Amnesty International Report 2023/24; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Schweiz 2023

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Das Sexualstrafrecht wurde revidiert und der Tatbestand der Vergewaltigung erweitert, wodurch nicht einvernehmliche sexuelle Handlungen stärker unter Strafe gestellt wurden. Die vollständige Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen wurde im Parlament abgelehnt. Die "Inklusions-Initiative" wurde lanciert, welche die Rechte von Menschen mit Behinderungen voranbringen will. Friedliche Demonstrierende waren in mehreren Kantonen mit unverhältnismäßigen Einschränkungen durch Polizei und Behörden konfrontiert. Die Bemühungen, eine Definition von Folter im Strafgesetzbuch zu verankern, wurden fortgesetzt. Flüchtlinge und Migrant*innen erhielten noch immer zu wenig Unterstützung und Schutz. Eine große Bevölkerungsmehrheit sprach sich für verstärkte Maßnahmen gegen den Klimawandel aus. Die automatische Gesichtserkennung wurde in mehreren Städten verboten.

Hintergrund

Im Mai 2023 erfolgte nach zwanzigjähriger Vorbereitung die formelle Gründung der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution. Es gab jedoch Bedenken hinsichtlich der Finanzierung, die als unzureichend betrachtet wurde, und wegen des fehlenden Mandats zur Entgegennahme von Beschwerden.

Die Schweiz war Gegenstand mehrerer internationaler Menschenrechtsüberprüfungen. Im Rahmen der Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsrat (UPR-Prozess) zeigte sich die Regierung noch immer nicht bereit, ausreichend in einen ständigen interinstitutionellen Mechanismus zur Koordinierung der Umsetzung der internationalen Menschenrechtsverpflichtungen zu investieren oder sicherzustellen, dass Volksinitiativen in vollem Umfang mit internationalen Menschenrechtsnormen vereinbar waren, ehe sie zur Abstimmung gelangten.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Die Bundesversammlung verabschiedete im Juni 2023 eine Änderung des Strafgesetzbuchs. Dieser zufolge gilt jede sexuelle Penetration, die "gegen den Willen einer Person" erfolgt, als Vergewaltigung. Das Gesetz, das im Jahr 2024 in Kraft treten soll, ersetzt eine veraltete Vergewaltigungsdefinition, die sich auf tätliche Gewalt, Nötigung oder Zwang stützte und nur Frauen als Opfer in Betracht zog.

Zudem forderte das Parlament alle Kantone auf, Krisenzentren für Überlebende von geschlechtsspezifischer Gewalt einzurichten, und gab eine Studie in Auftrag, die ermitteln soll, mit welchen Hindernissen die Betroffenen im Justizsystem konfrontiert sind.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Der Ständerat stimmte mit knapper Mehrheit gegen eine parlamentarische Initiative zur vollständigen Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.

Rechte von Menschen mit Behinderungen

Nachdem der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2022 die Behandlung dieser Menschen in der Schweiz kritisiert hatte, wurde 2023 die "Inklusions-Initiative" ins Leben gerufen. Sie will die rechtliche und wirksame Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen erreichen.

Recht auf friedliche Versammlung

Für öffentliche Versammlungen war in der Schweiz nach wie vor eine Bewilligung erforderlich. Nicht bewilligte friedliche Demonstrationen wurden gewaltsam aufgelöst, u. a. in Basel und Genf.

In den Kantonen Zürich und Basel-Stadt startete der Jugendflügel einer rechtsbürgerlichen Partei eine Volksinitiative, um die Bewilligungspflicht für Demonstrationen weiter zu zementieren und außerordentliche Polizeikosten auf die Organisator*innen von Kundgebungen zu überwälzen.

Nach der Eskalation des Nahostkonflikts in Gaza wurden in mehreren Städten der Deutschschweiz vorübergehende Demonstrationsverbote verhängt.

 

Folter und andere Misshandlungen

Der UN-Ausschuss gegen Folter nahm eine Überprüfung der Schweiz vor. Er forderte rasche Fortschritte bei der Einführung eines Foltertatbestands im Schweizer Strafrecht sowie bei der Stärkung des nationalen Präventionsmechanismus und der Schaffung eines unabhängigen Mechanismus zur Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung von Vorwürfen über Polizeigewalt und Gewalt gegen Personen in Gewahrsam in allen Kantonen.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kritisierte, dass die Kriterien für die Familienzusammenführung für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge in der Schweiz zu streng seien. In einem Urteil vom Juli 2023 befand das Gericht, die Schweiz habe in drei Fällen die Achtung des Rechts auf Familienleben verletzt, indem die Behörden Gesuche um Familiennachzug abgelehnt hatten, weil die Geflüchteten auf Sozialhilfe angewiesen waren.

Die Schweiz schob weiterhin Menschen nach Kroatien ab, obwohl Kroatien nachweislich summarische Abschiebungen vornahm und gravierende Mängel im Asylsystem aufwies. Zu den Betroffenen zählten auch Personen mit gesundheitlichen Problemen und Traumata. Das Schweizer Resettlement-Programm zur Aufnahme besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge blieb 2023 ausgesetzt, weshalb Flüchtlinge nicht auf regulärem und sicherem Wege Schutz in der Schweiz suchen konnten. Eine von der Regierung in Auftrag gegebene Studie ergab, dass die medizinische Versorgung von Asylsuchenden in den Unterkünften des Bundes und der Kantone verbessert werden muss. Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter äußerte sich besorgt über die unzureichende Betreuung unbegleiteter Minderjähriger in den Asylunterkünften des Bundes.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Im Juni 2023 stimmten in einer Volksabstimmung 59 Prozent der Stimmberechtigten einem neuen Klimagesetz zu, das einen schnelleren Umstieg von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien und eine Reduktion der negativen Auswirkungen des Finanzsektors auf das Klima vorsieht. Zwar unterstützte Amnesty International das Gesetz, doch die vorgesehenen Maßnahmen waren weiterhin ungenügend, um einen schnellen Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen bis 2030 zu erreichen.

Recht auf Privatsphäre

Nach entsprechender Kampagnenarbeit durch Amnesty International und andere Organisationen forderten parlamentarische Initiativen in acht Städten und Kantonen ein Verbot der automatischen Gesichtserkennung im öffentlichen Raum. In den Städten Zürich, St. Gallen und Lausanne sowie im Kanton Basel-Stadt nahmen die Parlamente Vorstöße (Anträge) für ein Verbot der Gesichtserkennung an. Auch in den Städten Luzern und Genf sowie in den Kantonen Zürich und Basel-Landschaft wurden ähnliche Vorstöße auf den Weg gebracht. In einer landesweiten Umfrage sprachen sich 78 Prozent der Kandidat*innen für das Eidgenössische Parlament für ein solches Verbot aus.

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