UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus Haiti fliehen; Zusammenfassung

1.  Diese Internationalen Schutzerwägungen werden vor dem Hintergrund der multidimensionalen politischen, sicherheitsrelevanten, menschenrechtlichen und humanitären Krise, mit der Haiti konfrontiert ist, veröffentlicht. Das Dokument enthält Informationen über Entwicklungen, die sich auf die Bewertung des internationalen Schutzbedarfs von Personen aus Haiti auswirken, die unter bestimmte Risikoprofile fallen oder sich in bestimmten Situationen befinden. Die Schutzerwägungen basieren auf bis zum 12. März 2024 verfügbaren Informationen, sofern nicht anders angegeben. Alle Bewertungen des internationalen Schutzbedarfs von Menschen, die aus Haiti fliehen, müssen auf zuverlässigen, relevanten und aktuellen Informationen über die Situation im Land basieren.

2.  UNHCR ist der Ansicht, dass Asylsuchende aus Haiti, die unter eines oder mehrere der folgenden Risikoprofile fallen, abhängig von den Umständen des Einzelfalls, internationalen Flüchtlingsschutz benötigen können:  

1.        Politische Aktivist*innen und (vermeintliche) Gegner*innen der Regierung; 

2.        Personen, die sich (vermeintlich) Banden entgegenstellen; 

3.        Richter*innen, Staatsanwält*innen und Anwält*innen, die an der Bekämpfung von Korruption und Kriminalität beteiligt sind; 

4.        Journalist*innen und Medienmitarbeitende; 

5.        Frauen und Mädchen; 

6.        Kinder; 

7.        Personen unterschiedlicher sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdrücke und/oder Geschlechtsmerkmale (SOGIESC);  

8.        Überlebende von Menschenhandel und Personen, die Gefahr laufen, Opfer von Menschenhandel zu werden; 

9.        Personen mit (vermeintlichen) finanziellen Mitteln oder mit (vermeintlichem) Zugang zu Ressourcen, sowie deren Angehörige; 

10.     Personen mit Behinderungen; 

11.     Personen, die mit HIV/AIDS leben. 
 

3.  Kapitel III.B der Internationalen Schutzerwägungen enthält Leitlinien für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter dem erweiterten Mandat von UNHCR oder regionalen Instrumenten, oder für die Berechtigung auf komplementäre Schutzformen. 

UNHCR ist der Ansicht, dass Haitianer*innen oder staatenlose Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Haiti hatten, und bei denen festgestellt wird, dass sie die Flüchtlingskriterien der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht erfüllen, aufgrund ernsthafter Bedrohungen für das Leben, die körperliche Integrität oder die Freiheit infolge von Ereignissen, die die öffentliche Ordnung ernsthaft stören, sowohl nach dem erweiterten Mandat von UNHCR als auch nach den Bedingungen der Cartagena-Erklärung und der OAU-Konvention von 1969 internationalen Schutz benötigen können.  

Ähnliche Überlegungen gelten für Personen, die aus Gebieten stammen oder dort gelebt haben, die von Banden kontrolliert werden oder in denen Banden einen erheblichen Einfluss ausüben, oder Gebiete, in die Banden zu expandieren versuchen. 

4.  Aus Haiti stammende Antragsteller*innen, die in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union internationalen Schutz suchen und nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht als Flüchtlinge anerkannt werden, können gemäß Artikel 15 der EU-Qualifikationsrichtlinie einen Anspruch auf subsidiären Schutz haben, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass ihnen in Haiti die reale Gefahr eines ernsthaften Schadens droht. In Anbetracht der in diesen Schutzerwägungen dargelegten Informationen können Haitianer*innen oder staatenlose Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Haiti hatten, je nach den Umständen des Einzelfalls subsidiären Schutz gemäß Artikel 15(a) oder Artikel 15(b) der EU-Qualifikationsrichtlinie aufgrund der realen Gefahr eines ernsthaften Schadens, entweder durch Banden, kriminelle Gruppen, den Staat oder seine Vertretenden, benötigen. 

Darüber hinaus können in Anbetracht der in diesen Schutzerwägungen dargelegten Informationen Haitianer*innen oder staatenlose Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Haiti hatten, und aus Gebieten stammen oder sich zuvor in Gebieten aufgehalten haben, die von Banden kontrolliert werden oder über die Banden versuchen, die Kontrolle auszuüben, je nach den individuellen Umständen des Einzelfalls subsidiären Schutz gemäß Artikel 15(c) der EU-Qualifikationsrichtlinie aufgrund einer ersthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Person durch willkürliche Gewalt benötigen. 

5.  Kapitel III.C der Internationalen Schutzerwägungen enthält Leitlinien zur Beurteilung der Verfügbarkeit einer internen Flucht- oder Umsiedlungsalternative (IFA/IRA). In Anbetracht der Einordnung der Situation in Haiti als schwerwiegende Störung der öffentlichen Ordnung oder alternativ als massive Verletzung der Menschenrechte ist UNHCR der Ansicht, dass keine IFA/IRA für haitianische Staatsangehörige oder staatenlose Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Haiti hatten und bei denen eine begründete Furcht vor Verfolgung gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 in Bezug auf ihr Heimatgebiet in Haiti festgestellt wurde, zur Verfügung steht.

Ebenso ist UNHCR der Ansicht, dass für haitianische Staatsangehörige oder staatenlose Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Haiti hatten, keine IFA/IRA zur Verfügung steht, wenn festgestellt wurde, dass sie die weiter gefassten Flüchtlingskriterien im Rahmen des UNHCR-Mandats oder der Cartagena-Erklärung in Bezug auf ihr Heimatgebiet in Haiti erfüllen.  

Die objektiven Umstände in Haiti bedeuten auch, dass es für Personen, die die Kriterien für subsidiären Schutz gemäß der EU-Qualifikationsrichtlinie in Bezug auf ihr Heimatgebiet erfüllen, keine IFA/IRA gibt. 

Die Hindernisse, die den Zugang zu humanitärer Hilfe in vielen Teilen Haitis erschweren, und die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit aufgrund von Sicherheitsbedenken (siehe Abschnitt II.E.1) sind weitere Faktoren, die gegen die Verfügbarkeit einer IFA/IRA sprechen. 

6.  Unter den haitianischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Haiti, die um internationalen Schutz ansuchen, kann es Personen geben, die mit Handlungen in Verbindung gebracht werden, die in den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln gemäß Artikel 1F der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 fallen. Die Frage der individuellen Verantwortung für Straftaten, die zu einem Ausschluss vom internationalen Flüchtlingsschutz führen können, muss stets sorgfältig geprüft werden. Angesichts der potenziell schwerwiegenden Folgen eines Ausschlusses vom internationalen Flüchtlingsschutz müssen die Ausschlussklauseln restriktiv ausgelegt und mit Vorsicht angewandt werden. Die bloße Mitgliedschaft in einer Bande oder kriminellen Vereinigung ist kein ausreichender Grund für einen Ausschluss. In allen Fällen ist eine umfassende Bewertung der Umstände des Einzelfalls erforderlich. 

7.  Angesichts der äußerst besorgniserregenden und instabilen Sicherheits-, humanitären und Menschenrechtslage in Haiti wiederholt UNHCR seinen Aufruf an die Staaten, niemanden zwangsweise in das Land zurückzuführen, einschließlich derjenigen, deren Asylantrag abgelehnt wurde oder die sonst als nicht schutzbedürftig eingestuft worden sind. 

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