. Dezember 2010, S. 27)

 

Lutz Rzehak, Privatdozent am Zentralasien-Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin, erklärt in einer E-Mail-Auskunft an ACCORD vom 7. April 2016 Folgendes zu Zwangsehen von Witwen und geht dabei auf die Rolle der Kinder in einer solchen Zwangsehe ein:

„Es handelt sich um einen Brauch, der in der ethnologischen Literatur als Levirat bezeichnet wird. Danach wird eine Witwe notfalls auch gegen ihren Willen an einen männlichen Verwandten (in patrilinearer Abstammung) ihres verstorbenen Ehemannes weiterverheiratet. Das dient vor allem dem Zweck, die Kinder, die der verstorbene Mann gezeugt hat und die als Mitglieder seiner patrilinearen Verwandtschaftsgruppe gelten, in dieser Verwandtschaftsgruppe zu behalten. Würde die Witwe einen fremden Mann heiraten, würde diese Verwandtschaftsgruppe die Hoheit über diese Kinder verlieren. Hinzu kommen gegebenenfalls wirtschaftliche Aspekte. Bei der Eheschließung wurde durch die Verwandtschaftsgruppe des verstorbenen Mannes sehr wahrscheinlich ein Brautgeld bezahlt. Auch das kann Motivation dafür sein, die Witwe in der Verwandtschaftsgruppe des Mannes zu behalten. Der Brauch des Levirats ist in Afghanistan im Prinzip bei allen Völkerschaften verbreitet, auch wenn er nicht überall gleich streng gehandhabt wird. Unterschiede bestehen am ehesten zwischen ländlichem und urbanem Raum. […] Die Kinder eines verstorbenen Mannes gehören nach allgemeiner Auffassung auch nach dem Tod ihres Vaters zu dessen patrilinearer Verwandtschaftsgruppe. Das ist Brauch.“ (Rzehak, 7. April 2016)

Melissa Kerr Chiovenda, eine in der USA tätige Anthropologin, schreibt in einer E-Mail-Auskunft an ACCORD vom 9. April 2016 ebenfalls über den Brauch des „Levirat“. Diese Tradition sei zwar bei ethnischen Paschtunen weiter verbreitet, es komme aber auch bei den Hazara vor, dass eine Witwe den Bruder ihres verstorbenen Ehemannes heiraten müsse, obwohl solche Zwangsehen im Koran verboten seien. Bei den Hazara sei eine solche Hochzeit zwar nicht so oft ein Erfordernis, das Leben für Witwen sei jedoch extrem schwierig. In manchen Fällen sei es daher für die Witwen notwendig, den Bruder ihres verstorbenen Mannes zu heiraten, selbst wenn dieser bereits verheiratet sei. In solchen Fällen könne man von Zwang durch Notwendigkeit sprechen. Es gebe auch eine generelle kulturelle „Paschtunisierung“ der Gesellschaft in Afghanistan und es sei daher durchaus plausibel, dass Frauen anderer Volksgruppen zu einer solchen Ehe gezwungen würden. In einer patriarchischen Gesellschaft wie Afghanistan müsse der Sohn der Witwe auch dem Onkel gehorchen, was zum Beispiel dessen Schulbildung, Art der Arbeit sowie Wahl einer Ehefrau betreffe. Da die afghanische gesellschaftliche Ordnung so abhängig von der Familie sei, sei es fast unmöglich für jemanden alleine und ohne familiäre Zustimmung seinen eigenen Weg zu gehen. (Kerr Chiovenda, 9. April 2016)

 

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo erwähnt in einem im Februar 2014 veröffentlichten Bericht zur Lage von Kindern und Jugendlichen, dass es in muslimischen Gesellschaften üblich sei, verlassene Kinder oder Kinder, die einen Elternteil oder beide Elternteile verloren hätten, als Waisen zu bezeichnen. So werde ein Kind, das seinen Vater verloren habe, als „yatim“ bezeichnet, ein Begriff, der auch zur Bezeichnung eines Waisenkindes verwendet werde. Ein Kind, das lediglich seine Mutter verloren habe, werde hingegen als „yasir“ bezeichnet, was nicht gleichbedeutend mit einem Waisenkind sei. (Landinfo, 21. Februar 2014)

 

Auch der UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes (UN Committee on the Rights oft he Child, CRC) erwähnt in einem Bericht vom April 2011, dass Kinder nach Verlust ihres Vaters oftmals als Waisen angesehen würden und es vorkommen könne, dass diese Kinder von ihrer Mutter getrennt würden, insbesondere dann, wenn diese nicht bereit sei, ein männliches Mitglied der Familie ihres verstorbenen Ehemannes zu heiraten (CRC, 8. April 2011, S. 9).

 

Informationen zur Situation von Waisenkindern in Afghanistan entnehmen Sie bitte folgender Anfragebeantwortung vom August 2015:

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von Waisenkindern (u.a. staatliche und private Fürsorgemöglichkeiten; spezielle Risiken) [a-9313], 26. August 2015 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/313539/451824_de.html

Zugang zu Arbeit

Das US-Magazin National Geographic zitiert im bereits oben angeführten Artikel vom Dezember 2015 die US-Fotojournalistin Paula Bronstein mit der Aussage, dass die meisten Kriegswitwen, mit denen sie im Rahmen ihres Projektes „War Widows of Afghanistan“ gesprochen habe, angegeben hätten, dass sie keine Ausbildung hätten. Dies lasse ihnen kaum andere Erwerbsmöglichkeiten als betteln zu gehen oder als Putzkräfte zu arbeiten. Viele dieser Frauen würden mangels Geld und Unterstützung mit ihren Kindern in extremer Armut leben. In manchen Fällen würde ein Verwandter ihres verstorbenen Ehemannes sie aus Respekt heiraten. Doch viele andere Witwen seien auf sich allein gestellt. (National Geographic, 7. Dezember 2015)

Der afghanische Nachrichtensender Tolo News berichtet im Juni 2016, dass von insgesamt 500.000 Witwen im Land 70.000 als alleinige Geldverdiener ihre Familien ernähren würden. Rund 50 Prozent von ihnen würden mit Handarbeit ihr Geld verdienen, weitere 37 Prozent seien in Büros tätig. (Tolo News, 23. Juni 2016)

 

Naheed Esar vom Afghanistan Analysts Network (AAN) schreibt in ihrem Artikel vom Mai 2015 unter Verweis auf die US-Nichtregierungsorganisation „Beyond the 11th“, dass rund 94 Prozent aller Witwen in Afghanistan nicht lesen und schreiben könnten. Witwen seien einem erhöhten Risiko ausgesetzt, etwa aufgrund fehlender Möglichkeiten in den Bereichen Erwerbstätigkeit oder Bildung psychische Probleme zu entwickeln oder mit psychosozialen Einschränkungen leben zu müssen. (Esar, 7. Mai 2015)

 

Esar schreibt weiters unter Berufung auf VertreterInnen des Ministeriums für Frauenangelegenheiten (Englisch: Ministry of Women’s Affairs, MOWA), dass Wohnraum, Nahrungsmittel, das Verdienen des Lebensunterhaltes durch Erwerbstätigkeit und sozialer Schutz zu den dringendsten Anliegen von Witwen gehören würden. Um zu überleben, würden viele Witwen Teppiche weben, nähen, betteln oder sogar in die Prostitution gehen. Nach wie vor fehle es ihnen an starker Unterstützung durch den Staat oder die Gemeinschaft. (Esar, 7. Mai 2015)

 

Die regierungsunabhängige Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) schreibt indes in einer älteren Analyse vom Dezember 2011 mit Verweis auf einen Artikel der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), dass es „in Afghanistan schlicht nicht möglich [sei], als alleinstehende Frau eine Wohnung zu mieten oder sich mit Arbeit durchzuschlagen“ (SFH, 15. Dezember 2011).

 

Die UNAMA schreibt in ihrem im Februar 2015 erschienenen Jahresbericht zum Schutz von ZivilistInnen im bewaffneten Konflikt (Berichtsjahr 2014), dass viele Frauen, die nach dem Tod oder einer Verwundung ihres Ehemannes als Alleinverdiener dastehen würden, aufgrund von Armut unter anderem dazu gezwungen seien, ihre Töchter zu verheiraten und ihre Kinder aus der Schule zu nehmen, um sie arbeiten zu lassen. (UNAMA, Februar 2015, S. 3)

 

Die UNAMA schreibt weiter, dass alle von ihr interviewten 60 Witwen angegeben hätten, dass sich ihre finanzielle Situation, seit dem Tod bzw. der Verwundung ihres Ehemannes erheblich verschlechtert habe. Nur eine der 60 Witwen sei bereits vor dem Tod ihres Mannes angestellt gewesen. Mehrere Frauen hätten angegeben, dass sie seit dem Tod ihres Ehemannes für einen geringen Lohn etwa als Putzkräfte oder Haushaltsangestellte arbeiten würden. Die meisten Frauen hätten jedoch keine Arbeit gefunden. Ein Drittel der befragten Witwen habe angegeben, eine Form von staatlicher finanzieller Unterstützung erhalten zu haben, wobei es sich zumeist um eine einmalige Zahlung und nicht um einen regelmäßigen ausbezahlten Betrag handle. Die meisten Witwen wüssten nicht, wie sie Zugang zu den vom Ministerium für Arbeit und Soziales bzw. vom Büro des Präsidenten angebotenen finanziellen Unterstützungen erhalten würden und seien der Ansicht, dass diese Gelder nur gut vernetzten Angehörigen der Elite zur Verfügung stünden. Nur ein Viertel der Befragten sei in der Lage, ohne finanzielle Unterstützung von außen für ihre Familie zu sorgen. Die Mehrheit der Witwen sei, was ihren Lebensunterhalt betreffe, gänzlich oder teilweise von ihrer Familie (bzw. noch häufiger von der Familie des verstorbenen Ehemannes) abhängig. Vielen sei indes der Zugang zum Eigentum ihres Ehemannes gänzlich verweigert worden. Einige Frauen hätten zwar die Erlaubnis zur Nutzung dieses Eigentums, seien sich jedoch ihrer Rechte in Bezug auf Erbschaft und Eigentum nicht bewusst. (UNAMA, Februar 2015, S. 15-16)

 

Lacuna Magazine, ein britisches Online-Magazin mit Fokus auf Menschenrechtsthemen, bemerkt in einem Artikel vom Juli 2015, dass einer Witwe gemäß Scharia-Recht nur ein Achtel vom Erbe ihres verstorbenen Ehemannes zustehe, wenn dieser Kinder gehabt habe. Seien keine Kinder vorhanden, erhalte die Witwe ein Viertel des Erbes. Der Rest des Erbes werde unter den anderen Familienmitgliedern aufgeteilt. (Lacuna, Juli 2015)

 

Das FATA Research Centre, eine (vermutlich) private Forschungseinrichtung mit Sitz in Pakistan, über die nur wenige Informationen gefunden werden konnten, schreibt in einem Beitrag in dem von der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Juli 2016 herausgegebenen Dossiers „AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur“ Folgendes über die Erbansprüche von Witwen nach dem Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen (Paschtunwali) sowie dem Scharia-Recht:

„Das Pashtunwali besagt, dass im Todesfall das Miras (Erbe) zu gleichen Teilen an die Söhne des Verstorbenen verteilt wird. Wenn die Söhne nicht am Leben sind, geht das Erbe an die Brüder; wenn die Brüder tot sind, geht es an die Söhne der Brüder oder an die männlichen Abkömmlinge eines gemeinsamen Großvaters. Lebt keiner von ihnen, fällt das Erbe an den Stamm. Die Shaza (Ehefrau) erhält kein Miras, sondern ist ein Bestandteil davon. Sie muss mit ihrem Schwager oder dem Tarboor (Cousin) verheiratet werden. Eine Frau in dieser Lage heißt Kunda (Witwe). Der Brauch wird durch ein paschtunisches Sprichwort verdeutlicht: ‚Kunda da kam da‘ (die Witwe gehört (zu) dem Stamm). Nach der Scharia erben diejenigen, für die im Heiligen Buch Anteile am Nachlass festgelegt sind. Die Erben sind u.a. Vater, Mutter, Ehemann, Ehefrau, Tochter usw. Die Scharia sieht Erbanteile von 1/2, 1/4, 1/6 und 1/8 vor, je nach Stellung und Beziehung der Erben zum Verstorbenen. Wenn er sowohl Söhne als auch Töchter hinterlassen hat, ist das Vermögen so aufzuteilen, dass der Sohn das Doppelte des Anteils der Tochter erhält. Hat der Verstorbene nur eine Tochter hinterlassen, fällt ihr die Hälfte des Nachlasses zu, die andere Hälfte würde unter den übrigen Erben aufgeteilt. Gibt es mehr als eine Tochter, erhält jede 2/3 des Nachlasses und jeder Elternteil 1/6.“ (BFA Staatendokumentation, Juli 2016, S. 54)

Wohlfahrtsstrukturen

Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) schreibt in ihrem im Februar 2016 erschienenen Jahresbericht zum Schutz von ZivilistInnen im bewaffneten Konflikt (Berichtsjahr 2015), dass es weiterhin Berichte darüber gebe, dass die Regierung weiterhin nur in eingeschränkten Maße fähig sei, Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand, die aufgrund des Konfliktes den primären Versorger verloren hätten, angemessen zu unterstützen bzw. diese Haushalte anzuerkennen (UNAMA, Februar 2016, S. 14).

 

Die US-Tageszeitung Wall Street Journal (WSJ) schreibt in einem Artikel vom November 2015, dass es vielen Witwen an Unterstützung durch Verwandte fehle. Da Frauen nur selten außerhalb des Hauses arbeiten würden, hätten nur wenige Frauen Erwerbsaussichten. Und jene, die Anspruch auf staatliche Unterstützung hätten, seien sich dessen oft nicht bewusst. Das afghanische Ministerium für Arbeit, Soziales, Märtyrer und Behinderte (MoLSAMD) zahle nach eigenen Angaben Hilfsgelder an rund 80.000 Kriegswitwen, die sich zu deren Erhalt angemeldet hätten. So hätten Ehefrauen von gefallenen Soldaten, Polizisten und anderen Regierungsbediensteten Anspruch auf eine regelmäßige Rente in Höhe des Einkommens ihres verstorbenen Ehemannes, während Witwen von Zivilisten, die bei Angriffen getötet worden seien, Anspruch auf eine monatliche Rente in Höhe von 5.000 Afghani [rund 66 Euro nach derzeitigem Wechselkurs] hätten. Doch die Zahl derer, die solche Zahlungen erhalten würden, liege weit unter der tatsächlichen Zahl von Frauen, deren Männer aufgrund des Krieges ums Leben gekommen seien. Und die Höhe der tatsächlich ausbezahlten Gelder liege zuweilen unterhalb dessen, worauf sie Anspruch hätten. Ein Sprecher des oben genannten Ministeriums habe angegeben, dass viele Witwen nicht beim Ministerium gemeldet seien. Weiters würden Witwen mitunter Opfer von gängigen Betrugstaktiken, bei denen Mittelsmänner ihnen gefälschte Anmeldekarten verkaufen und das Geld für sich behalten würden. Nach Angaben des Ministeriumssprechers gehe die Regierung gegen derartige Betrugsformen vor.

Weiters berichtet das WSJ über den Fall einer Witwe, die nach dem Tod ihres Ehemannes zwar eine monatliche Rente in Höhe von 7.500 Afghani [rund 99 Euro nach derzeitigem Wechselkurs] erhalten habe. Diese Zahlungen hätten allerdings ein Jahr später aufgehört (Den Grund hierfür würden auch die Behörden nicht kennen). Daher sei sie gezwungen gewesen, ihre Brüder um finanzielle Unterstützung bitten, um ihre Kinder ernähren zu können.

Ferner berichtet der Artikel über eine zweifache Witwe, die ein bescheidenes Gehalt aus ihrer Tätigkeit als Kindergärtnerin sowie vom Staat eine monatliche Rente in Höhe von 80 US-Dollar [rund 71 Euro nach derzeitigem Wechselkurs] beziehe. Dies sei ausreichend, um für die und ihre Kinder die Miete zu bezahlen. Dennoch sei sie besorgt um ihre Zukunft, da nun (im Gegensatz zur der Zeit, als ihr zweiter Ehemann noch am Leben war), nicht absehbar sei, was mit ihr und ihren Kindern passieren würde.

Eine weitere Frau habe, als sie Witwe geworden sei, zwei ihrer Söhne aus der Schule genommen und zum Arbeiten auf die Straße geschickt. Sie würden mit Kaugummi hausieren. (WSJ, 3. November 2015)

 

Die deutsche Tageszeitung Handelsblatt geht in einer Reportage vom Mai 2016 wie folgt auf die Versorgungslage von Witwen durch den Staat bzw. durch familiäre Netzwerke ein:

„Denn der Staat hilft den Witwen nicht. Der Aufbau eines funktionierenden Sozialsystems stand nie im Mittelpunkt der internationalen Aufbaubemühungen. Das zuständige Ministerium für Arbeit, Soziales und Märtyrer gehört, mit anderen ‚sozialen‘ Ministerien wie dem Flüchtlingsministerium, zu den am schlechtesten organisierten des Landes. Kein Geld, wenig Motivation, noch weniger Fachwissen.

Ruft man dort an und fragt nach dieser großen Gruppe der Opfer - eine der verwundbarsten sozialen Gruppen des Landes, wie humanitäre Helfer sagen -, dann heißt es, man habe ‚gute Programme‘ für Witwen. Aber wie viele daran teilhaben, das wisse man gerade nicht. […]

Was bleibt, ist die Familie. Das Klischee besagt, dass in Afghanistan der Klan die staatliche Fürsorge ersetzt. Aber wer den Geschichten der Frauen vom Witwenhügel zuhört, lernt, dass dies kein verlässliches Netz ist. Auch Verwandte können grausam sein. Verwandte haben manchmal selber zu wenig zum Leben. Mitunter haben Verwandte Angst, die neue Frau im Haus könnte der Hausherrin ihren Einfluss oder sogar den Mann wegnehmen.“ (Handelsblatt, 6. Mai 2016)

In einem Artikel der deutschen Tageszeitung (Taz), der auf dem oben genannten Bericht der AAN-Forscherin Naheed Esar basiert, wird über eine von Witwen betriebene Siedlung namens „Sanabad“ („Frauenstadt“) in Kabul berichtet:

„Niemand in Kabul weiß, wann Sanabad entstand. In der Landessprache Dari bedeutet der Name ‚von Frauen errichtet‘ oder auch ‚Frauenstadt‘. Weder die Witwen noch die örtlichen Behörden erinnern sich, wann Frauen den ersten Stein für die Siedlung legten. Es soll während des politischen Chaos Anfang der 1990er Jahre gewesen sein, als die Regierung des zuvor von der Sowjetunion gestützten Präsidenten Nadschibullah zusammenbrach. […]

Der Zusammenbruch nach der sowjetischen Besetzung schuf neben allem Chaos auch Freiräume. Regierungseigenes Land, wie der steinige Hügel am damaligen südöstlichen Stadtrand von Kabul, auf dem Sanabad zu wachsen begann, war auf einmal herrenlos. Sanabad wurde Teil eines Viertels namens Karte-ja Nau (‚neues Quartier‘), auch dies eine Ansiedlung von Bürgerkriegsflüchtlingen. Heute hat Karte-ja Nau vielleicht eine Million Einwohner und liegt fast zentral in Kabul, diesem von Binnenflüchtlingen wohl auf vier Millionen Einwohner gewachsenen Moloch ohne adäquate Infrastruktur. […]

Irgendwann Anfang des neuen Jahrtausends kam Bibi ul-Zuqia, Mitte 60 ist sie und wird von allen nur Bibikoh, Großmutter der Berge, genannt, nach Sanabad. Sie wurde zum Motor der ungewöhnlichen Frauengemeinschaft dort. Bibikohs erster Ehemann starb, als eine Rakete in ihr Haus einschlug. Das war in Parwan, einer Provinz nördlich von Kabul. Ihr zweiter Mann, ein Bruder des ersten und Kämpfer bei den Mudschaheddin, starb im Krieg.

Ihre zweite Witwenschaft veränderte Bibikohs Status. Plötzlich galt sie als schlechtes Omen und verlor, trotz ihrer sechs Kinder, den Respekt und die Unterstützung der Verwandten. Sie nannten sie kala-khor, Kopffresserin. Man stieß sie aus der Gemeinschaft aus. […]

Bibikohs Leben nahm eine neue Wendung, als ihr eine befreundete Witwe von Sanabad erzählte und sie ermutigte, sich der dortigen Frauengemeinschaft anzuschließen. Für 5.000 Afghani Schmiergeld – etwa 100 Dollar und viel für eine Witwe – an die örtliche Polizei, die ein Waffendepot auf dem Hügel bewachte, wurde ihr erlaubt, sich ein Stück Land zu nehmen und ihr Haus darauf zu bauen. Zwei Zimmer hat es, gekocht wird in einer Ecke. […]

Ohne gegenseitige Hilfe war das für die Witwen nicht zu schaffen. Eine von ihnen, die schüchterne Humaira, vielleicht Ende 30, nennt diese Zeit ‚bittere Medizin‘. Die Bauarbeit ‚ist oft über meine körperlichen Kräfte‘ gegangen, aber ihr eigenes Haus in dieser Gemeinschaft zu errichten, habe sie auch ‚geheilt‘, denn es habe ihr lebenslanges Obdach gegeben.

Bibikoh erzählt, dass die Frauen manchmal auch ihre Häuser verteidigen müssen. Sie selbst habe Steine auf Polizisten geworfen, als diese eine andere Witwe prügelten; manchmal versuchte die Polizei nämlich, die Frauen doch zu vertreiben. Manchmal, ergänzt Humaira, sei die Polizei aber auch ein Schutz. Ohne die nächtlichen Streifen am Waffenlager hätte sie sich nie sicher genug gefühlt mit ihren fünf Kindern. Es käme eben darauf an, wer Dienst habe.

Das bestimmte und unabhängige Auftreten der Witwen brach Tabus. Deshalb hätten auch andere Nachbarn anfangs den Kontakt vermieden. Manchmal wurden sie als Prostituierte beschimpft. Inzwischen aber respektiere man sich gegenseitig, schließlich lebten alle in ähnlich schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen.

Respekt den Witwen gegenüber stellte sich auch ein, weil Bibikoh anfing, die Witwen über den Hausbau hinaus zu organisieren. Über Jahre fanden Alphabetisierungskurse, aber auch Treffen, um alltägliche Ereignisse zu diskutieren, in ihrem Haus statt. Die Frauen saßen dabei auf dem Boden. […]

Die Lebensbedingungen waren schwierig. Damals gab es in Sanabad weder Wasser noch Strom. Wasser mussten sie unten holen und die steilen Hügel hinaufschleppen, über unbefestigte, lehmige Wege, die bei Regen matschig und kaum zu bewältigen sind.

Bibikoh fand zudem Sarghuna, eine Lehrerin, die mithilfe von Care International, einer NGO, Kurse in Gesundheitsversorgung gab. Aus zwölf Witwen bestand Bibikohs Kerngruppe. Sie unterstützten die Neuankömmlinge auf dem Hügel und organisierten mit der NGO Lebensmittelhilfen – Mehl, Öl und Bohnen – für die besonders Bedürftigen. Elf Jahre lang hätten um die 400 Witwen von dieser Hilfe profitiert. Die Arbeit gab Bibikoh verlorenen Respekt zurück. […]

Die Siedlung von Sanabad ist inzwischen auf 500 Witwen- und 500 andere Haushalte angewachsen. Viele der Witwen, nun alphabetisiert, haben reguläre Jobs gefunden. Einige arbeiten als Haushaltshilfen, andere bereiten traditionelle Speisen zu und verkaufen sie auf Märkten. Eine Handvoll unterrichtet an der Mädchenschule von Sanabad. Bibikoh und Anisa sind inzwischen sogar bei der Regierung angestellt als eine Art Gemeindepolizistinnen. Nur wenige müssen noch auf den Straßen betteln. […]

Humaira hofft, von Nachbarn Land kaufen und darauf ein zweites Haus für ihre Eltern bauen zu können. Anisa hat ihr Zweithaus schon fertig und vermietet es für 3.000 Afghani (60 Dollar). Im vorigen Jahr hat die Regierung auch Wasser- und Stromanschlüsse auf den Hügel gelegt und die Mädchenschule übernommen. Damit erkannte sie das Recht der Witwen an, offiziell dort zu leben. Nur die Straße auf dem Hügel ist immer noch staubig, steil und schwer zu begehen.

Bibikoh sagt, man sei dabei, die Regierung zu bewegen, den Frauen offizielle Landtitel zu geben. Dann, so hofft sie, würde das Viertel auch im offiziellen Stadtplan eingetragen. Das würde Sanabad vollständig legalisieren.“ (Taz, 18. Juli 2015)

Das deutsche Tageszeitung Handelsblatt berichtet der ihrer Reportage vom Mai 2016 wie folgt über die Verhältnisse in der Siedlung Sanabad:

„Der Witwenhügel von Kabul ist eine einzigartige Gemeinde. Sie ist Zuflucht für 500 oder mehr afghanische Frauen ohne Männer. Sie leben alleine, verdienen ihr eigenes Geld und beschützen sich gegenseitig. […]

Die treibende Kraft in der Frauenstadt war jahrzehntelang Bibi Koh, die Großmutter vom Berg, die sich um solche Konventionen nicht geschert hat. […]

Bibi Koh ist im März [2016] gestorben, aber bei einem Besuch im Herbst hatte sie von ihrem Leben erzählt. […]

Nach ihrem Tod hat nun ihre Tochter Anisa die inoffizielle Leitung übernommen. Anisa ist Polizistin. Dass sie eine Waffe trägt - und das auch jedem sagt -, hat ihre Schützlinge enorm beruhigt. […]

Trotz des Schutzes, den die weibliche Gemeinde bietet - das Leben der Witwen vom Hügel ist nicht leicht. Nausis Kinder und Enkel verkaufen hartgekochte Eier und bringen etwa 300 Afghani, vier Euro, am Tag nach Hause. Aber ein Sohn hat Tuberkulose. Die Flasche Medizin, die für zwei Wochen reicht, kostet 650 Afghani, umgerechnet etwa zehn Euro. Als es schlimmer wurde, wurden die Kinder aus der Schule genommen, damit sie mehr arbeiten konnten.

Nadija verdient gar kein Geld. Sie ist abhängig von Verwandten, die sie daheim nicht haben wollen, aber ab und zu Essen oder Geld bringen. Und von den Nachbarinnen. Vor kurzem hat jemand ihr angeboten, die jüngste der sieben Töchter zu kaufen. Mariam, acht Monate, war kurz vor dem Tod von Nadijas Ehemann zur Welt gekommen. Du kannst ihr doch sowieso kein gutes Leben bieten, hat die Frau gesagt. Aber Nadija bringt es nicht über sich. Noch nicht.

Einige der Töchter von Witwen haben geheiratet.“ (Handelsblatt, 6. Mai 2016)

 

image001.gif 

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 26. August 2016)

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von Waisenkindern (u.a. staatliche und private Fürsorgemöglichkeiten; spezielle Risiken) [a-9313], 26. August 2015 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/313539/451824_de.html

·      CRC - UN Committee on the Rights of the Child: Consideration of reports submitted by States parties under article 44 of the Convention; Concluding observations: Afghanistan [CRC/C/AFG/CO/1], 8. April 2011 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1332855444_crc-c-afg-co-1.pdf

·      DW – Deutsche Welle: Afghan widows would 'rather die', 30. Jänner 2013
http://www.dw.com/en/afghan-widows-would-rather-die/a-16562576

·      EASO - European Asylum Support Office: Afghanistan Security Situation, Jänner 2016
https://www.ecoi.net/file_upload/1226_1454492894_easo-coi-afghanistan-security-situation-bz0416001enn-fv1.pdf

·      Esar, Naheed: Covering for Each Other in Zanabad: The defiant widows of the hill, 7. Mai 2015 (veröffentlicht von AAN, verfügbar auf ecoi.net) 
http://www.ecoi.net/local_link/302900/439839_de.html

·      FATA Research Centre: Das Pashtunwali: Eine Analyse der Lebensweise der Paschtunen. In: BFA Staatendokumentation: AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, Juli 2016, S. 30-60
https://www.ecoi.net/file_upload/90_1470057716_afgh-stammes-und-clanstruktur-onlineversion-2016-07.pdf

·      Handelsblatt: Die Frauen der Toten und ihre letzte Zuflucht, 6. Mai 2016
http://www.nwzonline.de/politik/und-was-wird-aus-den-frauen_a_6,1,2925127286.html

·      Kerr Chiovenda, Melissa: E-Mail-Auskunft, 9. April 2016

·      Lacuna Magazine: Widowhood in Afghanistan, July 2015
http://lacuna.org.uk/equality/widowhood-in-afghanistan/

·      Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre: Afghanistan: Forhold for barn og unge, 21. Februar 2014 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1788_1397469824_2799-1.pdf

·      National Geographic: Confronting the Struggle of Afghanistan’s War Widows, 7. Dezember 2015
http://proof.nationalgeographic.com/2015/12/07/confronting-the-struggle-of-afghanistans-war-widows/

·      Rzehak, Lutz: E-Mail-Auskunft, 7. April 2016

·      SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe: Afghanistan: Alleinstehende Frau mit Kindern, SFH, 15. Dezember 2011
https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/afghanistan/afghanistan-alleinstehende-frau-mit-kindern.pdf

·      Taz: Die Stadt der „Kopffresserinnen“, 18. Juli 2015
http://www.taz.de/!5212149/

·      Tolo News: Afghanistan has 500 000 war widows, 23. Juni 2016
http://www.tolonews.com/en/afghanistan/25934-afghanistan-has-500-000-war-widows

·      UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19. April 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/file_upload/90_1471846055_unhcr-20160419-afg-richtlinien-de.pdf

·      UNAMA - UN Assistance Mission in Afghanistan: Harmful Traditional Practices and Implementation of the Law on Elimination of Violence against Women in Afghanistan, 9. Dezember 2010 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1788_1297097844_harmful-traditional-practices-and-implementation.pdf

·      UNAMA - UN Assistance Mission in Afghanistan: Afghanistan; Annual Report 2014; Protection of Civilians in Armed Conflict, Februar 2015 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1788_1424450677_2014-annual-report-on-protection-of-civilians-final.pdf

·      UNAMA - UN Assistance Mission in Afghanistan: Afghanistan Midyear Report 2016; Protection of Civilians in Armed Conflict, 25. Juli 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1470819956_protectionciviliansarmedconflict2016.pdf

·      USDOS - US Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2015 - Afghanistan, 13. April 2016
http://www.ecoi.net/local_link/322445/461922_de.html 

·      WSJ – Wall Street Journal: After Decades of Conflict, Many Afghan Women Struggle to Survive on Their Own, 3. November 2015
http://www.wsj.com/articles/after-decades-of-conflict-many-struggle-to-survive-on-their-own-1446601663

·      Zeller, Matt: Winning the War on Terror One Child at a Time, 12. September 2012 (veröffentlicht auf Website der Huffington Post)
http://www.huffingtonpost.com/matt-zeller/afghanistan-schools-literacy_b_2258969.html

 

 

 

 

[1] Das Afghanistan Analysts Network (AAN) ist eine unabhängige gemeinnützige Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, die Analysen zu politischen Themen in Afghanistan und der umliegenden Region erstellt.