Berichtszeitraum: 1. Januar 2024 bis 31. Dezember 2024
Der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen blieb eingeschränkt. Die Zahl der Femizide und der Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt war nach wie vor sehr hoch, dennoch wurden Unterstützungsleistungen für Betroffene gekürzt. Journalistinnen waren digitaler Gewalt ausgesetzt. Neue Rechtsvorschriften legalisierten Maßnahmen zur Massenüberwachung. Öffentliche Demonstrationen wurden immer häufiger unterdrückt. Die Anzahl der Menschen, die in Armut lebten, stieg an, und die Regierung verhängte strikte Sparmaßnahmen, die sich insbesondere auf ältere Menschen auswirkten. Beim Klimaschutz waren Rückschritte zu verzeichnen – u. a. legte die Regierung Gesetze vor, mit denen Abholzung und Bergbauaktivitäten in Gletscherregionen erlaubt werden sollten.
Hintergrund
Argentinien befand sich 2024 weiterhin in einer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise. Laut dem argentinischen Statistikamt (Instituto Nacional de Estadística y Censos – INDEC) lebten im Juni 52,9 Prozent der Bevölkerung in Armut.
Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes äußerte sich in Bezug auf den Schutz der Rechte von Kindern und Jugendlichen in Argentinien besorgt über die Schließung und Aushöhlung von Institutionen, den Abbau von staatlichen Maßnahmen und die drastische Kürzung finanzieller Mittel, beispielsweise in den Bereichen Gesundheit und Bildung.
Der Kongress hat seit 2009 keine Ombudsperson mehr ernannt. Der Oberste Gerichtshof bestand ausschließlich aus Männern und auch für die Besetzung von zwei unbesetzten Stellen schlug die Exekutive nur Männer vor.
Über einen Vorschlag zur Herabsetzung der Strafmündigkeit von 16 auf 13 Jahre war 2024 noch nicht entschieden worden.
Argentinien lehnte die Agenda 2030 ab. Darüber hinaus war es das einzige Land, das sich vom UN-Zukunftspakt distanzierte und gegen eine Resolution in der UN-Generalversammlung stimmte, die darauf abzielte, digitale Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu verhindern.
Sexuelle und reproduktive Rechte
Seit im Dezember 2020 ein Gesetz zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten 14 Schwangerschaftswochen verabschiedet wurde, nutzten laut Angaben des Gesundheitsministeriums bis Oktober 2023 insgesamt 245.015 Menschen das öffentliche Gesundheitssystem, um einen sicheren Abbruch vornehmen zu lassen. Die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit einem Schwangerschaftsabbruch ging zwischen 2020 und 2022 um 53 Prozent zurück. Im Januar 2024 sprach Präsident Javier Milei im Rahmen einer von stigmatisierender Rhetorik und Falschinformationen geprägten Rede auf dem Weltwirtschaftsforum jedoch von einer "blutigen Abtreibungsagenda". Versuche auf parlamentarischer Ebene, das Gesetz über Schwangerschaftsabbrüche aufzuheben, scheiterten zwar, im September gab die Stelle für sexuelle und reproduktive Gesundheit (Dirección Nacional de Salud Sexual y Reproductiva) jedoch bekannt, dass es an grundlegender Ausstattung für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen fehle.
Im Jahr 2024 wurden Informationen veröffentlicht, denen zufolge im Jahr 2022 in Argentinien jede Stunde fünf Frauen bzw. Mädchen unter 20 Jahren ein Kind zur Welt gebracht hatten. Dennoch baute die Regierung ein Programm zur Verhinderung ungeplanter Schwangerschaften bei Jugendlichen (Plan ENIA) ab, obwohl dieses über einen Zeitraum von vier Jahren einen Rückgang solcher Schwangerschaften um 49 Prozent bewirkt hatte. Das Gesundheitsministerium kürzte faktisch das Programmbudget um 68 Prozent und beendete die Zusammenarbeit mit 619 Fachleuten.
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt
Zwischen Januar und Dezember 2024 wurde alle 33 Stunden ein Femizid gemeldet. Dennoch wurden die finanziellen Mittel für Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt alarmierend stark gekürzt. Die Hotline 144, eine telefonische Anlaufstelle für Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt, musste 42 Prozent ihres Personals entlassen. Die Reichweite des Programms Acompañar, das die Stärkung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Betroffenen zum Ziel hat, war im ersten Quartal 2024 um 98,63 Prozent geringer als im Vorjahreszeitraum.
Im Juni 2024 wurde der Schauspieler Juan Darthés in Brasilien für schuldig befunden, die argentinische Schauspielerin Thelma Fardín vergewaltigt zu haben, als diese 16 Jahre alt war. Juan Darthés besitzt sowohl die brasilianische als auch die argentinische Staatsangehörigkeit und war nach den Vergewaltigungsvorwürfen von Thelma Fardín im Jahr 2018 nach Brasilien gezogen. Brasilien liefert eigene Staatsangehörige nicht aus.
Im Mai 2024 starben drei lesbische Frauen, nachdem ein Mann einen Molotowcocktail in das Zimmer geworfen hatte, in dem sie schliefen.
Im August 2024 wurde ein Tatverdächtiger wegen des Mordes an Tehuel de la Torre schuldig gesprochen. Der junge trans Mann war am 11. März 2021 "verschwunden". Das Gericht entschied, dass erschwerende Umstände vorlagen, da das Tatmotiv Hass gegen die Geschlechtsidentität von Tehuel de la Torre gewesen sei. Damit wurde in Argentinien zum ersten Mal ein Urteil wegen schwerer geschlechtsspezifischer Gewalt gegen trans Männer gefällt. Die lesbische Menschenrechtlerin Pierina Nochetti stand seit 2022 unter Anklage, weil sie aus Protest gegen das "Verschwinden" von Tehuel de la Torre ein Graffiti auf eine öffentliche Wand gesprüht haben soll. Bei einer Verurteilung hätten ihr bis zu vier Jahre Haft gedroht. Im Oktober 2024 wurde sie freigesprochen.
Im April 2024 wurde der Influencer Emmanuel Danann wegen geschlechtsspezifischer Online-Schikane gegen die Journalistin Marina Abiuso zu Sozialstunden und zur Teilnahme an einem Workshop zur Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt verurteilt. Zudem wurde ihm verboten, über die Journalistin zu sprechen.
Zwischen 2018 und 2024 erlebten 63,5 Prozent der Journalistinnen in Argentinien digitale Gewalt. 85,6 Prozent von ihnen berichteten, zum Ziel von Drangsalierung oder "Trolling" geworden zu sein. Darüber hinaus erlebten 45,9 Prozent sexualisierte Belästigung oder die Androhung sexualisierter Gewalt. Die Hälfte dieser Journalistinnen gab an, in der Folge Selbstzensur geübt zu haben, während sich 34,5 Prozent entschieden, digitale Plattformen ganz zu verlassen.
Meinungsfreiheit und Massenüberwachung
Seit dem Amtsantritt von Javier Milei Ende 2023 waren knapp 30 Journalist*innen durch den Präsidenten oder andere Staatsbedienstete drangsaliert oder angegriffen worden, sowohl in den Sozialen Medien als auch über andere Medienkanäle.
Die vom Sicherheitsministerium herausgegebenen Beschlüsse 428/2024 und 710/2024 ermöglichten Maßnahmen zur Massenüberwachung. Sie sahen eine Überwachung der Sozialen Medien, digitaler Anwendungen und des Internets vor und gaben grünes Licht für den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware und Algorithmen für maschinelles Lernen, um "historische Verbrechensdaten zu analysieren und zukünftige Straftaten vorherzusagen".
Recht auf friedliche Versammlung
Im Dezember 2023 wurden Bestimmungen zur Einschränkung des Protestrechts bewilligt, woraufhin die Behörden verstärkt mit restriktiven Maßnahmen gegen öffentliche Demonstrationen vorgingen.
Am 1. Februar 2024 fand eine friedliche Protestveranstaltung gegen eine Gesetzesvorlage statt, die staatliche Sparmaßnahmen vorsah. Als die Polizei Gummigeschosse gegen die Demonstrierenden einsetzte, wurde Matías Aufieri getroffen und erblindete in der Folge auf dem linken Auge.Am 12. Juni 2024 wurden 33 Menschen während eines Protests gegen eine neue Version derselben Gesetzesvorlage willkürlich inhaftiert. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission verurteilte Kommentare der Behörden, in denen Demonstrierende stigmatisiert, kriminalisiert und als "Terrorist*innen mit Putschabsicht" bezeichnet wurde.
Straflosigkeit
Die Exekutive ordnete die Auflösung einer Sonderermittlungseinheit an, die mit der Suche nach Kindern beauftragt war, die ihren Familien während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 weggenommen worden und dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren.
Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte befand, dass Argentinien keine hinreichenden Maßnahmen ergriffen hatte, um den Angriff auf das Gemeindezentrum der Asociación Mutual Israelita Argentina (AMIA) am 18. Juli 1994 in Buenos Aires zu verhindern. Zudem erklärte der Gerichtshof, dass Argentinien seiner Verpflichtung, den Angriff und dessen Verschleierung mit der gebotenen Sorgfalt zu untersuchen, nicht nachgekommen war und gegen das Recht auf historische Wahrheit verstoßen hatte.
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Die Einführung staatlicher Sparmaßnahmen wirkte sich unverhältnismäßig stark auf Kinder und ältere Menschen aus.
Laut dem Statistikamt INDEC lebten im ersten Halbjahr 2024 in Argentinien 15,7 Mio. Menschen unter der Armutsgrenze; das waren 11,2 Prozent mehr als noch Ende 2023. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF berichtete, dass im April 2024 mehr als eine Million Kinder ohne Abendessen zu Bett gingen.
Die faktische Kürzung der Renten war eine der Hauptmaßnahmen im Rahmen der von der Regierung auferlegten Sparmaßnahmen. Im gesamten Jahr 2024 reichte die Grundrente nicht aus, um die Lebenshaltungskosten zu decken, was das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard beeinträchtigte. Zwar sprach sich der Kongress für eine Erhöhung der Rentenbezüge aus, der Präsident legte jedoch ein Veto gegen die geplanten Änderungen ein. Damit untergrub er die wirtschaftlichen und sozialen Rechte älterer Menschen.
Die Durchschnittsbevölkerung hatte unter wirtschaftlichen Entbehrungen zu leiden, während das Steuersystem regressive Steuerregelungen favorisierte und so die herrschenden Ungleichheiten noch verstärkte. Die Regierung gab an, dass Sparmaßnahmen und Kürzungen zum Erreichen eines ausgeglichenen Haushalts erforderlich seien. Gleichzeitig wurden progressive Steuern abgebaut und großen Unternehmen mehr Steuerbefreiungen gewährt.
Recht auf eine gesunde Umwelt
Die Haltung der Regierung zum Klimaschutz war fragwürdig. Präsident Milei bezeichnete die globale Erwärmung als "Lüge des Sozialismus" und kündigte an, Argentinien werde aus der Agenda 2030 und den mit ihr einhergehenden Verpflichtungen zur Eindämmung des Klimawandels aussteigen. Der Climate Action Tracker, ein unabhängiger internationaler Mechanismus zur Analyse der Klimapolitik der Länder, stufte die Klimaziele und die entsprechenden Maßnahmen Argentiniens als "völlig unzureichend" ein, da sie nicht annähernd mit dem im Pariser Abkommen festgelegten 1,5°C-Ziel vereinbar waren.
Die Regierung brachte zudem regressive Gesetze ein, um die Abholzung in Schutzgebieten zu ermöglichen und Bergbauaktivitäten in Gletschergebieten zu erlauben. Die Reformen waren bis Ende 2024 noch nicht verabschiedet worden.
Veröffentlichungen von Amnesty International
- Argentina: Ongoing criminalization against LGBT+ activist, 30 May
- Muted: The impact of digital violence against women journalists, 15 October (Spanish only)
- Escalation of attacks on freedom of expression in Argentina: Amnesty International's letter to the Inter-American Commission on Human Rights (IACHR), 23 July (Spanish only)