Zwangsrückführungen von Millionen von Menschen verschärfen die Krise
(New York) – Seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan am 15. August 2021 haben die Taliban ihre Unterdrückung kontinuierlich verschärft, indem sie die Rechte von Frauen und Mädchen weiter eingeschränkt, Journalist*innen inhaftiert und alle kritischen Stimmen zum Schweigen gebracht haben, so Human Rights Watch heute. Afghanistan steht derzeit vor einer der schlimmsten humanitären Krisen weltweit, die durch die Kürzung der Hilfsgelder durch Geberländer und die erzwungene Rückkehr von 1,9 Millionen afghanischen Geflüchteten aus dem Iran und Pakistan noch verschärft wird.
Die Taliban verbieten Mädchen weiterhin den Schulbesuch über die sechste Klasse hinaus und Frauen den Zugang zu Universitäten. Frauen sind außerdem starken Einschränkungen in Bezug auf Beschäftigung, Bewegungsfreiheit und Zugang zu öffentlichen Räumen und Dienstleistungen ausgesetzt. Diese Menschenrechtsverletzungen schränken auch ihren Zugang zu humanitärer Hilfe und medizinischer Versorgung ein. Am 8. Juli 2025 erließ der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen den Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada und den Obersten Richter Abdul Hakim Haqqani wegen des Verbrechens gegen die Menschlichkeit der geschlechtsspezifischen Verfolgung.
„Der vierte Jahrestag der Machtübernahme durch die Taliban ist eine düstere Erinnerung an die Schwere der Menschenrechtsverletzungen der Taliban, insbesondere gegen Frauen und Mädchen“, sagte Fereshta Abbasi, Afghanistan-Expertin bei Human Rights Watch. „Die abscheulichen Taten der Taliban sollten die Regierungen dazu veranlassen, die Bemühungen zu unterstützen, die Taliban-Führung und alle für schwere Verbrechen in Afghanistan Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“
Die Taliban setzen ein drakonisches Gesetz von 2024 zur „Verbreitung von Tugend und Verhinderung von Laster“ rigoros durch, das Kleidungs- und Verhaltensweisen reglementiert. Lokale Komitees zur Durchsetzung der entsprechenden Vorschriften führen Razzien an Arbeitsplätzen durch, überwachen öffentliche Plätze und haben Kontrollpunkte eingerichtet, um Mobiltelefone zu überprüfen und Fahrzeuginsassen und Fußgänger*innen zu befragen.
Taliban-Beamte haben Menschen wegen angeblicher Verstöße gegen das Gesetz festgenommen, beispielsweise wegen Musikspielens, des Tragens unangemessener Hijabs oder der Nichttrennung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz. Die strikte Durchsetzung der Vorschrift, dass Frauen von einem männlichen Verwandten begleitet werden müssen, verschärft die alltäglichen Schwierigkeiten und Einschränkungen für Frauen noch und erschwert ihnen den Zugang zu humanitärer Hilfe und öffentlichen Dienstleistungen wie medizinischer Versorgung.
Eine Koalition aus afghanischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen hat ihren Appell im September 2024 wiederholt. Sie forderte den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen nachdrücklich auf, einen unabhängigen internationalen Mechanismus zur Rechenschaftspflicht für Afghanistan einzurichten. Dieser soll Beweise für schwere Verstöße und Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan prüfen, sammeln, sichern und auswerten.
Die UN-Mitgliedstaaten haben in den vergangenen vier Jahren keine wirksamen Maßnahmen ergriffen, um die schweren Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan zu beenden, so Human Rights Watch. Die Europäische Union sollte in ihrer jährlichen Resolution, die sie dem UN-Menschenrechtsrat im September zur Verabschiedung vorlegen wird, die Schaffung eines umfassenden Mechanismus zur Rechenschaftspflicht für Afghanistan vorschlagen.
Iran und Pakistan haben im Rahmen der staatlichen Maßnahmen gegen Migrant*innen und Geflüchtete fast zwei Millionen Menschen zurück nach Afghanistan abgeschoben. Unter ihnen sind Menschen, die nach der Machtübernahme der Taliban aus Angst vor Verfolgung nach Iran und nach Pakistan geflohen waren. Viele der Abgeschobenen hatten Jahrzehnte oder in einigen Fällen ihr ganzes Leben außerhalb Afghanistans verbracht. Sie kommen zu den Millionen Binnenvertriebenen in Afghanistan hinzu und stellen die humanitäre Hilfe vor immense Herausforderungen.
Unterdessen hat Deutschland am 18. Juli insgesamt 81 Afghanen nach Kabul abgeschoben. Dies waren die ersten Abschiebungen nach Afghanistan unter Bundeskanzler Friedrich Merz. Solche Abschiebungen sollen laut Regierungsangaben fortgesetzt werden. In den Vereinigten Staaten hat die Trump-Regierung den vorübergehenden Schutzstatus für afghanische Staatsangehörige aufgehoben, das Migrationsprogramm für Afghan*innen stark eingeschränkt, die Aufnahme von Geflüchteten auf unbestimmte Zeit ausgesetzt und Afghanistan in die Liste der Länder aufgenommen, gegen die ein Einreiseverbot verhängt wurde. Tausenden afghanischen Staatsangehörigen droht somit die Abschiebung, auch in Drittländer.
Inländische Medien müssen sich an strenge Inhaltsvorschriften halten, darunter ein Verbot der Veröffentlichung von Bildern von Personen und vage Anweisungen, keine islamkritischen Inhalte zu veröffentlichen. Journalist*innen berichten, dass sie zunehmend Selbstzensur betreiben, aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Behörden.
Die Kürzungen bei den US-Hilfsprojekten durch die Trump-Regierung – die bis Januar 2025 mehr als 40 Prozent der humanitären Hilfe für Afghanistan ausgemacht hatten – haben Programme, die für die Ernährungssicherheit unverzichtbar waren, zum Erliegen gebracht und Frauen und Mädchen unverhältnismäßig stark getroffen. Die Hälfte der afghanischen Bevölkerung - rund 23 MillionenMenschen - ist auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen. Nach Angaben des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) mussten bis Juli mehr als 400 Gesundheitseinrichtungen aufgrund fehlender Mittel schließen, die zum Großteil aus der offiziellen Entwicklungshilfe von Geberregierungen stammten.
Der Wegfall von ausländischen Hilfen hat die Unterernährung insbesondere bei Kindern verschärft. Die Kürzungen gefährden auch wichtige Online-Bildungsprogramme für Mädchen und Frauen.
„Die globalen Auswirkungen der Machtübernahme durch die Taliban sind in den letzten vier Jahren immer deutlicher geworden“, sagte Abbasi. „Die Regierungen müssen die Taliban dazu bringen, ihre Menschenrechtsverletzungen zu beenden und gleichzeitig die humanitäre Krise in Afghanistan lindern. Kein Land sollte Menschen nach Afghanistan abschieben.“