Dokument #2095332
ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (Autor)
2. August 2023
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Die folgenden Ausschnitte aus ausgewählten Quellen enthalten Informationen zu oben genannter Fragestellung (Zugriff auf alle Quellen am [Veröffentlichungsdatum]):
Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023
Die Position des/r Menschenrechtskommissar·in des Europarats (Council of Europe - Commissioner for Human Rights, CoE-CommDH) ist eine unabhängige und unparteiische nichtgerichtliche Position, die 1999 zur Förderung der Menschenrechte in Mitgliedstaaten des Europarates geschaffen wurde.
· CoE-CommDH – Council of Europe - Commissioner for Human Rights: The Turkish authorities must protect democratic freedoms, 5. Mai 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2092686.html
„The Turkish authorities should put an end to the hostile environment affecting human rights defenders, journalists, NGOs and lawyers and stop silencing them by means of administrative and judicial action. Ahead of elections, the pressure on these important actors in a democratic society has intensified […].
The latest mass raids and the arrests of more than 120 persons across Türkiye, including journalists, lawyers, opposition politicians, and artists, reportedly on grounds of being members of a terrorist organisation, raise serious concerns in this regard. There have so far been allegations of violations of procedural guarantees and of police violence in this context […].” (CoE-CommDH, 5. Mai 2023)
Die parlamentarische Versammlung des Europarates (Council of Europe - Parliamentary Assembly, CoE-PACE) ist eine interparlamentarische Organisation, die aus 318 Delegierten aus den Parlamenten der Mitgliedstaaten besteht und sich mit Demokratie, Menschenrechten und politischen, wirtschaftlichen und sozialen Themen befasst.
· CoE-PACE – Council of Europe - Parliamentary Assembly: Observation of the presidential and parliamentary elections in Türkiye (14 and 28 May 2023) [Doc. 15793], 17. Juni 2023
https://www.ecoi.net/en/file/local/2094004/doc.+15793.pdf
„9. Concerns of various international organisations about systematic targeting of some opposition parties and figures in the recent years were reiterated by some IEOM [International Election Observation Mission] interlocutors emphasising the potential impact on their ability to participate in elections. Dissolution proceedings against the People’s Democratic Party (HDP), initiated in March 2021, continued throughout the elections. In connection to the ongoing case, HDP chose to run its candidates under the Green Left Party (YSP) and formed the Labour and Freedom coalition with the Worker’s Party of Türkiye (TİP).
10. These concerns had been expressed by the Assembly in its Resolution 2459 (2022) […]. The Assembly notably highlighted:
– the ongoing crackdown on members of the political opposition and the attempt to close the HDP; […]
– the overly broad interpretation of anti-terror legislation that remained worrisome; […]
– the urgent reforms needed to restore the full independence of the judiciary and an effective system of checks and balances.” (CoE-PACE, 17. Juni 2023, S. 2)
„52. The elections offered voters a genuine choice between political alternatives. In the campaign, the fundamental freedoms of association and assembly were generally respected, with some notable exceptions. Representatives of Green-Left Party (YSP) faced pervasive pressure and intimidation targeting their campaign events and supporters and involving systematic detentions. […]
Representatives and supporters of YSP [Green-Left Party] and HDP [People’s Democratic Party] continued to face intimidation and harassment.” (CoE-PACE, 17. Juni 2023, S. 7)
„129. The overall repressive environment against the opposition aggravated this unlevel playing field: our delegation stressed that intimidation, harassment, persecution or conviction of opposition members and opposition parties impacted the overall ability of opposition parties to operate and run campaigns and political activities, as already stressed in several PACE reports. Continued restrictions on fundamental freedoms of assembly, association and expression hindered the participation of some opposition politicians and parties, as well as civil society and independent media.” (CoE-PACE, 17. Juni 2023, S. 15)
Laut eigenen Angaben ist Mena-Watch ein unabhängiger Nahost-Thinktank mit Sitz in Wien, der vor allem Analysen und Kommentare renommierter Expert·innen und Autor·innen zu aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten und Nordafrika publiziert.
· Mena-Watch: Kurz vor Türkei-Wahlen: Massenverhaftung kurdischer Oppositioneller, 27. April 2023
https://www.mena-watch.com/tuerkei-massenverhaftung-kurdische-opposition/
„Knapp drei Wochen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen hat die türkische Polizei am frühen Dienstagmorgen bei Razzien über hundert pro-kurdische Anwälte, Journalisten, Aktivisten und Politiker festgenommen, darunter auch einen hochrangigen Vertreter der Demokratischen Volkspartei (HDP). Wie die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu Agency berichtete, fand die Operation in der kurdischen Stadt Diyarbakir (Amed) und in zwanzig weiteren Provinzen statt und führte zur Verhaftung von mindestens 160 Personen wegen angeblicher Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Der HDP-Abgeordnete im türkischen Parlament, Tayip Temel, machte die Verhaftungen öffentlich und erklärte, dass es sich dabei um einen Versuch der türkischen Machthaber, vor den Wahlen im Mai ihre Macht zu sichern, handelt. Temel sagte, bei den Razzien seien Journalisten, Künstler, Anwälte und Mitglieder der pro-kurdischen Partei verhaftet worden. […]
Laut HDP seien der stellvertretende Ko-Vorsitzende der Partei, Özlem Gunduz, und das Mitglied des Zentralen Exekutivausschusses, Mahvuz Guleryuz, unter den Verhafteten. […]
Die stellvertretende Direktorin von Human Rights Watch in Europa und Zentralasien, Emma Sinclair-Webb, bezeichnete die Verhaftungswelle als ‚Machtmissbrauch und Einschüchterungstaktik‘. […]
Es ist nicht das erste Mal, dass HDP-Mitglieder und -Sympathisanten von solchen Razzien betroffen sind. Im Jahr 2020 erließen die türkischen Behörden Haftbefehle gegen 82 Personen, darunter HDP-Funktionäre, ehemalige Parlamentsabgeordnete und einen Bürgermeister, im Zusammenhang mit den Protesten, die im Jahr 2014 während der Angriffe des Islamischen Staates auf die Stadt Rojava im Nordosten Syriens stattfanden. Im November 2016 wurde der stellvertretende HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas festgenommen und sitzt seitdem in Haft.
Die HDP selbst ist von der Auflösung bedroht, da die türkische Staatsanwaltschaft vor dem Verfassungsgericht ein Verfahren gegen die Partei wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur PKK eingeleitet hat.“ (Mena-Watch, 27. April 2023)
Reporters Sans Frontières (RSF) ist eine internationale NGO, die sich für Medienfreiheit einsetzt.
· RSF – Reporters Sans Frontières: Another wave of arrests of Kurdish journalists in Türkiye, 25. April 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2091289.html
„At least ten journalists with pro-Kurdish media outlets were arrested on 25 April for alleged membership of the banned Kurdistan Workers’ Party (PKK). […]
The journalists were among the more than 100 people, including lawyers and local politicians, who were arrested in a major police operation on 25 April – 19 days ahead of presidential and parliamentary elections – targeting pro-Kurdish opposition circles in the southeastern city of Diyarbakir and 20 other cities in Türkiye, including Istanbul, Ankara and Izmir.
‘It seems clear that this was a political manoeuvre designed to dismantle pro-Kurdish media and destabilise opposition parties before the elections […].[‘]
Erol Onderoglu
RSF representative in Türkiye“ (RSF, 25. April 2023)
Der Standard ist eine österreichische Tageszeitung.
· Der Standard: Türkische Opposition ortet nach Verhaftungswelle gezielten Schwächungsversuch durch Erdoğan, 25. April 2023
https://www.derstandard.de/story/2000145857468/tuerkische-opposition-ortet-nach-verhaftungswelle-gezielten-schwaechungsversuch-durch-erdogan
„Im Rahmen einer Großrazzia am Dienstagmorgen sind insgesamt 110 kurdische Politiker, Journalisten und Anwälte festgenommen worden. […]
Schwerpunkt der Festnahmen war Diyarbakır, die größte kurdisch bewohnte Stadt der Türkei. Allerdings waren von den Razzien insgesamt 21 Provinzen betroffen. Zu den festgenommenen Politikern gehört nach Angaben der kurdisch-linken HDP [Halkların Demokratik Partisi] Özlem Gündüz, ein Vorstandsmitglied der Partei, Mahfuz Güleryüz vom erweiterten Vorstand und dutzende weitere Parteimitglieder. Wie die Anwaltskammer in Diyarbakır bestätigte, ist auch eine Reihe von Anwälten, die sich in der Vereinigung der ‚Anwälte für die Freiheit‘ zusammengeschlossen haben, festgenommen worden. […]
Die Staatsanwaltschaft erklärte zur Begründung der Festnahmen, es gehe um Unterstützung der ‚Terrororganisation PKK [Partiya Karkerên Kurdistanê]‘. Den Festgenommenen werde entweder finanzielle oder propagandistische Unterstützung der PKK vorgeworfen.
Die HDP wirft der Regierung von Präsident Tayyip Erdoğan dagegen vor, bei der Razzia gehe es darum, drei Wochen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai kurdische Organisationen zu schwächen und Wähler der HDP zu verunsichern.“ (Der Standard, 25. April 2023)
HDP (Halkların Demokratik Partisi) und Verbotsverfahren gegen HDP
Human Rights Watch (HRW) ist eine international tätige Menschenrechtsorganisation.
· HRW – Human Rights Watch: World Report 2023: Turkey - Events of 2022, 2023
https://www.hrw.org/world-report/2023/country-chapters/turkey
„President Recep Tayyip Erdoğan’s authoritarian government regularly targeted perceived government critics and political opponents and exerted strong control over the media and judiciary in the long run-up to parliamentary and presidential elections that will take place in the first half of 2023. […]
With the ruling coalition persisting in its campaign of criminalizing the opposition Peoples’ Democratic Party (HDP [Halkların Demokratik Partisi]) which has 56 seats in parliament, scores of former HDP members of parliament and mayors are held as remand prisoners or are serving sentences after being convicted of terrorism offenses because of their legitimate non-violent political activities, speeches, and social media postings. Among them are jailed former co-chairs Selahattin Demirtaş and Figen Yüksekdağ, in prison since November 4, 2016, despite a 2020 ECtHR [European Court of Human Rights] judgment ordering Demirtas’s immediate release. A closure case against the HDP was pending before the Constitutional Court.” (HRW, 2023)
Amnesty International (AI) ist eine internationale Menschenrechtsorganisation.
· AI – Amnesty International: Wahlen in der Türkei: Oppositionspartei HDP droht Verbot, 13. April 2023
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/tuerkei-wahlen-oppositionspartei-hdp-droht-verbot
„Die pro-kurdische ‚Demokratische Partei der Völker‘ (HDP) ist die zweitgrößte Oppositionspartei der Türkei. Seit 2021 läuft gegen sie ein Verbotsverfahren. Noch steht ein Urteilsspruch des türkischen Verfassungsgerichts aus. […]
Der Generalstaatsanwalt beim türkischen Kassationsgericht hatte im März 2021 eine Klageschrift auf das Verbot der HDP eingereicht. Zuvor hatte der Vorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahçeli, wiederholt öffentlich dazu aufgerufen, die HDP wegen angeblicher ‚Terrorverbindungen‘ zu verbieten. Das Verfassungsgericht verwies die Anklageschrift an den Generalstaatsanwalt zurück. Die Begründung lautete, dass die Anklageschrift keine ausreichenden Beweise für die Behauptung enthalte, dass es sich bei der HDP um ein ‚Zentrum der terroristischen Organisation‘ PKK/KCK [Partiya Karkerên Kurdistanê/Koma Civakên Kurdistan] handelt. Eine zweite Verbotsklage, die im Juni 2021 von der Staatsanwaltschaft eingereicht wurde, nahm das Verfassungsgericht an.
In der Anklageschrift wird der HDP vorgeworfen, sich an Aktivitäten beteiligt zu haben, die gegen die ‚unteilbare Integrität des Staates mit seinem Gebiet und seiner Nation‘ gerichtet seien, und zu einem Zentrum derartiger Aktivitäten geworden zu sein.“ (AI, 13. April 2023)
Das US Department of State (USDOS) ist das US-amerikanische Außenministerium.
· USDOS – US Department of State: 2022 Country Report on Human Rights Practices: Turkey, 20. März 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2089143.html
„As of year’s end, seven former HDP parliamentarians and six HDP co-mayors were in detention following arrest. According to the HDP, since July 2015 at least 5,000 HDP lawmakers, executives, and party members were incarcerated for a variety of charges related to terrorism and political speech. Since 2019, the Ministry of Interior suspended 48 of 65 elected HDP mayors in the southeast based on allegations of support for terrorism related to the PKK; six additional HDP mayors were not permitted to assume office following the 2019 elections on the grounds that they had been dismissed from their public jobs by governmental decrees, despite being cleared for candidacy in elections. […] Of the suspended mayors, authorities arrested 39. By August 2019, the government had suspended most of the mayors elected in the southeast in March 2019, including the HDP mayors of the major southeastern cities Diyarbakir, Mardin, and Van. The government suspended most mayors for investigations into their alleged support for PKK terrorism, largely dating to before their respective elections.
The Ankara Chief Prosecutor’s Office continued prosecution of 108 individuals for their alleged instigation of violence in the 2014 Kobane protests, including former HDP cochairs Selahattin Demirtas and Figen Yuksekdag and other officials of the HDP and the HDP’s sister party, the Democratic Regions Party. A total of 21 defendants were arrested and held in pretrial detention, while arrest warrants for the remaining 75 still existed. The first session of the case was held in April 2021. In November two individuals were released from detention, but the case continued at year’s end. The Kobane protests erupted over perceived government inaction in response to the Islamic State of Iraq and Syria (ISIS) takeover of the majority-Kurdish town of Kobane, Syria […].
In January prosecutors submitted 40 summaries of proceedings to parliament requesting the lifting of parliamentary immunity of 28 opposition parliamentarians, 24 of whom are HDP members, including party cochair Pervin Buldan, citing terrorist propaganda, resisting police, unlawful protest, and other political activities as the justification. Prosecutors submit summaries of proceedings against legislators who face criminal charges. A majority vote in parliament is required for the lifting of immunity. At year’s end, there were 1,400 summaries of proceedings held up in the Joint Committee of Constitution and Justice.
In April, the Ankara Chief Public Prosecutor’s Office ordered detentions of an additional 91 suspects, including HDP members and officials, on charges of financing terrorism and alleged terrorist organization membership. The charges stem from accusations that suspects provided finances for the 2014 Kobane protests and gave financial assistance to families of dead or injured PKK members. Among notable detainees are HDP co-mayor of Akdeniz district in Mersin Province, Fazil Turk; former Akdeniz municipality employees Hasan Cat, Selami Turan and Ulfiye Ozcan; former Diyarbakir municipality employee Metin Kilav; former HDP treasurer Zeki Celik; and HDP Adana provincial officials Mustafa Bilgic, Sefik Ozbey, and Necmettin Aslan.
Former HDP cochair and presidential candidate Demirtas has been in prison since 2016 based on terrorism charges despite 2018 and 2020 ECHR [European Court of Human Rights] rulings for his release. In March 2021, in a separate case, a court sentenced Demirtas to three-and-a-half years in prison for insulting President Erdogan during a 2015 speech. Although the Constitutional Court ruled that Demirtas’s lengthy pretrial detention violated his rights in 2020, his release was denied based on the separate Kobane investigation.” (USDOS, 20. März 2023, Section 1e)
ARTICLE 19 ist eine internationale Menschenrechtsorganisation mit dem Ziel der Förderung der Meinungsäußerungsfreiheit und der Informationsfreiheit weltweit.
· ARTICLE 19: Turkey: Case to dissolve opposition political party looms, 9. Jänner 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2085138.html
„London, 9 January 2023: Current efforts to dissolve the second-largest opposition party in Turkey’s parliament ahead of parliamentary and presidential elections are the latest example of a deeply problematic practice in Turkey of forcing the closure of political parties, a group of 10 international and local non-governmental organisations including ARTICLE 19 said today.” (ARTICLE 19, 9. Jänner 2023)
Das Central Asia-Caucasus Institute (CACI) bildet zusammen mit dem Silk Road Studies Program eine Denkfabrik mit Büros in Washington und Stockholm.
· CACI Analyst – Central Asia-Caucasus Institute: Closing Down Democracy – The Prosecution of the HDP, 10. März 2022
http://www.turkeyanalyst.org/publications/turkey-analyst-articles/item/683-closing-down-democracy-–-the-prosecution-of-the-hdp.html
„Despite the Turkish government’s current efforts to portray itself as a peacemaker who cannot countenance unprovoked aggression, its assault on the Kurds continues both within and beyond Turkey’s borders. Turkish democracy, always a sickly creature, is undergoing a judicial asphyxiation. Tens of thousands of opposition figures are in prison, including thousands of members of the third largest party in the Turkish Parliament, the pro-Kurdish, leftist Peoples’ Democratic Party (HDP). Two ongoing court cases could see leading party members jailed for life, and the enforced closure of the party. […]
Even during Turkey’s more democratic periods, opposition parties have frequently been banned, and politicians have regularly been stripped of their political immunity so that they can be tried and imprisoned.“ (CACI Analyst, 10. März 2022)
Das Europäische Parlament (EP) mit offiziellem Sitz in Straßburg ist das Parlament der Europäischen Union.
· EP- Europäisches Parlament: Plenartagung - Schwerpunkte der Plenarsitzung vom 5. Juli bis 8. Juli 2021 Straßburg, 1. Juli 2021
https://www.europarl.europa.eu/pdfs/news/expert/2021/7/briefing/20210625BRI07046/20210625BRI07046_de.pdf
„Das harte Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Opposition, insbesondere die wichtigste pro-kurdische Partei, steht zur Debatte und in Form einer Resolution zur Abstimmung. In einer Debatte mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell werden die Abgeordneten das seit Jahren andauernde harte Vorgehen gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) […] verurteilen. Diese ist die drittgrößte Partei im türkischen Parlament. Tausende ihrer Mitglieder sind vor allem wegen Terrorismusvorwürfen angeklagt. Seit Jahren beschuldigt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die HDP, eine politische Front für die verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) zu sein. Die Türkei hat eine lange Geschichte von Verboten politischer Parteien, die als Bedrohung angesehen werden, und hat in der Vergangenheit eine Reihe von anderen pro-kurdischen Parteien verboten.“ (EP, 1. Juli 2021, S. 21)
Der Deutsche Bundestag ist das Parlament und gesetzgebendes Organ der Bundesrepublik Deutschland mit Sitz in Berlin.
· Deutscher Bundestag: Politische Verfolgung der Opposition in der Türkei beenden, 18. März 2021
https://www.bundestag.de/presse/pressemitteilungen/pm-210318-erklaerung-dt-tuerkisch-pg-829040
„‚Die Deutsch-Türkische Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages ist besorgt über die zunehmende Unterdrückung und Verfolgung von Opposition und Zivilgesellschaft in der Türkei […].
Die jüngste Festnahme von über 700 Menschen, darunter Dutzende regionale Vorstandsmitglieder und Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker der HDP [Halkların Demokratik Partisi], reiht sich ein in eine seit Jahren andauernde politische Verfolgung oppositioneller Kräfte in der Türkei. Wir beobachten mit großer Sorge, dass insbesondere seit dem Jahr 2016 Regierungsgegner massenweise verfolgt werden. Neben Entlassungen, Zwangsversetzungen und Inhaftierungen von Staatsbediensteten zählen hierzu massive Grundrechtseinschränkungen zivilgesellschaftlicher Akteure sowie die systematische Verfolgung der Opposition. […]
Die nun erneut ins Visier geratene Oppositionspartei HDP sieht sich seit Jahren einer systematischen politischen Verfolgung ausgesetzt. Im Zuge der Immunitätsaufhebung zahlreicher HDP-Abgeordneter im türkischen Parlament im Mai 2016 auf Betreiben von Staatspräsident Erdogan wurden die beiden damaligen HDP-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie mindestens weitere 13 HDP-Abgeordnete festgenommen. Am 22.12.2020 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unter anderem aufgrund der Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Rechts auf Freiheit und Sicherheit die sofortige Freilassung von Selahattin Demirtaş aus der Haft in der Türkei angeordnet.
Die jüngsten Festnahmen, der Austausch gewählter Bürgermeister, politisch motivierte Gerichtsverfahren, wie im Fall der Verurteilung der Mitbegründerin und Ko-Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins der Türkei (IHD), Eren Keskin, und die Anträge zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Nationalversammlung, wie dem HDP-Abgeordneten und Menschenrechtler Ömer Faruk Gergerlioğlu, können als Versuch gewertet werden, die Opposition mundtot zu machen und den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft einzuschränken […].‘“ (Deutscher Bundestag, 18. März 2021)
Die Deutsche Welle (DW) ist ein deutscher Auslandsrundfunksender.
· DW – Deutsche Welle: 82 Haftbefehle für türkische Oppositionelle, 25. September 2020
https://www.dw.com/de/82-haftbefehle-f%C3%BCr-t%C3%BCrkische-oppositionelle/a-55056335
„Die türkische Justiz hat Haftbefehle gegen 82 Menschen wegen Protestaktionen zugunsten von Kurden im Jahr 2014 erlassen. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu wurden bislang 19 Menschen festgenommen. Unter ihnen sind mehrere prominente Mitglieder der pro-kurdischen Partei HDP [Halkların Demokratik Partisi], wie Sprecherin Bermali Demirdögen bestätigte. In Polizeigewahrsam kam auch der Bürgermeister der osttürkischen Stadt Kars, Ayhan Bilgen. Er war bei den Kommunalwahlen 2019 für die HDP angetreten.
Von offizieller Seite hieß es, Hintergrund der Ermittlungen seien die Ausschreitungen im Oktober 2014 im Südosten der Türkei. HDP-Vertreter hatten seinerzeit zu Demonstrationen zugunsten der von der Terrormiliz ‚Islamischer Staat‘ (IS) bedrängten syrisch-kurdischen Grenzstadt Kobane aufgerufen.“ (DW, 25. September 2020)
Vorgehen gegen mutmaßliche Anhänger·innen der Gülen-Bewegung und anderen politischen Oppositionellen innerhalb der Türkei
Das International Center for Not-for-Profit Law (ICNL) ist eine international aktive juristische Organisation mit Sitz in Washington D.C., Jordanien, Kirgistan und Tadschikistan, die sich auf rechtliche Aspekte des zivilgesellschaftlichen Raums konzentriert.
· ICNL – International Center for Not-for-Profit Law: Civic Freedom Monitor: Türkiye, 24. Juni 2023
https://www.icnl.org/resources/civic-freedom-monitor/turkiye
„The coup attempt on July 15, 2016 was coordinated by a faction of Türkiye’s military allegedly loyal to the Muslim cleric Fethullah Gulen, which deployed tanks and fighter jets to overthrow the government. The political instability triggered by the coup and post-coup measures paved the way for government measures curbing basic freedoms, including the freedoms of association, assembly, and expression, for the sake of the preserving national security or public order. The National Parliament approved a three-month state of emergency on July 21, 2016 to enable authorities to investigate and punish those responsible for the attempted coup. On April 18, 2018, the government extended the state of emergency for a seventh and final time. During this period, the government carried out mass arrests and firings of civil servants, academics, journalists, and opposition figures relating to the coup attempt.“ (ICNL, 24. Juni 2023)
· USDOS – US Department of State: 2022 Country Report on Human Rights Practices: Turkey, 20. März 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2089143.html
„The constitution and law prohibit torture and other cruel, inhuman, or degrading treatment, but domestic and international rights groups reported that some police officers, prison authorities, and military and intelligence units employed these practices. […] Individuals with alleged affiliation with the PKK [Partiya Karkerên Kurdistanê] or the Gulen movement were more likely to be subjected to mistreatment, abuse, or possible torture.” (USDOS, 20. März 2023, Section 1c)
„Human rights groups alleged many detainees had no substantial link to terrorism and were detained to silence critical voices or weaken political opposition to the ruling Justice and Development Party (AKP), particularly the HDP or its partner party, the Democratic Regions Party. […]
Students, artists, and association members faced criminal investigations for alleged terrorism-related activities. The government did not consider those in custody for alleged PKK or Gulen movement ties to be political prisoners and did not permit access to them by human rights or humanitarian organizations.
There were credible reports that authorities subjected persons jailed on terrorism-related charges to abuses […].” (USDOS, 20. März 2023, Section 1e)
„On December 14, an Istanbul court found Istanbul Mayor Ekrem Imamoglu of the Republican People’s Party (CHP) guilty under criminal insult laws for comments on government officials and sentenced him to two years, seven months, and 15 days in jail, while also imposing a ban on Imamoglu’s political activity. […] Imamoglu appealed the decision, and neither the prison sentence nor the political ban would take effect until the appeals process is complete, although the appeal timeline remained uncertain at year’s end. The court’s decision was widely criticized by civil society and the political opposition as politically motivated. […]
Authorities charged citizens, including children, with insulting the country’s leaders and denigrating ‘Turkishness.’ Free speech advocates pointed out that, while leaders and deputies from opposition political parties regularly faced multiple insult charges, the government did not apply the law equally and AKP members and government officials were rarely prosecuted.” (USDOS, 20. März 2023, Section 2)
„Opposition party members faced frequent accusations from the highest levels of government of alleged terrorism-related crimes. Several opposition candidates for parliament continued to face legal charges in connection with such claims, and HDP presidential candidate Demirtas was in prison during the campaign. […]
In April 2019, a crowd assaulted CHP [Cumhuriyet Halk Partisi] chair Kemal Kilicdaroglu during the funeral ceremony for a soldier killed by the PKK. The attack followed statements by President Erdogan and the chair of the MHP [Milliyetçi Hareket Partisi] accusing the CHP [Cumhuriyet Halk Partisi] of sympathizing and collaborating with ‘PKK terrorists’ during the municipal election campaigns due to its affiliation with the HDP. In February 2021, prosecutors filed an indictment against 21 individuals involved in the attack.” (USDOS, 20. März 2023, Section 3)
Pro Aysl ist eine deutsche unabhängige Menschenrechtsorganisation, die sich für die Rechte verfolgter Menschen in Deutschland und Europa einsetzt.
· Pro Asyl: Gülen-Verfolgung in der Türkei wird vom BAMF immer wieder verkannt, 11. Mai 2023
https://www.proasyl.de/news/guelen-verfolgung-in-der-tuerkei-wird-vom-bamf-immer-wieder-verkannt/
„Ausschlaggebend für die Verfolgung von Gülen-Anhänger*innen in der Türkei war der gescheiterte Putschversuch im Jahr 2016. Für den Putsch wurde maßgeblich der islamische Prediger Fethullah Gülen verantwortlich gemacht. Seit dem gescheiterten Putsch wird das weit verzweigte Netzwerk, dessen Angehörige häufig einflussreiche Stellen in der Türkei innehatten und zu einer Art Elite zählten, als Terrororganisation eingestuft, unter dem Begriff ‚FETÖ/PDY‘ [Fethullahçı Terör Örgütü/Paralel Devlet Yapılanması]. In der Folge kam es zur Schließung von Medien, Bildungseinrichtungen und Nichtregierungsorganisationen sowie zu massenhaften Entlassungen von (vermeintlichen) Gülen-Anhänger*innen, darunter auch Richter*innen und Staatsanwält*innen, und der Verhaftung dieser Menschen (siehe BAMF: Länderreport Türkei 47, S. 22 f.).
Ab wann eine Person, die dem Gülen-Netzwerk zugerechnet wird, mit Verfolgungshandlungen zu rechnen hat, lässt sich nicht abschließend feststellen. Teilweise wurden und werden jedoch auch Personen verhaftet, denen eine kaum definierte angebliche Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird (Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A; Urteil VG Hannover vom 19.01.2023; Lagebericht AA 2021 S. 12- 13; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich (BFA): Länderinformation Türkei S. 43–46)). Auch der Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Türkei hält fest, dass die ‚systematische Verfolgung mutmaßlicher Gülen-Anhänger‘ (Lagebericht Auswärtiges Amt 2021, S. 7; zitiert im Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A) andauert.
Ausschlaggebend für die Verfolgung in der Türkei ist, dass Gülen-Anhänger*innen nicht mit fairen Strafverfahren in der Türkei rechnen können. Die Unabhängigkeit von Richter*innen ist nicht mehr gegeben: Seit 2016 wurden Richter*innen und Staatsanwält*innen nach kontroversen Entscheidungen aussortiert, suspendiert und teilweise verhaftet – Richter*innen, die regierungskonform entscheiden, werden hingegen befördert. Entscheidungen der Gerichte sind schablonenhaft, Urteile haben mangelhafte rechtliche Begründungen und eine lückenhafte und wenig glaubwürdige Beweisführung. Teilweise bleiben Beweise der Verteidigung auch unberücksichtigt. Die Ausgänge von Strafverfahren in der Türkei mit Bezug zur Gülen-Bewegung sind willkürlich. Es hängt völlig davon ab, an welche*n Richter*in man gelangt.
Die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichtes besagt, dass es grundsätzlich legitim für einen Staat ist, sich gegen Terrorismus zu wehren, und dass dies nicht als politische Verfolgung anzusehen ist. Es muss für Asyl ein Politmalus existieren, also strafrechtliche Sanktionen, die einen diskriminierenden oder unverhältnismäßigen bzw. übersteigerten oder willkürlichen Charakter aufweisen, wie beispielsweise Folter (BVerfG, Beschluss vom 04.12.2012 – 2 BvR 2954/09; BVerfG, Beschluss vom 29.04.2009 – 2 BvR 78/08; BVerfG, Beschluss vom 12.02.2008 – 2 BvR 2141/06).
EIGENTLICH EINDEUTIG: GÜLEN-ANHÄNGER*INNEN WERDEN AUS POLITISCHEN GRÜNDEN VERFOLGT
Solch ein Politmalus liegt in Strafverfahren gegen Gülen-Anhänger*innen eindeutig vor. Dazu lässt sich dem Lagebericht entnehmen, dass ‚nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon auszugehen [ist], dass die türkischen Gerichte im Hinblick auf politisierte Strafverfahren, wozu u. a. Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung zählen, keine Unabhängigkeit besitzen und ein rechtsstaatlichen Grundsätzen genügendes Verfahren bzw. eine faire Prozessführung nicht gewährleistet ist‘ (Lagebericht AA 2021 Seite 12 ff, zitiert im Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A).
Dies bedeutet, dass Personen, die Teil der Bewegung sind oder dieser in einer nicht näher definierten Weise nahe stehen, pauschal unter den Terrorismusverdacht gestellt, angezeigt und verurteilt werden können. Eine politische Verfolgung in Form eines Politmalus ist gegeben, weil tatsächliche oder vermeintliche Gülen-Anhänger*innen mit einer härteren und diskriminierenden Bestrafung rechnen müssen. So auch das VG [Verwaltungsgericht] Hannover in seinem Urteil vom 19.01.2023:
‚Insoweit ist außerdem festzuhalten, dass sich bereits ein Straf- bzw. Ermittlungsverfahren aufgrund Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung – auch ohne Verurteilung – mit erheblicher Wahrscheinlichkeit als verfolgungsrelevante Handlung darstellt. Denn ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amts werden bereits im Rahmen von Ermittlungen noch vor formeller Anklageerhebung gezielt weitgehende freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie Untersuchungshaft oder Ausreisesperren erwirkt, gestützt auf pauschale Behauptungen, ohne diese mit einem konkreten und individualisierten Tatvorwurf zu unterlegen. Dies ist auch besonders einschneidend, weil die Justiz überlastet ist und Verfahren sich dadurch häufig lange hinziehen, was sich durch die Entlassungen in der Justiz nach dem Putschversuch verschärft hat.‘
In einem weiteren aktuellen Urteil zugunsten eines Gülen-Anhängers schließt sich das Verwaltungsgericht Hannover anderen deutschen Gerichten an und stellt fest, dass ‚nach den vorliegenden Auskünften (…) nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit davon ausgegangen werden [kann], dass die Türkei heute nur noch mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (vermeintliche) Angehörige und Unterstützer der PKK [Partiya Karkerên Kurdistanê] oder – wie hier – der Gülen-Bewegung vorgeht. Noch immer kommt es zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden.‘ (VG Hannover Urteil vom 24.01.2023) […]
Zusammengefasst ist festzustellen, dass das BAMF [Bundesamt für Migration und Flüchtlinge] von der falschen Voraussetzung ausgeht, in der Türkei gäbe es für Gülen-Anhänger*innen Strafverfahren, die nach rechtsstaatlichen Prinzipien funktionieren – dem ist nicht so, vielmehr sind diese politisch motiviert. Das BAMF verkennt die Willkür der türkischen Strafverfolgungspraxis ebenso wie die Systematik, mit der in der Türkei Gülen-Anhänger*innen zu ‚Terroristen‘ erklärt und verfolgt werden. Die Leitsätze des BAMF zur Türkei müssen dringend überarbeitet werden. Auch die interne Qualitätskontrolle funktioniert offenkundig nicht, wenn zahlreiche handwerklich mangelhafte Entscheidungen ergehen und diese erst auf zivilgesellschaftliche Intervention hin korrigiert werden. Die geschilderten Probleme betreffen zudem nicht nur Gülen-Anhänger*innen, sie lassen sich auch uneingeschränkt auf die Asylverfahren kurdischer und oppositioneller Personen übertragen!“ (Pro Asyl, 11. Mai 2023)
Die International Association for Human Rights Advocacy Geneva (IAHRAG) ist eine nicht-profitorientierte Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Genf.
· IAHRAG – International Association for Human Rights Advocacy Geneva: 93rd Pre-sessional Working Group of the CRC; (September 2022); Adoption of the List of issues in relation to Türkiye’s 4th and 5th periodic report, CRC (Hg.), Juli 2022
https://tbinternet.ohchr.org/_layouts/15/TreatyBodyExternal/DownloadDraft.aspx?key=/FD43aUhbzqqLOGcCynonPpeZu+IY3/ytoT7XSAiKAogkP4g47+uYZHZ+5V+K78cbrc2bHt6RWSpuB8WGjTMug==
„2. IAHRAG [International Association for Human Rights Advocacy Geneva] […] particularly aims at providing support and guidance to perceived political opponents, such as pro- Kurdish sympathizers or Hizmet/Gülen Movement sympathizers that are victims of a relentless persecution on the ground of alleged participation to terrorist activities, particularly since the July 2016 coup attempt. […]
This coup attempt, which was never properly investigated, gave rise to a long State of emergency (ending only in 2018) and constituted an opportunity for the Government to exacerbate and accelerate its purge process over perceived opponents and to muzzle the judiciary power. […]
6. Since 2016, Türkiye instituted a pattern of misuse and abuse of its counter-terrorism legal frameworks notably targeting Hizmet Movement sympathizers and pro-Kurdish supporters. This pattern is translated into widespread arbitrary arrests and detentions, targeting a large number of groups and persons, among them Hizmet Movement supporters, Kurdish opposition, human rights defenders, lawyers, academics and journalists, notably since the Coup attempt of 15 July 2016, for alleged participation to terrorist activities […].“ (IAHRAG, Juli 2022, S. 2-3)
· AI – Amnesty International: Ein großes Gefängnis, 28. Dezember 2022
https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/tuerkei-meinungsfreiheit-ngo-oppositionelle-repressionen-gewalt-taner-kilic-erin-keskin
„Seit der Niederschlagung eines Putschversuches im Jahr 2016, für den die türkische Regierung die sogenannte Gülen-Bewegung verantwortlich macht, werden Oppositionelle wahlweise beschuldigt, der kurdischen PKK [Partiya Karkerên Kurdistanê] oder der Gülen-Bewegung anzugehören. […]
Seit der Einführung des Präsidialsystems 2018, das Präsident Erdoğan umfassende politische Macht verleiht, habe sich die Willkür noch verschärft, sagt Amnesty-Direktor Beyhan. Gesetze zur sogenannten Bekämpfung von Terrorismus und von Aktivitäten, die der Staat als Bedrohung einschätzt, werden als Mittel der Repression eingesetzt. ‚Einzelne Persönlichkeiten werden exemplarisch festgenommen und angeklagt‘, sagt Beyhan. […]
Die Anwältin Eren Keskin, Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Türkei (IHD), hält einen traurigen Rekord: Wegen angeblicher Verbindungen zu Terrororganisationen wurden 243 Verfahren gegen sie eingeleitet. ‚Alle Anklagen beziehen sich auf die Zeit, als ich Herausgeberin der pro-kurdischen, mittlerweile verbotenen Tageszeitung Özgür Gündem war‘, sagt die Juristin […]. Es sind vor allem Fälle von Oppositionellen, denen wegen ihrer politischen Tätigkeit Terrorismus vorgeworfen wird. Keskin selbst wurde im Lauf der Zeit zu insgesamt 26 Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. ‚Bislang musste ich die Haftstrafen nicht antreten, ich könnte aber jederzeit festgenommen werden‘, sagt sie. Seit sechs Jahren darf sie nicht mehr ausreisen. Außerdem wurden Geldstrafen von insgesamt fast 40.000 Euro gegen sie verhängt. Begleicht sie diese nicht, muss Keskin die Haftstrafen antreten. Die Summen übersteigen die finanziellen Möglichkeiten der Menschenrechtsanwältin bei Weitem. ‚Meine Anwälte haben Ratenzahlungen vereinbaren können, die wir teilweise mit Unterstützung von internationalen Menschenrechtsorganisationen abstottern.‘
Während Oppositionelle wie Keskin festgenommen und kriminalisiert werden, übt die türkische Regierung große Toleranz gegenüber Gewalt und Aggression ihrer eigenen Anhänger*innen. ‚Alle Mitglieder unserer Büros erhalten Morddrohungen‘, sagt die Juristin. ‚Wir zeigen die gar nicht mehr an, weil ohnehin nichts passiert.‘“ (AI, 28. Dezember 2022)
Euronews ist ein paneuropäischer Fernsehsender mit Sitz in Lyon.
· Euronews: Tausende protestieren in Istanbul: Türkische Oppositionelle Kaftancioglu muss für 5 Jahre in Haft, 23. Mai 2022
https://de.euronews.com/2022/05/23/tausende-protestieren-in-istanbul-turkische-oppositionelle-kaftancioglu-muss-fur-5-jahre-i
„Kaftancioglu ist wegen Präsidentenbeleidigung und Terrorpropaganda verurteilt worden. Am Wochenende zeigte sich die Vorsitzende der oppositionellen CHP [Cumhuriyet Halk Partisi] noch einmal vor ihren Anhängern. […]
Was wird der Oppositionspolitikerin vorgeworfen?
Ein türkisches Berufungsgericht hatte ihre Verurteilung in der vergangenen Woche bestätigt. Demnach muss Kaftancioglu in Kürze eine Haftstrafe von fünf Jahren absitzen und darf sich währenddessen nicht politisch engagieren. Sie war unter anderem wegen Terrorpropaganda und Präsidentenbeleidigung angeklagt. Als Beweis wurden Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 17 herangezogen.“ (Euronews, 23. Mai 2022)
Politische Oppositionelle außerhalb der Türkei
The Guardian ist eine britische Tageszeitung.
· Guardian (The): ICC asked to investigate Turkish government over persecution of opponents around the world, 1. März 2023
https://www.theguardian.com/world/2023/mar/01/icc-asked-to-investigate-turkish-government-over-persecution-of-opponents-around-the-world
„The international criminal court (ICC) in The Hague is being asked to investigate the Turkish government for alleged crimes against humanity in its pursuit and persecution of opponents around the world.
A panel of European legal experts has compiled a dossier of witness testimonies giving details of torture, state sponsored kidnapping, and wrongful imprisonment of about 200,000 people, said to have been carried out by the government of Recep Tayyip Erdoğan. […]
‘Turkish officials have committed crimes against humanity against hundreds of thousands of opponents of the Erdogan regime,’ the submission says. ‘These crimes amount to a ‘widespread and systematic attack against a civilian population’, meeting the threshold for the ICC to launch proceedings against high ranking officials of the Erdogan regime.’ […]
The ICC presentation says there were 17 cases of enforced disappearance in which victims were abducted from Kenya, Cambodia, Gabon, Albania, Bulgaria, Moldova, Mongolia and Switzerland and taken back to Turkey. The targets were linked to the opposition movement, led by US-based Islamic preacher Fethullah Gülen […].
On 14 October 2019, Osman Karaca was seized by unidentified men, believed to be Cambodian counter-terror police, while visiting a bank in Phnom Penh. Karaca, aged 49 at the time, is a Turkish-born teacher, who had been a school headteacher in Cambodia before moving to Mexico in 2011 where he was a college principal until late 2018. He had feared that he was being watched by Turkish intelligence because he had been working in a school linked to the Gülen movement. In 2019, Karaca took up an invitation to return to Cambodia to work at a school whose owners were related to members of the Cambodian government, thinking he would be safe there.
After being held incommunicado for four days, Karaca was handed over to Turkish authorities who flew him back to Turkey on a small government jet. He was convicted of leading an armed terrorist group in the 2016 coup attempt, despite the fact he had left Turkey for Cambodia in 2002.
The tribunal says Karaca is just one of many Turks living abroad who have been designated as ‘terrorists’ because of links to Gulenist schools or other institutions. The tribunal’s submission to the court also includes statements on the torture of 800 people, which it says ‘describe in detail how torture has been inflicted on a large and consistent scale’.
The Turkish foreign minister has so far not responded to a request for comment.“ (The Guardian, 1. März 2023)
Die Stuttgarter Nachrichten sind eine in Stuttgart erscheinende Tageszeitung.
· Stuttgarter Nachrichten: Angst vor Erdogans langem Arm, 9. Dezember 2022
https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.tuerkische-oppositionelle-angst-vor-erdogans-langem-arm.96d3498f-1bee-4608-8297-505d0c8659af.html
„Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay bestätigte vor zwei Wochen im Parlament in Ankara, dass Agenten des Geheimdienstes MIT [Millî İstihbarat Teşkilâtı] ‚mehr als 100 Personen‘ aus dem Ausland in die Türkei zurückgebracht hätten. Es dürfte sich überwiegend um Anhänger des Exil-Predigers Fethullah Gülen handeln. Erdogan macht seinen früheren Verbündeten Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich. Seine Bewegung ist in der Türkei unter dem Kürzel Fetö bekannt und als Terrororganisation verboten. […]
Auch Ugur Demirok, der in Baku in einem Unternehmen für Medizintechnik arbeitete, soll der Gülen-Bewegung angehört haben. ‚Kein Land und keine Gegend auf der Welt wird ein sicherer Zufluchtsort für Fetö-Mitglieder sein‘, hatte Erdogan bereits am 19. September 2016 verkündet, zwei Monate nach dem Putschversuch. Aufsehen erregte ein Fall im März 2018. Damals entführten Agenten des MIT in einer Nacht- und-Nebel-Aktion fünf türkische Lehrer aus dem Kosovo in die Türkei. Sie sollen an einer Schule der Gülen-Bewegung gelehrt haben. Wenige Wochen später verschleppten Agenten drei türkische Lehrer aus dem zentralafrikanischen Gabun nach Istanbul. Erdogan erklärte: ‚Wir werden solche Operationen durchführen, wo auch immer sich Fetö-Anhänger aufhalten.‘ Vizepremier Bekir Bozdag bestätigte damals, der Geheimdienst habe bereits 80 Gülen-Anhänger in 18 Ländern ‚eingepackt und in die Türkei gebracht‘. […]
Im Mai vergangenen Jahres traf es den türkischen Schuldirektor Orhan Inandi. Er leitete in der kirgisischen Hauptstadt Bischeck eine Bildungseinrichtung, die Gülen zugerechnet wird. Inandi verließ seine Wohnung, um zu einer Verabredung zu fahren. Später fand man sein Auto mit offenen Türen und platten Reifen. Fünf Wochen danach präsentierte Erdogan auf einer Pressekonferenz in Ankara stolz ein Foto, das Inandi in Handschellen zwischen zwei türkischen Flaggen zeigt. ‚In sorgfältiger und geduldiger Arbeit hat der MIT Orhan Inandi in die Türkei zurückgebracht‘, berichtete Erdogan. Schon 2019 hatte die Türkei Inandis Auslieferung beantragt. Kirgisien lehnte ab, weil der Lehrer die kirgisische Staatsbürgerschaft besaß.“ (Stuttgarter Nachrichten, 9. Dezember 2022)
Der Deutschlandfunk ist ein Hörfunkprogramm des öffentlich-rechtlichen Deutschlandradios.
· Deutschlandfunk: Türkei entführt systematisch Oppositionelle aus dem Ausland, 22. Juni 2021
https://www.deutschlandfunk.de/der-lange-arm-ankaras-tuerkei-entfuehrt-systematisch-100.html
„Mehr als 100 Fälle ‚gewaltsamer Rückführungen türkischer Staatsbürger aus vielen Ländern‘ haben die Vereinten Nationen dokumentiert. […]
Proteste vor der türkischen Botschaft in Bischkek. Demonstranten fordern die Freilassung des türkisch-kirgisischen Schulleiters Orhan Inandi, der im Mai verschleppt wurde und im Botschaftsgebäude vermutet wird. Inandi lebt seit 25 Jahren in Kirgistan und arbeitete dort für eine Schule, die dem Netzwerk des türkischen Predigers Fethullah Gülen zugerechnet wird – inzwischen ein Erzfeind des türkischen Präsidenten Erdogan.
Inandis Ehefrau alarmierte die Öffentlichkeit: Von Augenzeugen habe sie gehört, dass ihr Mann in der türkischen Botschaft festgehalten werde, sagt Inandi. Dort werde er gefoltert, man wolle ihn zwingen, seine kirgisische Staatsbürgerschaft abzulegen, bevor er widerrechtlich in die Türkei verschleppt werden solle – so wie das schon vielen anderen Menschen in aller Welt widerfahren sei.
UN-Sonderberichterstatter: Mehr als 100 Fälle
Beweise dafür, dass Inandi in der Botschaft festgehalten wird, gibt es nicht – doch es wäre nicht das erste Mal, dass ein angeblicher Gegner des türkischen Regimes in einem Drittland ergriffen wird, um auf ungesetzlichem Wege in die Türkei geschafft zu werden: Mehr als hundert solcher Fälle haben die Vereinten Nationen bisher gezählt. Eine ‚systematische Praxis staatlich betriebener extraterritorialer Entführungen und gewaltsamer Rückführungen türkischer Staatsbürger aus vielen Ländern‘ beklagten die zuständigen UN-Sonderberichterstatter in einem Brief an die türkische Regierung im vergangenen Jahr. […]
Ankara bestreitet die Entführungen nicht, im Gegenteil: Die Aktionen werden in der Türkei öffentlich verkündet und von den Regierungsmedien gefeiert […].“ (Deutschlandfunk, 22. Juni 2021)
Rechtlicher Rahmen
Sinem Aydınlı ist Forscherin, die sich unter anderem auf Mediendiskurse und Diskriminierung fokussiert.
· Aydınlı, Sinem, Regulatory and self-regulatory framework against hate speech and disinformation in Turkey, SEENPM (Hg.), Oktober 2021
https://seenpm.org/wp-content/uploads/2021/11/Resilience-Factsheet-Turkey-final-1.pdf
„The Law on the Human Rights and Equality Institution of Turkey (No. 6701), the anti-discrimination law adopted in 2016, prohibits direct, indirect and multiple discrimination as well as instruction to discriminate, discrimination by assumption, segregation, harassment and mobbing in the workplace. […] However, Article 216 is used to prosecute opposing sections of society instead of punishing those who incite hate towards some parts of society and it is not used to prosecute actual incitement to violence or discrimination against subordinate groups. Human rights defenders, labour and professional organizations’ executives and politicians who defend the right to peace against war often face charges under Article 216 of the TPC [Turkish Penal Code] and these individuals face convictions (İHD 2020).” (Aydınlı, Oktober 2021, S. 5-6)
EuroMed Rights, im Jahr 1997 als Euro-Mediterranean Human Rights Network (EMHRN) gegründet, ist eine Nichtregierungsorganisation mit dem Ziel, die Kooperation und den Dialog in und zwischen Ländern auf beiden Seiten des Mittelmeeres zu fördern.
· EuroMed Rights: Abuse of Counter-Terrorism Legislative Framework to restrict Civic Space: Turkey, Mai 2023
https://euromedrights.org/wp-content/uploads/2023/05/Counterterrorism-measures_Turkey-infosheet.pdf
„Law on the Prevention of Financing of the Proliferation of Weapons of Mass Destruction (7262/2020): Gives governors the authority to appoint trustees to NGOs; to intensifies inspections of civil society organisations (CSOs) and to dismiss CSO’s executives, based on an ambiguous definition of terrorism and unclear sanctions.
Provisions in the Turkish Penal Code: Criminalisation of terrorism-related offences (including ‘assisting a terrorist organisation without being a member’) are routinely used by the Turkish authorities to detain individuals without evidence.
Law on the Amendment of Some Laws and Emergency Decrees (7145/2018): Allows arbitrary restriction and violation of rights/freedoms by the administration and rendered the State of Emergency permanent.
Law on the Prevention of the Financing of Terrorism (6415/2013): Establishes the offence of financing of terrorism that triggers actions like asset freeze and five to ten years in prison, based on the loose definition of terrorism defined in Law 3713/1991.
Law on the Amendment of the Press Law and Certain Laws (7418/2022): Called ‘Censorship Law’ by citizens, stems from counter-terrorism provisions and foresees for up to 3 years in prison for spreading ‘fake news’ to disrupt public peace and national security.
Anti-Terrorism Law (3713/1991): Provides an ambiguous definition of terrorism and terrorist offences punishable under relevant articles of the Turkish Penal Code. This law regularly justifies aggressive harassment and oppression of political and social opposition, CSOs [Civil Society Organisations], and HRDs [Human Rights Defenders].“ (EuroMed Rights, Mai 2023, S. 2)
· USDOS – US Department of State: 2022 Country Report on Human Rights Practices: Turkey, 20. März 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2089143.html
„According to defense lawyers and opposition groups, there was a trend of prosecutors using what appeared to be legally questionable evidence to file criminal charges against and prosecute a broad range of individuals, including media workers, human rights activists, opposition politicians (primarily of the HDP [Halkların Demokratik Partisi]), suspected PKK [Partiya Karkerên Kurdistanê] sympathizers, alleged Gulen movement members or affiliates, and others critical of the government.” (USDOS, 20. März 2023, Section 1e)
„Libel/Slander Laws: Observers reported government officials used defamation laws to stop political opponents, journalists, and ordinary citizens from voicing criticism. The law provides that persons who insult the president of the republic may face a prison term of up to four years. The sentence may be increased by one-sixth if committed publicly and by one-third if committed by media outlets.” (USDOS, 20. März 2023, Section 2)
· Parlament Österreich: Türkei: U-Haft eines oppositionellen Bürgermeisters rechtswidrig, 14. Oktober 2021
https://www.parlament.gv.at/fachinfos/rlw/Tuerkei-U-Haft-eines-oppositionellen-Buergermeisters-rechtswidrig
„EGMR 14.9.2021, 31417/19, Tuncer Bakırhan gg. Türkei
Der EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) stellte fest, dass die Verhängung und Aufrechterhaltung der (insgesamt dreijährigen) Untersuchungshaft eines oppositionellen Bürgermeisters wegen seiner politischen Aktivitäten rechtswidrig war. Mangels ausreichender Begründung und Prüfung, ob ein gelinderes Mittel als die Untersuchungshaft in Betracht gekommen wäre, wurde der Beschwerdeführer in seinem Recht auf Freiheit (Art. 5 EMRK [Europäische Menschenrechtskonvention]) und in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt. […]
Tuncer Bakırhan wurde im Jahr 2014 als Kandidat der oppositionellen ‚Partei für Freiheit und Frieden‘ (Barış ve Demokrasi Partisi) zum Bürgermeister der Stadt Siirt in der südöstlichen Türkei gewählt. Im November 2016 wurde wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation die Untersuchungshaft über ihn verhängt: Grund dafür war, dass er an den Begräbnissen mehrerer, von den türkischen Behörden getöteter Mitglieder der PKK [Partiya Karkerên Kurdistanê] sowie an öffentlichen Versammlungen teilgenommen und dabei Reden gehalten hatte. Bakırhan wurde zudem seines Amts als Bürgermeister enthoben. Die Untersuchungshaft wurde bis Oktober 2019 laufend verlängert.
Bakırhan brachte vor, dass die Anschuldigungen gegen ihn eng mit seinen Reden verknüpft seien, die durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt seien. Zudem sei er bei den erwähnten Begräbnissen und Versammlungen – wie bei Tausenden anderen Begräbnissen und Versammlungen – in seiner Funktion als Bürgermeister anwesend gewesen, ohne eine politische Agenda verfolgt zu haben. Die Untersuchungshaft sei rechtswidrig verhängt worden, weil keine ausreichenden Beweise dafür vorliegen würden, dass er eine Straftat begangen habe. Die Gerichte hätten ihre Entscheidungen nicht ausreichend begründet und es unterlassen zu prüfen, ob ein gelinderes Mittel als die Untersuchungshaft in Betracht gekommen wäre. Auch die Dauer der Untersuchungshaft sei unverhältnismäßig lange gewesen.
Bakırhan wandte sich an den EGMR und behauptete, durch die Verhängung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft in seinem Rechten auf Freiheit (Art. 5 EMRK) und in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt zu sein.
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
Recht auf Freiheit (Art. 5 EMRK)
Der EGMR hob hervor, dass der Richter die Untersuchungshaft nicht nur auf die behaupteten strafbaren Aktivitäten von Bakırhan, sondern auch auf die besondere Schwere der strafbaren Handlung der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation sowie die mögliche Verdunklungs- und Fluchtgefahr, gestützt hatte. Die generell gehaltene Begründung (Schwere der strafbaren Handlung und der drohenden Strafe) sei aber nicht ausreichend gewesen, um die Untersuchungshaft über Bakırhan zu verhängen. Nach türkischem Recht hätte der zuständige Richter jedenfalls prüfen müssen, ob im konkreten Fall ein gelinderes Mittel als die Untersuchungshaft in Betracht gekommen wäre. Eine solche individuelle Prüfung sei allerdings nicht erfolgt. Auch das Vorliegen von Verdunklungs- und Fluchtgefahr sei nicht ausreichend und konkret begründet worden. Demnach sei Bakırhan in seinem Recht auf Freiheit gemäß Art. 5 EMRK verletzt worden.
Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK)
Dem EGMR zufolge war die nahezu dreijährige Untersuchungshaft von Bakırhan als Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung zu werten. Dieser Eingriff sei zwar aufgrund einer gesetzlichen Grundlage erfolgt und habe legitimen Zielen – nämlich dem Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung – gedient. Er sei aber nicht verhältnismäßig gewesen:
Der EGMR rief in Erinnerung, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung für gewählte Volksvertreter·innen, die die Interessen der Wählerschaft vertreten und auf diese aufmerksam machen, besonders wesentlich ist. Die Verhängung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über Bakırhan sei nicht ausreichend begründet und die Vorwürfe gegen ihn seien eindeutig politischer Natur gewesen. Vor dem Hintergrund der wesentlichen Bedeutung der freien politischen Debatte in einer demokratischen Gesellschaft könne der besonders schwere Eingriff in das Recht auf Freiheit nicht durch einen zwingenden Grund gerechtfertigt werden. Ein derart langer Freiheitsentzug eines gewählten Volksvertreters wegen seiner politischen Aktivitäten sei ein offenkundig unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK), sodass auch dieses Recht verletzt worden sei.“ (Parlament Österreich, 14. Oktober 2021)
Rückführungen politisch-oppositioneller Asylwerber·innen aus der Türkei
Der folgende Link führt zu einer Videoreportage des deutschen, öffentlich-rechtlichen nationalen Fernsehprogramms Das Erste, in der Rückführungen aus Deutschland von politisch-oppositionellen Asylwerber·innen in die Türkei behandelt werden:
· Das Erste: Lebenslang für Oppositionelle: Abschiebungen in die Türkei [Videoreportage], 12. Mai 2022
https://www.ardmediathek.de/video/monitor/lebenslang-fuer-oppositionelle-abschiebungen-in-die-tuerkei/das-erste/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLWJlZWM0NjA0LWNlMjEtNDE5MS04Yjc0LWUxODFiMmQ0Y2UyYg
Die Frankfurter Rundschau ist eine deutsche Tageszeitung.
· Frankfurter Rundschau: Politisch Verfolgte: Fachleute warnen vor Abschiebungen in die Türkei, 2. Juni 2022
https://www.fr.de/politik/abschiebungen-tuerkei-folgen-asyl-recep-tayyip-erdogan-bamf-news-91588391.html
„Experten und Expertinnen und Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Abschiebungen politisch Verfolgter in die Türkei. Den Betroffenen drohen in dem Land langjährige Haft und auch Folter. Viele der Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierungspartei AKP [Adalet ve Kalkınma Partisi] werden wegen Terrordelikte[n] angeklagt. […]
‚Politisch Verfolgte bekommen in der Türkei kein faires Verfahren. Das betrifft vor allem diejenigen, die in dem Land mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden [‘], warnt Dündar Kelloglu vom Flüchtlingsrat Niedersachsen. Der Rechtsanwalt vertritt mehrere Fälle von Asylsuchenden aus der Türkei in seiner Kanzlei in Hannover. Man dürfe nicht außer Acht lassen, dass der Begriff ‚Terrorismus‘ in der Türkei sehr weit gefasst sei, so Kelloglu im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau. […]
Auch bei Dr. Kerem Schamberger von der Menschenrechtsorganisation ‚medico international‘ stoßen die Abschiebungen in der Türkei auf Unverständnis. ‚Die Zahl der Abschiebungen in die Türkei ist 2021 gegenüber den Vorjahren sprunghaft angestiegen. Und das obwohl die Bundesregierung zugibt, dass die Situation in der Türkei für linke und kurdische Oppositionelle höchst besorgniserregend ist und sich ständig verschlechtert. Trotzdem lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Anträge auf Asyl von kurdischen Geflüchteten ständig ab‘, kritisiert Schamberger gegenüber der Frankfurter Rundschau. […]
Auch der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschland, Ali Ertan Toprak, warnt vor einer Abschiebung in die Türkei: ‚Die Türkei ist kein Rechtsstaat. Die Betroffenen bekommen in dem Land kein rechtsstaatliches Verfahren. In so ein Land darf man nicht abschieben‘, so Toprak auf Anfrage unserer Redaktion.“ (Frankfurter Rundschau, 2. Juni 2022)
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am [Veröffentlichungsdatum])
· AI – Amnesty International: Wahlen in der Türkei: Oppositionspartei HDP droht Verbot, 13. April 2023
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/tuerkei-wahlen-oppositionspartei-hdp-droht-verbot
· AI – Amnesty International: Ein großes Gefängnis, 28. Dezember 2022
https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/tuerkei-meinungsfreiheit-ngo-oppositionelle-repressionen-gewalt-taner-kilic-erin-keskin
· ARTICLE 19: Turkey: Case to dissolve opposition political party looms, 9. Jänner 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2085138.html
· Aydınlı, Sinem: Regulatory and self-regulatory framework against hate speech and disinformation in Turkey, SEENPM (Hg.), Oktober 2021
https://seenpm.org/wp-content/uploads/2021/11/Resilience-Factsheet-Turkey-final-1.pdf
· CACI Analyst – Central Asia-Caucasus Institute: Closing Down Democracy – The Prosecution of the HDP, 10. März 2022
http://www.turkeyanalyst.org/publications/turkey-analyst-articles/item/683-closing-down-democracy-–-the-prosecution-of-the-hdp.html
· CoE-CommDH – Council of Europe - Commissioner for Human Rights: The Turkish authorities must protect democratic freedoms, 5. Mai 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2092686.html
· CoE-PACE – Council of Europe - Parliamentary Assembly: Observation of the presidential and parliamentary elections in Türkiye (14 and 28 May 2023) [Doc. 15793], 17. Juni 2023
https://www.ecoi.net/en/file/local/2094004/doc.+15793.pdf
· Das Erste: Lebenslang für Oppositionelle: Abschiebungen in die Türkei [Videoreportage], 12. Mai 2022
https://www.ardmediathek.de/video/monitor/lebenslang-fuer-oppositionelle-abschiebungen-in-die-tuerkei/das-erste/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLWJlZWM0NjA0LWNlMjEtNDE5MS04Yjc0LWUxODFiMmQ0Y2UyYg
· Der Standard: Türkische Opposition ortet nach Verhaftungswelle gezielten Schwächungsversuch durch Erdoğan, 25. April 2023
https://www.derstandard.de/story/2000145857468/tuerkische-opposition-ortet-nach-verhaftungswelle-gezielten-schwaechungsversuch-durch-erdogan
· Deutscher Bundestag: Politische Verfolgung der Opposition in der Türkei beenden, 18. März 2021
https://www.bundestag.de/presse/pressemitteilungen/pm-210318-erklaerung-dt-tuerkisch-pg-829040
· Deutschlandfunk: Türkei entführt systematisch Oppositionelle aus dem Ausland, 22. Juni 2021
https://www.deutschlandfunk.de/der-lange-arm-ankaras-tuerkei-entfuehrt-systematisch-100.html
· DW – Deutsche Welle: 82 Haftbefehle für türkische Oppositionelle, 25. September 2020
https://www.dw.com/de/82-haftbefehle-f%C3%BCr-t%C3%BCrkische-oppositionelle/a-55056335
· EuroMed Rights: Abuse of Counter-Terrorism Legislative Framework to restrict Civic Space: Turkey, Mai 2023
https://euromedrights.org/wp-content/uploads/2023/05/Counterterrorism-measures_Turkey-infosheet.pdf
· EP- Europäisches Parlament: Plenartagung - Schwerpunkte der Plenarsitzung vom 5. Juli bis 8. Juli 2021 Straßburg, 1. Juli 2021
https://www.europarl.europa.eu/pdfs/news/expert/2021/7/briefing/20210625BRI07046/20210625BRI07046_de.pdf
· Euronews: Tausende protestieren in Istanbul: Türkische Oppositionelle Kaftancioglu muss für 5 Jahre in Haft, 23. Mai 2022
https://de.euronews.com/2022/05/23/tausende-protestieren-in-istanbul-turkische-oppositionelle-kaftancioglu-muss-fur-5-jahre-i
· Frankfurter Rundschau: Politisch Verfolgte: Fachleute warnen vor Abschiebungen in die Türkei, 2. Juni 2022
https://www.fr.de/politik/abschiebungen-tuerkei-folgen-asyl-recep-tayyip-erdogan-bamf-news-91588391.html
· Guardian (The): ICC asked to investigate Turkish government over persecution of opponents around the world, 1. März 2023
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· Pro Asyl: Gülen-Verfolgung in der Türkei wird vom BAMF immer wieder verkannt, 11. Mai 2023
https://www.proasyl.de/news/guelen-verfolgung-in-der-tuerkei-wird-vom-bamf-immer-wieder-verkannt/
· RSF – Reporters Sans Frontières: Another wave of arrests of Kurdish journalists in Türkiye, 25. April 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2091289.html
· Stuttgarter Nachrichten: Angst vor Erdogans langem Arm, 9. Dezember 2022
https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.tuerkische-oppositionelle-angst-vor-erdogans-langem-arm.96d3498f-1bee-4608-8297-505d0c8659af.html
· USDOS – US Department of State: 2022 Country Report on Human Rights Practices: Turkey, 20. März 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2089143.html