a-6633 (ACC-AFG-6633)

Nach einer Recherche in unserer Länderdokumentation und im Internet können wir Ihnen zu oben genannter Fragestellung Materialien zur Verfügung stellen, die unter anderem folgende Informationen enthalten:
 
Informationen zum Theme Blutrache entnehmen Sie unserer Anfragebeantwortung a-6532 vom 19. Februar 2009 (siehe Kopie im Anhang).
 
Es wurde am 17. März 2009 ein externer Experte (Dr. Antonio Giustozzi, London School of Economics and Political Science) mit Ihrer Fragestellung kontaktiert. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen und wenig spezifischen Einschätzungen der konsultierten Quellen hinsichtlich der Frage, ob ein männliches Kind von Blutrache bedroht werden könne (siehe unten: Giustozzi, Juni 2006; Barfield, 26. Juni 2003, S. 6; [Textpassage entfernt]) haben wir Dr. Giustozzi um einen diesbezüglichen Kommentar ersucht (siehe unten: Giustozzi, Juni 2006; Barfield, 26. Juni 2003, S. 6; [Textpassage entfernt]). Sobald eine Antwort einlangt, liefern wir sie Ihnen umgehend nach.
 
UNHCR geht in seinem Update zu den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom Dezember 2007 (Eligibility Guidelines) allgemein auf das Phänomen der Blutrache ein. Diese bestehe aus einem langfristigen Zyklus von Racheakten. Die Familie eines getöteten oder anderweitig geschädigten oder entehrten Opfers würde versuchen, die Täter beziehungsweise deren Familien oder Stammesangehörigen zu töten, zu verletzen oder öffentlich zu demütigen. Häufige Anlässe für Blutrache seien die Verletzung der Ehre von Frauen, Eigentumsrechten, und Konflikte über Land und Wasser. Die Tradition der Blutrache habe sich im Zuge jahrzehntelangen Krieges und Konfliktes ausgebreitet und sei jetzt auch unter bewaffneten Gruppen üblich, inklusive solchen nicht-paschtunischer Herkunft wie Tadschiken, Usbeken und Hazaras:
“In the context of Afghanistan, a blood feud is a long-running argument or fight, with a cycle of retaliatory violence between parties – often, through guilt by association of individuals or groups of people, especially families or tribes with the relatives of someone who has been killed, or otherwise wronged or dishonoured. In such a situation, the victim’s family or tribe members seek revenge by killing, physically injuring and/or publicly shaming the perpetrator(s) or his/her family or tribe members. Blood feuds are often initiated in reaction to alleged violations to the honour of women, property rights, land and water issues. […] With decades of war and conflict, the tradition of blood feuds has expanded and is now common among armed factions, even including those of non-Pashtun ethnic origin, such as Tajik, Uzbek and Hazara.” (UNHCR, Dezember 2007, S. 70-71)
Mohammad Aziz Rahjo von UNHCR Afghanistan hält in dem im November 2007 von ACCORD und UNHCR veröffentlichten COI-Seminar-Bericht zu Afghanistan fest, dass Personen, die als Täter einer Handlung betrachtet würden, das Hauptziel von Blutrache seien. Weitere Personengruppen, die von Blutrache betroffen werden könnten, seien unter anderem nahe Verwandte solcher Personen, darunter auch Kinder. Jedoch würden Kinder erst zum Ziel, wenn sie die Volljährigkeit erreicht hätten:
“People affected by blood feud:
-          The perpetrator(s) (male or female) or those perceived as to be responsible for committing the crime/act remain the main target for the revenge in a blood feud.
      […]
-          Close relatives: brothers, cousins, including children but targeting them when they come of age.
-          Relatives or any other member(s) of the tribe that have showed support to the perpetrator(s) […]” (ACCORD/UNHCR, November 2007, S. 43)
[Textpassage entfernt]
 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) vermerkt in einem Positionspapier vom Februar 2009 folgendes bezüglich Personen, denen Blutrache angedroht worden sei:
„Die Sicherheit von Personen, denen Blutrache angedroht wurde, ist nicht gewährleistet. Das «Recht» der Blutrache gilt heute noch vor allem in den ländlichen Stammesgebieten. Es kann über mehrere Generationen vererbt werden und alle männlichen Mitglieder eines Klans betreffen.“ (SFH, 26. Februar 2009, S. 2)
Der Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi hält in seinen „Afghanistan Notes“ vom Juni 2006 fest, es gebe in Afghanistan eine Kultur der Blutrache, die ein großteils ein paschtunisches Phänomen sei, nun jedoch aufgrund der Nähe der verschiedenen Gemeinschaften auch von anderen ethnischen Gruppen praktiziert werden könnte. Bei einer Blutrache werde normalerweise der ranghöchste Mann zum Ziel, doch könne sie sich bis hin zu den Töchtern ausdehnen. Zur Blutrache komme es, wenn ein „Verbrechen“ (wrongdoing) nicht durch Stammesmechanismen beilegt werden konnte:
“There is a culture of blood feuds in the country. These are mainly a Pashtun phenomenon, but because of the close proximity of different communities they might now to some extent be practised by other ethnic groups. There are some famous feuds which run for many years, for example there is a famous feud that has been running in Nangarhar province which has lasted at least 30 years century [sic], taking the lives of some 500 people. In a blood feud the most senior man would normally be targeted, but the feud could extend all the way to daughters. Blood feuds arise when a wrongdoing has not been settled through tribal mechanisms such as councils of elders. Individuals will assess the risk to their family before taking revenge, so a male who was the breadwinner for a whole family would be much less likely to risk his own death by pursuing a blood feud.” (Giustozzi, Juni 2006, zit. nach UK Home Office, 29. August 2008, S. 121)
Der Anthropologe Thomas Barfield schreibt in einem Aufsatz vom Juni 2003, dass Mord die wichtigste Ursache für ein Verlangen nach Blutrache sei. Diese richte sich im Normalfall allein gegen den Mörder, doch könnten unter bestimmten Umständen dessen Brüder oder andere Verwandte in männlicher Linie zu Ersatzzielen werden. Frauen und Kinder seien davon ausgeschlossen, Ziele von Rache zu werden:
“Homicide generates the strongest demand for personal blood revenge. There is the obvious desire to punish the person who committed the act by the victim’s family, but it also involves questions of honor and personal responsibility. […] Revenge should ideally be directed at the murderer alone, but under some conditions the Pashtunwali makes his brothers or other patrilineal kin legitimate substitute targets. Women and children are excluded as targets of revenge in all cases.” (Barfield, 26. Juni 2003, S. 6)
[Textpassagen entfernt]
 
 
Diese Informationen beruhen auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen. Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines bestimmten Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Wir empfehlen, die verwendeten Materialien zur Gänze durchzusehen.
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 25. März 2009)
ACCORD-Anfragebeantwortung a-6532, 19. Februar 2009 (siehe Kopie im Anhang)
ACCORD/UNHCR: 11th European Country of Origin Information Seminar; Vienna, 21 - 22 June 2007: Country Report Afghanistan, November 2007
http://www.ecoi.net/file_upload/432_1194598972_coiseminar-2007-afghanistan.pdf
Barfield, Thomas: Afghan Customary Law and Its Relationship to Formal Judicial Institutions,    26. Juni 2003
http://www.usip.org/ruleoflaw/projects/barfield2.pdf
Giustozzi, Antonio: Afghanistan Notes, 28 June 2006, zitiert nach UK Home Office: Country Of Origin Information Report Afghanistan, 29. August 2008 (veröffentlicht auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1224671486_afghanistan-240908.pdf
SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe: Asylsuchende aus Afghanistan - Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH, 26. Februar 2009 (veröffentlicht auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1228_1235750854_afghanistan-position-sfh.pdf
UNHCR – UN High Commissioner for Refugees: UNHCR's Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Afghan Asylum-Seekers, Dezember 2007 (veröffentlicht auf ecoi.net
http://www.ecoi.net/file_upload/432_1199430947_2007-12-unhcr-afg.pdf