Dokument #1032310
Amnesty International (Autor)
Arme Gemeinden waren 2010 weiterhin einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, zu denen Zwangsräumungen und der fehlende Zugang zu Grundversorgungseinrichtungen gehörten. In einigen Städten sank die Zahl der Tötungsdelikte, doch verstärkten das hohe Maß an Polizei- und Bandengewalt in den Favelas (Elendsvierteln) die Benachteiligung. Folter, Überbelegung und entwürdigende Haftbedingungen bestimmten nach wie vor den Alltag in Gefängnissen und Jugendstrafanstalten. Mangels wirksamer Kontrollen kam es dort zu Unruhen, bei denen zahlreiche Menschen zu Tode kamen. Indigene Gemeinschaften, Quilombolas (Angehörige afrikanischstämmiger Gemeinschaften) und landlose Arbeiter waren im Zusammenhang mit Landstreitigkeiten Drohungen, Einschüchterungsversuchen und Gewalt ausgesetzt. Menschenrechtsverteidiger waren nach wie vor gefährdet und hatten häufig Schwierigkeiten, staatlichen Schutz zu erwirken.
Zum Ende der zweiten und letzten Amtszeit von Präsident Luiz Inácio (Lula) da Silva konnte Brasilien Wirtschaftswachstum, politische Stabilität und ein hohes internationales Ansehen verzeichnen. Große Fortschritte gab es bei der Armutsbekämpfung, doch herrschte nach wie vor eine enorme Ungleichheit im Land. Dilma Rousseff, die im Oktober die Präsidentschaftswahlen in der zweiten Runde gewann, versprach politische Kontinuität. Ihr Amtsantritt wurde auf Januar 2011 festgesetzt. Sie erklärte öffentliche Sicherheit, Gesundheit und die Beseitigung der Armut zu den vorrangigen Themen ihrer Regierung.
Im Mai 2010 genehmigte der Präsident eine geänderte Version des dritten Nationalen Programms für Menschenrechte (O terceiro Programa Nacional de Direitos Humanos), trotz der Kritik, dass man Ausführungen zur Entkriminalisierung der Abtreibung, zur Mediation bei Agrarkonflikten und Abschnitte, in denen es um die Verbrechen ging, die unter der Militärregierung (1964-85) begangen worden waren, gestrichen hatte.
Im Oktober entschied der Oberste Gerichtshof Brasiliens in einem Grundsatzurteil, die Ermittlungen und das Gerichtsverfahren im Tötungsfall des ehemaligen Rechtsanwalts und Menschenrechtsaktivisten Manoel Mattos unter die Zuständigkeit der Bundesbehörden zu stellen. Es war das erste Mal, dass ein Fall unter die Bundesgerichtsbarkeit gestellt wurde, seit eine Verfassungsänderung von 2004 es ermöglicht, Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen auf Bundesebene zu verhandeln. Manoel Mattos hatte die Aktivitäten von Todesschwadronen in der Grenzregion der Bundesstaaten Paraíba und Pernambuco aufgedeckt. Die Ermittlungen zu seinem Tod wurden durch Drohungen gegen Zeugen behindert.
Trotz des Widerstands von indigenen und anderen ländlichen Gemeinschaften, Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen sowie Bundesstaatsanwälten erteilte die brasilianische Umweltbehörde im Februar eine umweltrechtliche Genehmigung für das umstrittene Belo-Monte-Staudammprojekt am Rio Xingu im Bundesstaat Pará. Lokale NGOs erhoben den Einwand, dass das Staudammprojekt Tausende von Familien heimatlos machen und weite Teile angestammter indigener Gebiete überfluten könne. Im Oktober setzte die brasilianische Regierung ein positives Signal und veranlasste die Einrichtung eines sozioökonomischen Registers, in dem alle vom Staudammbau betroffenen Personen erfasst werden sollen.
Im Februar verabschiedete Brasilien eine Verfassungsänderung, die eine Ergänzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte um das Recht auf Nahrung vorsieht. Im November ratifizierte Brasilien das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen. Brasilien weigerte sich jedoch, die Zuständigkeit des UN-Ausschusses über das Verschwindenlassen für die Entgegennahme von Beschwerden anzuerkennen, die von bzw. im Namen von Opfern oder Staaten vorgebracht werden, wenn staatliche Behörden ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind.
Gewalt seitens Krimineller sowie der Polizei stellte in den größten Städten Brasiliens nach wie vor ein ernstes Problem dar. In einem Fortschrittsbericht schrieb der UN-Sonderberichterstatter über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen, dass es weiterhin die Regel sei, "dass Bürger, vor allem Bewohner der Favelas, der Gewalt von Banden, Milizen und Polizei hilflos ausgeliefert" und "außergerichtliche Tötungen nach wie vor weit verbreitet" seien.
In Rio de Janeiro wurden in den Favelas weitere Befriedungseinheiten der Polizei (Unidades de Polícia Pacificadores) stationiert, was zu einer Abnahme der Gewalt führte. Außerhalb dieser Projekte war Polizeigewalt, auch in Form von Tötungen, jedoch nach wie vor weit verbreitet. Offiziellen Statistiken zufolge tötete die Polizei im Berichtsjahr 855 Personen in Situationen, die als "Widerstand gegen die Staatsgewalt" bezeichnet wurden.
Im November 2010 startete die Polizei in Rio als Reaktion auf gewalttätige Aktionen von Banden, bei denen über 150 Fahrzeuge angezündet und Polizeiposten angegriffen worden waren, massive Einsätze im gesamten Stadtgebiet. In einer Woche wurden über 50 Menschen bei Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Drogenbanden getötet. Die Polizei tötete bei einem einzigen Einsatz im Stadtteil Jacarezinho sieben Personen. Im Viertel Vila Cruzeiro wurde ein 14-jähriges Mädchen zu Hause getötet, als es von einer verirrten Kugel getroffen wurde. Am Ende der gleichen Woche starteten über 2600 Polizisten sowie Angehörige von Armee und Marine einen Großeinsatz im Complexo do Alemão, einer Ansammlung von Elendsvierteln im Norden der Stadt, wo die größte der rivalisierenden Drogenbanden von Rio ihr Hauptquartier eingerichtet hatte. Der Siedlungskomplex wurde schnell eingenommen und befand sich Ende des Jahres unter der Kontrolle der Armee, die bis zur möglichen Stationierung einer Befriedungseinheit der Polizei vor Ort bleiben sollte.
Milizen (bewaffnete paramilitärische Gruppen) beherrschten nach wie vor viele Gebiete von Rio de Janeiro. Die Empfehlungen des 2008 eingerichteten parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Ermittlung gegen die Milizen waren zu einem großen Teil bis Ende 2010 noch nicht umgesetzt worden.
Folter war 2010 bei Inhaftierungen und in Polizeizellen, Gefängnissen und Jugendgefängnissen weit verbreitet.
In der ersten Jahreshälfte starben bei Überschwemmungen in den Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro, Alagoas und Pernambuco Hunderte von Personen und Zehntausende wurden obdachlos. Die Überschwemmungen förderten die Defizite im Bereich des Wohnungsbaus zutage sowie das Versäumnis der Behörden, offensichtliche Risiken anzugehen.
Einige Gemeinden sahen sich im Zusammenhang mit dem Bau der für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 geplanten Infrastruktur von Zwangsräumungen bedroht.
Indigene Gruppen, die um das ihnen nach der Verfassung zustehende Recht auf angestammtes Land kämpften, waren 2010 weiterhin Opfer von Diskriminierung, Einschüchterungsversuchen und Gewalt. Besonders ernst war die Situation im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, wo Gemeinschaften der Guarani-Kaiowá der kontinuierlichen Verfolgung durch bewaffnete Wachleute ausgesetzt waren, die von ansässigen Farmern angeheuert wurden. Trotz der Bemühungen der Bundesstaatsanwaltschaft, den Prozess zur Anerkennung der Rechte indigener Gruppen auf angestammtes Land zu beschleunigen, gab es keine Fortschritte.
Die Guarani-Kaiowá-Gemeinschaften von Y'poí, Ita'y Ka'aguyrusu und Kurusú Ambá im Süden des Bundesstaates Mato Grosso do Sul wurden von bewaffneten Wachleuten bedroht und angegriffen. Im September starb ein dreijähriger Junge aus der Gemeinschaft der Kurusú Ambá nach wiederholten Anfällen von Durchfall. In dieser Zeit war die Sicherheitslage in Region als so gefährlich eingestuft worden, dass die Bundesgesundheitsbehörde die Besuche eingestellt hatte.
Landlose Arbeiter wurden weiterhin Opfer von Bedrohungen und Gewalt, häufig durch bewaffnete Wachleute, die von Farmern angeheuert worden waren. Nur in seltenen Fällen folgten gründliche Ermittlungen.
Im ganzen Land herrschten immer noch erniedrigende Arbeitsbedingungen. Im Mai besuchte die UN-Sonderberichterstatterin über die modernen Formen der Sklaverei Brasilien. Sie kam zu dem Schluss, dass Zwangsarbeit und "sklavenartige" Praktiken im Viehzuchtsektor am häufigsten anzutreffen seien, gefolgt von Zuckerrohrplantagen. Sie forderte die Bundesbehörden nachdrücklich dazu auf, eine Verfassungsänderung zu verabschieden, die es möglich macht, Land zu enteignen, auf dem Zwangsarbeit eingesetzt wird. Die Verfassungsänderung, die 1999 vorgeschlagen wurde, war Ende 2010 noch im Kongress anhängig.
Zum Jahresende war die Anwendung des Nationalen Programms zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern auf sechs Bundesstaaten ausgedehnt worden. In vielen Fällen wurde jedoch kein wirksamer Schutz für Menschenrechtsverteidiger bereitgestellt, da es an einer kontinuierlichen Ausstattung mit finanziellen Mitteln und an der Koordination zwischen bundesstaatlichen und nationalen Behörden mangelte.
Brasilien war in Lateinamerika weiterhin das Schlusslicht hinsichtlich eines adäquaten Umgangs mit den unter der Militärregierung begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen. Im April 2010 entschied der Oberste Gerichtshof gegen eine Eingabe, in der die Auslegung des Amnestiegesetzes von 1979 angefochten wurde. Die aktuelle Auslegung führte zur Straflosigkeit von Personen, denen schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigung und "Verschwindenlassen" während der Militärdiktatur in Brasilien (1964-85) zur Last gelegt werden.
Eine Delegation von Amnesty International besuchte Brasilien im Oktober.
"We know our rights and we will fight for them": Indigenous rights in Brazil - the Guarani-Kaiowá (AMR 19/014/2010)
© Amnesty International
Amnesty International Report 2011 - The State of the World's Human Rights (Periodischer Bericht, Englisch)
Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte (Periodischer Bericht, Deutsch)