Dokument #1042777
Amnesty International (Autor)
Verheerende Überschwemmungen machten Millionen von Pakistanis zu Binnenflüchtlingen, die Unterkünfte, Lebensmittel und ärztliche Hilfe benötigten. Aufständische Gruppen im Nordwesten des Landes und in der Provinz Belutschistan waren für widerrechtliche Tötungen und grausame Bestrafungen von Zivilpersonen verantwortlich. Sie verübten außerdem Selbstmordattentate in den wichtigsten Städten, die zu Hunderten von Toten und Verletzten führten. Die bewaffneten Auseinandersetzungen im Nordwesten des Landes zwangen mehr als 2 Mio. Menschen dazu, ihre Wohnorte zu verlassen. Es gab weiterhin zahlreiche Berichte über Folterungen und Todesfälle im Gewahrsam sowie über Morde im Namen der "Familienehre" und Fälle häuslicher Gewalt, obwohl die Regierung neue internationale Verpflichtungen zum Schutz von Menschenrechten einging. Angehörige der Armee waren für die willkürliche Verhaftung von Zivilpersonen und in einigen Fällen auch für ihre außergerichtliche Hinrichtung verantwortlich. Es gab neue Fälle von "Verschwundenen", insbesondere in Belutschistan, wo auch zahlreiche Leichen von Opfern des "Verschwindenlassens" entdeckt wurden. Viele Fälle von "Verschwundenen" aus der Vergangenheit blieben weiterhin ungeklärt. Gewalttätige Angriffe auf Angehörige religiöser Minderheiten nahmen zu. Die Regierung ergriff keine Maßnahmen, um diese Übergriffe zu verhindern oder die Täter zu bestrafen. Trotz eines weiterhin bestehenden informellen Hinrichtungsmoratoriums wurden 2010 mehr als 300 Todesurteile verhängt.
Fast 2000 Menschen kamen bei Überschwemmungen ums Leben, die im Juli  2010 im Nordwesten des Landes ihren Ausgang nahmen. Mehr als 20 Mio.  Menschen waren direkt davon betroffen. Für diejenigen, die aufgrund der  bewaffneten Auseinandersetzungen bereits zu Binnenflüchtlingen geworden  waren, wurde die desolate Lage durch die akute humanitäre Krise weiter  verschärft. 2009 hatte die pakistanische Armee die Taliban aus dem  Swat-Tal (Provinz Khyber Pakhtunkhwa, ehemals Nordwestliche  Grenzprovinz) und aus dem Stammesgebiet Süd-Waziristan vertrieben. 2010  gelang ihr dies auch in den Stammesgebieten Bajaur und Orakzai. Trotz  des militärischen Erfolgs versäumten es die Armee und die  Zivilverwaltung, die Ursachen des Konflikts zu beheben. Sie taten nichts  gegen die gravierende Unterentwicklung in diesen Gebieten, sorgten  nicht für einen Wiederaufbau der grundlegenden Infrastruktur, wie z.B.  Schulen, und boten lokalen Geschäftsinhabern keine Unterstützung an. Die  humanitäre Hilfe für die vertriebenen Menschen war unzureichend.  Humanitären Organisationen und unabhängigen Beobachtern war es  untersagt, in den Konfliktgebieten wirksam tätig zu werden.
 Mit 118 Drohnenangriffen auf mutmaßliche Al-Qaida- und  Taliban-Stellungen in der pakistanischen Grenzregion verdoppelten die  USA diese Form des Raketenbeschusses im Jahr 2010 nahezu und schürten  dadurch die Ressentiments in der Bevölkerung.
 Am 24. März 2010 ratifizierte Pakistan den Internationalen Pakt über  bürgerliche und politische Rechte und das Übereinkommen gegen Folter und  andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder  Strafe, allerdings mit erheblichen Vorbehalten. Es wurden keine Schritte  unternommen, um diese internationalen Verpflichtungen in nationales  Recht umzusetzen.
 Im April wurde die 18. Verfassungsänderung verabschiedet. Nach der  Reform ist der Präsident künftig nicht mehr befugt, das Parlament  aufzulösen. Außerdem wurde ein Recht der Bürger auf Informationsfreiheit  eingeführt. Die Verfassungsänderung stärkte zudem die Autonomie der  Provinzen. Sie sind nun auch verpflichtet, einen kostenlosen Schulbesuch  für alle Kinder zu gewährleisten.
 Im Oktober wurde mit Asma Jahangir zum ersten Mal eine Frau zur Präsidentin der Anwaltskammer des Obersten Gerichtshofs gewählt.
Das Vorgehen der Armee gegen die Aufständischen im Nordwesten Pakistans kostete Hunderte von Zivilpersonen das Leben. Dutzende mutmaßlicher Rebellen wurden von Angehörigen der Stammesmilizen (Lashkars) getötet, die von der Armee finanziert, aber weder angemessen ausgebildet noch überwacht wurden.
Angehörige der Sicherheitskräfte töteten Berichten zufolge im Nordwesten und in der Provinz Belutschistan mutmaßliche Mitglieder bewaffneter Gruppen. Sie wurden dafür in der Regel nicht zur Rechenschaft gezogen. Nach Angaben der NGO Human Rights Commission of Pakistan (HRCP) wurden nach dem Ende des Militäreinsatzes im Swat-Tal im Juli 2009 bis zum Mai 2010 insgesamt 282 Leichen mutmaßlicher Aufständischer gefunden. Die Bevölkerung vor Ort machte Sicherheitskräfte für die Tötungen verantwortlich. Mehrere engagierte Bürger, die sich gegen das "Verschwindenlassen" in Belutschistan einsetzten, "verschwanden" und wurden getötet.
Bewaffnete Gruppen im Nordwesten des Landes waren 2010 für grausame und unmenschliche Strafen verantwortlich, sie verübten Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zerstörten Schulen und andere öffentliche Gebäude.
Nach Angaben der HRCP befanden sich infolge der militärischen Einsätze und Razzien im Swat-Tal nach wie vor zwischen 1000 und 2600 Personen im Gewahrsam der Armee, darunter auch Kinder von mutmaßlichen Aufständischen.
Inhaftierte im Polizeigewahrsam waren weiterhin von Folter und anderen Misshandlungen bedroht. Die Polizei ergriff nicht die notwendigen Maßnahmen, um Unbeteiligte vor Gewaltausbrüchen zu schützen, sondern schien in manchen Fällen die Täter sogar zu unterstützen.
Im März 2010 begann eine vom Obersten Gerichtshof eingesetzte  dreiköpfige Untersuchungskommission damit, Fälle von  "Verschwindenlassen" zu überprüfen. Die Kommission sollte u.a.  Zeugenaussagen Freigelassener dokumentieren und die Rolle der  Geheimdienste untersuchen. Am 31. Dezember legte die Kommission der  Regierung ihre abschließenden Ergebnisse und Empfehlungen zur Prüfung  vor. Der Bericht wurde nicht zur Veröffentlichung freigegeben.
 Hunderte von Menschen "verschwanden" 2010 offenbar nach ihrer Festnahme  durch Angehörige der Geheimdienste oder der Armee. Die meisten Fälle  ereigneten sich in Belutschistan. An den Provinzgerichten waren Hunderte  von Anträgen auf Haftprüfung anhängig, die Geheimdienste weigerten sich  jedoch, gerichtlichen Anordnungen Folge zu leisten. Auf die Familien  der "Verschwundenen" wurde Druck ausgeübt, nicht öffentlich über das  Schicksal ihrer vermissten Angehörigen zu sprechen.
Journalisten wurden Opfer von Schikanen, Misshandlungen und Tötungen. Für die Taten waren sowohl Angehörige staatlicher Organe verantwortlich als auch Mitglieder bewaffneter Gruppen, die in Opposition zur Regierung standen. Von staatlicher Seite wurden Journalisten nicht gegen Anschläge bewaffneter Gruppen geschützt. Im Berichtsjahr wurden 19 Medienschaffende ermordet. Damit war Pakistan nach Angaben der Journalistenvereinigung Pakistan Federal Union of Journalists und der internationalen NGO Committee to Protect Journalists 2010 das gefährlichste Land für Journalisten. Die Behörden sperrten einige Nachrichtendienste im Internet.
Der Staat kam weiterhin nicht seiner Pflicht nach, Diskriminierung, Schikanen und Gewalt gegen religiöse Minderheiten zu verhindern bzw. strafrechtlich zu verfolgen. Die Übergriffe richteten sich zunehmend auch gegen moderate Sunniten. Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft, Schiiten und Christen wurden bei offensichtlich religiös motivierten Ausschreitungen getötet. Sektiererische Gruppen, die dem Vernehmen nach mit den Taliban in Verbindung standen, attackierten Schiiten, Ahmadis und Sufis, ohne dafür strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Blasphemie-Gesetze dienten weiterhin als Vorwand, um gegen Ahmadis und Christen vorzugehen, aber auch gegen Schiiten und Sunniten.
Die Blasphemie-Gesetze wurden weiterhin missbräuchlich verwendet. Mindestens 67 Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft, 17 Christen, acht Muslime und sechs Hindus standen 2010 wegen Blasphemie unter Anklage. Mehrere Verfahren wurden eingestellt, nachdem nach Angaben der NGO Commission for Justice and Peace gegen Personen zweifelhafte Anschuldigungen erhoben worden waren und die Behörden unsachgemäß ermittelt hatten.
Auch 2010 wurden geschlechtsspezifische Straftaten wie  Vergewaltigungen, Zwangsverheiratungen, Morde im Namen der  "Familienehre", Säureanschläge und andere Formen häuslicher Gewalt  selten geahndet, da die Polizei entsprechende Anzeigen nur widerstrebend  aufnahm und untersuchte. Nach Informationen der Frauenorganisation  Madadgaar wurden im Berichtsjahr 1195 Frauen ermordet (Stand Ende  November); 98 von ihnen waren zuvor vergewaltigt worden. Den Angaben von  Madadgaar zufolge wurden insgesamt 321 Frauen Opfer von  Vergewaltigungen, 194 wurden Opfer von Gruppenvergewaltigungen.
 Am 22. Dezember befand ein Scharia-Gericht, einige Bestimmungen des  Gesetzes zum Schutz der Frauen von 2006 müssten geändert werden. Die  Richter sprachen sich für die Wiedereinsetzung bestimmter Passagen der  Hudood-Gesetze von 1979 aus, die Frauen in extremer Weise  diskriminierten.
Das seit Ende 2008 geltende De-facto-Hinrichtungsmoratorium bestand auch 2010 weiter. Dennoch wurden im Berichtsjahr 356 Todesurteile ausgesprochen, zumeist wegen Mordes. Unter den Verurteilten befand sich auch ein Minderjähriger. Laut Angaben der NGO Human Rights Commission of Pakistan saßen weiterhin 8000 Menschen im Todestrakt ein.
Im Juni besuchten zwei Delegierte von Amnesty International Pakistan. Berater von Amnesty International hielten sich das ganze Jahr über im Land auf.
'As if hell fell on me': The human rights crisis in northwest Pakistan (ASA 33/004/2010)
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Amnesty International Report 2011 - The State of the World's Human Rights (Periodischer Bericht, Englisch)