Amnesty International Report 2023/24; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Sudan 2023

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Der bewaffnete Konflikt zwischen den sudanesischen Streitkräften und den paramilitärischen Rapid Support Forces sowie den mit ihnen verbündeten Milizen war durch gezielte und wahllose Angriffe gekennzeichnet und führte zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung. Alle Konfliktparteien verübten schwere Verstöße gegen internationale Menschenrechtsnormen und das humanitäre Völkerrecht. Frauen und Mädchen waren in Verbindung mit dem Konflikt sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Die während des Konflikts verübten Verstöße und Menschenrechtsverletzungen blieben straflos. Millionen Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben, und rund 1,4 Mio. flohen in Nachbarländer, wo sie unter extrem schwierigen Bedingungen lebten.

Hintergrund

Im April 2023 brachen in der Hauptstadt Khartum heftige Kämpfe zwischen der sudanesischen Armee unter Führung von General Abdel Fattah al-Burhan und den paramilitärischen Einheiten der Rapid Support Forces (RSF) unter dem Kommando von General Mohamed Hamdan Dagalo (auch bekannt als Hemedti) aus. Die Kampfhandlungen weiteten sich schnell auf andere Gebiete wie Darfur und Nord-Kordofan aus. Den bewaffneten Kämpfen waren monatelange Spannungen zwischen den beiden Seiten vorausgegangen, welche u. a. die Reform des Sicherheitsapparats betrafen, die im Rahmen der Verhandlungen über eine neue Übergangsregierung vorgeschlagen worden war.

Trotz mehrfacher Waffenstillstandserklärungen weiteten sich die Kämpfe im Laufe des Jahres aus. Von April bis Dezember 2023 wurden nach Angaben der Vereinten Nationen landesweit mehr als 12.000 Menschen getötet. Im Oktober wurde bekannt, dass etwa 15 Mio. Menschen (31 Prozent der Bevölkerung) unter akuter Ernährungsunsicherheit litten.

In Khartum und in der Region Darfur wurden zahlreiche Häuser, Geschäfte, Banken und öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser sowie Lagerhäuser humanitärer Organisationen geplündert, zumeist von RSF-Kämpfern.

Zudem verursachte der 20 Jahre alte Konflikt in der Region Darfur weiterhin unermessliches Leid.

Wahllose Angriffe

Die sudanesische Armee und die RSF setzten bei ihren Angriffen, die sie in und aus dicht besiedelten zivilen Wohngebieten verübten, häufig Explosivwaffen mit großflächiger Wirkung ein. Dabei gerieten zahlreiche Zivilpersonen ins Kreuzfeuer. Viele wurden in ihren Häusern oder bei ihrer verzweifelten Suche nach Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Dingen getötet. Andere wurden auf der Flucht vor der Gewalt oder an Orten, an denen sie Schutz gesucht hatten, verletzt oder getötet. In den meisten Fällen ließ sich kaum feststellen, von welcher Konfliktpartei die Geschosse stammten, die die Zivilpersonen verletzt oder getötet hatten.

Am 15. April 2023, dem Tag, an dem die Kämpfe erneut ausbrachen, schlug ein verirrtes Geschoss in ein Haus im Viertel Hay al-Manara der Stadt Omdurman ein. Dabei wurde die Ärztin Ala' Fawzi al-Mardi getötet und ihre Mutter Zeinab Ahmad Othman schwer verletzt.

Am 24. April 2023 tötete ein Sprengkörper die Anwältin Suhair Abdallah al-Bashir und ihre beiden Schwager Mohammed und Omar al-Rayeh im Zentrum von Khartum. Sie waren aus ihrem Haus getreten, das in der Nähe des Außenministeriums lag, und wollten die Stadt verlassen, als die Munition neben ihrem Fahrzeug einschlug.

Am 18. Mai 2023 wurden Khadija Mustafa Osman Said, ihre Söhne Haydar Hamed Guma Khater und Hameid Hamed Guma Khater sowie ihr Nachbar Mustafa Ali Hamdan getötet, als Geschosse ihr Haus im Viertel Imtidad nahe dem Stadtzentrum von Nyala im Bundesstaat Süd-Darfur trafen.

Am 21. Mai 2023 starben bei einem Angriff in El Geneina, der Hauptstadt des Bundesstaats West-Darfur, mindestens sieben Menschen. Zwölf weitere erlitten Verletzungen. Der Angriff traf das Landwirtschaftsministerium im Norden des Viertels Al-Jamarik, wo viele Menschen, die ihre Häuser verlassen hatten, Zuflucht gesucht hatten.

Auch am 14. Juni 2023 wurden in El Geneina zahlreiche Zivilpersonen verletzt oder getötet. Zu den Schwerverletzten zählte Gamra Mustafa, die in ihrem Haus im Stadtteil Al-Madaris von zwei Kugeln getroffen wurde. Im nahe gelegenen Viertel Hay al-Riadh starb der siebenjährige Adnan Is'haq, als ihn zu Hause eine verirrte Kugel in die Brust traf.

Rechtswidrige Angriffe und Tötungen

In Khartum und anderen Teilen des Landes wurden Zivilpersonen durch gezielte Angriffe verletzt oder getötet, vor allem im Bundesstaat West-Darfur.

Am 13. Mai 2023 drangen Kämpfer der RSF in die koptische Kirche Mar Girgis (St. Georg) im Stadtteil Bahri (Khartum-Nord) ein. Sie schossen auf die Anwesenden und verletzten fünf Personen. Außerdem stahlen sie Geld und ein goldenes Kreuz.

Am 19. Mai 2023 erschossen RSF-Kämpfer Peter Kiano, einen Lehrer für Mathematik und Ingenieurwesen, in einem südlichen Außenbezirk von Khartum vor einem Restaurant. Der 60-Jährige stammte aus dem Südsudan und arbeitete seit vielen Jahren in Khartum.

In der Region Darfur nahmen die Spannungen zu. Schwer bewaffnete arabische Milizen griffen mit Unterstützung von RSF-Kämpfern El Geneina, Misterei, Tandelti und weitere Städte und Dörfer in West-Darfur an. Viele Angehörige der ethnischen Gemeinschaft der Masalit wurden bei ethnisch motivierten Angriffen vorsätzlich getötet oder verletzt, vor allem Männer und ältere Jungen.

Am 25. April 2023 wurden in El Geneina Ibrahim Adam Mohamed und sein Bruder Mohamed von arabischen Milizionären angeschossen und verletzt, als sie vor ihrem Haus im Bouhaira-Viertel saßen.

Am 14. Mai 2023 wurden der Arzt und Menschenrechtsverteidiger Adam Zakaria Is'haq, der für das Darfur Network for Human Rights arbeitete, und 13 weitere Personen in einer Krankenstation (Medical Rescue Centre) im Jamarik-Viertel in El Geneina getötet.

Am 17. Mai 2023 erschossen arabische Milizionäre in der Stadt Tandelti, die nordwestlich von El Geneina nahe der Grenze zum Tschad liegt, gezielt die beiden Landwirte Abderrahman Ibrahim Ahmed und Ali Is'haq Ali Bashir. Bei demselben Vorfall wurden außerdem Mariam Mohamed Ahmad, ihr Cousin Hassan Ibrahim und drei weitere Menschen getötet.

Am 28. Mai 2023 wurden in der südwestlich von El Geneina gelegenen Stadt Misterei bei Zusammenstößen zwischen der RSF und mit ihnen verbündeten Milizen einerseits und bewaffneten Masalit-Gruppen andererseits zahlreiche Zivilpersonen getötet. RSF-Kämpfer töteten dabei fünf Brüder unter einem Dach.

Am 14. Juni 2023 wurde der Gouverneur von West-Darfur und Anführer der bewaffneten Gruppe Sudanese Alliance, Khamis Abakar, in El Geneina getötet. Er war zuvor von RSF-Kämpfern gefangen genommen worden.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Zahlreiche Frauen und Mädchen wurden 2023 in Verbindung mit dem Konflikt vergewaltigt und anderen Formen sexualisierter Gewalt durch Angehörige der Konfliktparteien ausgesetzt, insbesondere durch Kämpfer der RSF und der mit ihr verbündeten Milizen. Die jüngsten Opfer waren zwölf Jahre alt. Die meisten betroffenen Frauen und Mädchen waren Sudanesinnen, einige stammten aus anderen Ländern. Sie erlebten sexualisierte Gewalt zu Hause oder wenn sie auf der Suche nach Lebensmitteln oder anderen lebensnotwendigen Dingen unterwegs waren. Viele wurden verschleppt. In einem Fall entführten RSF-Kämpfer eine Gruppe von 24 Frauen und Mädchen und brachten sie in ein Hotel in Nyala, wo sie mehrere Tage lang unter Bedingungen festgehalten wurden, die sexueller Sklaverei gleichkamen, und mehrere RSF-Mitglieder sie vergewaltigten.

Am 22. Juni 2023 überfielen drei bewaffnete arabische Männer in Zivil eine 25-jährige Frau und drängten sie in das Gebäude des Standesamts im Al-Jamarik-Viertel in El Geneina, wo sie sie mehrfach vergewaltigten.

Viele Überlebende erhielten nicht die notwendige medizinische und psychosoziale Unterstützung, da ihnen kaum Dienste zur Verfügung standen, die Schutz, Rehabilitation oder Hilfe bei der Existenzsicherung anboten. Im Zuge des Konflikts waren viele Gesundheitseinrichtungen beschädigt und geplündert worden, und medizinisches Personal war geflohen. Eine zeitnahe Versorgung nach einer Vergewaltigung war nur begrenzt oder gar nicht vorhanden. Vielfach waren die Betroffenen nicht in der Lage oder hatten Angst, Übergriffe zu melden und medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zudem waren die Telefon- und Internetverbindungen schwach bzw. in einigen Gebieten unterbrochen, und die Bewegungsfreiheit war durch den Konflikt stark eingeschränkt.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im Juli 2023 teilte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) mit, die Anklagebehörde habe Ermittlungen zu den jüngsten Angriffen in Darfur aufgenommen. Gegen drei Personen, darunter den ehemaligen Präsidenten Omar al-Bashir, lagen Anklagen vor dem IStGH vor, doch hatten die sudanesischen Behörden sie noch nicht an den Strafgerichtshof überstellt.

Am 11. Oktober 2023 beschloss der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution, mit der eine unabhängige internationale Untersuchungskommission für den Sudan eingerichtet wurde. Sie soll die Fakten, Umstände und Ursachen der im Zuge des Konflikts verübten mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, einschließlich derer, die gegen Flüchtlinge verübt wurden, untersuchen und Beweise sichern.

Rechte von Binnenvertriebenen

Der Konflikt hatte verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, und die Lage verschlechterte sich 2023 zunehmend. Mehr als 5,8 Mio. Menschen wurden seit April vertrieben, was Sudan zum Schauplatz der weltweit größten Vertreibungskrise machte. Nach UN-Angaben wurden allein zwischen dem 15. April und dem 19. Oktober 2023 mehr als 4,5 Mio. Menschen vertrieben. Unter den Vertriebenen waren auch Flüchtlinge aus anderen Ländern, insbesondere aus Äthiopien, Eritrea und dem Südsudan, die im Sudan Zuflucht gesucht hatten. Die schwierige humanitäre Lage der Binnenvertriebenen wurde durch den akuten Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff noch verschärft. Weil Handelswege unterbrochen und lebenswichtige Güter knapp waren, stiegen deren Preise so drastisch an, dass die Bevölkerung sie nicht mehr bezahlen konnte.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Seit dem 15. April 2023 waren etwa 1,4 Mio. Menschen in die Nachbarländer Ägypten, Äthiopien, Südsudan, Tschad und Zentralafrikanische Republik geflohen, wo sie unter äußerst schwierigen Bedingungen lebten. Einige Asylsuchende aus dem Sudan mussten erleben, dass man ihnen die Einreise in ein Land verweigerte, wodurch sie Gefahr liefen, in die gefährliche Situation zurückkehren zu müssen, vor der sie geflüchtet waren. Die ägyptischen Behörden verlangten von allen sudanesischen Staatsangehörigen ein Einreisevisum, das nur von den ägyptischen Konsulaten in den sudanesischen Städten Wadi Halfa oder Port Sudan ausgestellt wurde. Am 29. Mai 2023 führte Ägypten außerdem als zusätzliche Anforderung vor der Einreise eine Sicherheitsüberprüfung für alle Jungen und Männer zwischen 16 und 50 Jahren ein (siehe Länderkapitel Ägypten).

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