Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Argentinien 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Argentinische Republik

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Alberto Fernández

Stand:
1/2023

Die Straflosigkeit in Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt hielt an, und zahlreiche Femizide und Angriffe auf lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+) wurden nicht geahndet. Der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen blieb trotz ihrer Ende 2020 erfolgten Entkriminalisierung in vielen Teilen des Landes schwierig. Die Ermittlungen in mehreren wichtigen Fällen von Verschwindenlassen und Tod in Polizeigewahrsam kamen nicht voran. Die Behörden ergriffen keine Maßnahmen zur Verbesserung der Integration von Geflüchteten und Asylsuchenden.

Hintergrund

Das Land steckte weiterhin in einer wirtschaftlichen und sozialen Krise. In der ersten Hälfte des Jahres 2022 lebten 36,5 Prozent der Bevölkerung in Armut.

Im September 2022 wurde auf die Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner ein Attentat verübt.

Im selben Monat besuchte die Unabhängige Expertin der Vereinten Nationen für Auslandsverschuldung und Menschenrechte Argentinien und wies darauf hin, dass das Land sicherstellen müsse, dass seine internationalen Schuldverbindlichkeiten die Menschenrechte nicht gefährden.

Im November kam der UN-Sonderberichterstatter für außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen zu dem Schluss, dass Todesfälle in Argentinien nicht wirksam verhindert und untersucht wurden. Laut Angaben des Sonderberichterstatters "gehören die Opfer oftmals den am stärksten benachteiligten und gefährdeten Bevölkerungsgruppen an, (…) und die Verantwortlichen gehen straffrei aus".

Rechte von Frauen und von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Gewalt gegen Frauen, Mädchen und LGBTI+

Laut Angaben verschiedener NGOs wurden im Berichtsjahr 233 geschlechtsspezifische Tötungen registriert, 91 Prozent davon im häuslichen Umfeld.

Trotz der öffentlichen Aufmerksamkeit, die dem Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt zuteilwurde, blieb die Strafverfolgungsrate bei sexualisierter Gewalt niedrig. Laut Angaben der argentinischen Staatsanwaltschaft führten nur 15,5 Prozent der gemeldeten Fälle zu einer Verurteilung.

Im Oktober 2022, nach mehr als vier Jahren der Zusammenarbeit zwischen den Justizsystemen Argentiniens, Brasiliens und Nicaraguas, erschien der brasilianische Schauspieler Juan Darthés in Brasilien vor Gericht, um sich wegen der Vergewaltigung der argentinischen Schauspielerin Thelma Fardin zu verantworten. Das endgültige Urteil in diesem Fall wurde auf 2023 verschoben.

Frauen und LGBTI+, die als Journalist*innen arbeiteten, waren vermehrt Gewalt und Angriffen ausgesetzt. Mindestens zwei Journalistinnen, die sich für die Menschenrechte von Frauen einsetzen, reichten vor Gericht Klage wegen Online-Belästigung und Gewalt ein. Ende 2022 waren ihre Fälle noch anhängig.

Schicksal und Verbleib des seit März 2021 vermissten 21‑jährigen trans Manns Tehuel de la Torre blieben auch 2022 ungeklärt, und es wurde bisher keine unabhängige, wirksame, unparteiische, trans-feministische Untersuchung durchgeführt.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Trotz eines bereits im Dezember 2020 verabschiedeten Gesetzes zur Entkriminalisierung und Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen innerhalb der ersten 14 Schwangerschaftswochen bestanden auch 2022 weiterhin erhebliche Hindernisse beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Die Behörden führten keine Aufklärungskampagnen über das Gesetz durch.

Dr. Miranda Ruiz, eine Ärztin aus Tartagal in der Provinz Salta, wurde 2022 freigesprochen, nachdem im September 2021 ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden war, weil sie den Zugang zu einem rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch gewährleistet hatte.

Ana, eine 30‑jährige Frau, die eine Fehlgeburt erlitten hatte und deshalb wegen Mordes angeklagt worden war, kam endlich frei. Sie hatte in der Provinz Corrientes acht Monate im Gefängnis verbracht.

Nach den jüngsten verfügbaren offiziellen Daten aus dem Jahr 2022 wurden in Argentinien im Jahr 2020 pro Tag mindestens drei Kinder von Müttern geboren, die das 15. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten. Obwohl von 2016 bis 2020 die Zahl der Schwangerschaften bei Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 19 Jahren zurückging, kamen im Jahr 2020 noch mehr als 50.000 Kinder zur Welt, deren Mütter dieser Altersgruppe angehörten.

Sexualerziehung

Ende des Jahres war ein Rechtsstreit gegen eine Entscheidung anhängig, die das Bildungsministerium der Provinz Chaco im Mai 2022 getroffen hatte. Sie hatte es ermöglicht, auf einer Lehrerfortbildung gegen Schwangerschaftsabbrüche und Kinderrechte zu polemisieren und sexuelle Vielfalt zu pathologisieren.

Exzessive Gewaltanwendung

Ende 2022 stand das Urteil gegen die im Fall von Valentino Blas Correas angeklagten 13 Polizisten noch aus. Der 17‑Jährige aus der Provinz Córdoba war im August 2021 von der Polizei erschossen worden.

Am 5. Juni 2022 wurde Daiana Soledad Abregú tot in einer Polizeizelle in der Stadt Laprida, Provinz Buenos Aires, aufgefunden. Die ersten Untersuchungen deuteten auf Suizid hin, doch diese Hypothese wurde nach einer zweiten Autopsie verworfen. Fünf Polizist*innen, die verdächtigt werden, vorsätzlich ihren Tod verursacht zu haben, blieben auf freiem Fuß.

Der Gesetzentwurf für einen umfassenden Ansatz gegen institutionelle Gewalt im Sicherheits- und Strafvollzug (Ley de Abordaje Integral de la Violencia Institucional en Seguridad y Servicios Penitenciarios) war Ende 2022 noch in der Abgeordnetenkammer anhängig.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Die Provinzregierung von Jujuy legte einen Vorschlag zur Änderung der Provinzverfassung vor, nach dem soziale Proteste eingeschränkt und Straßenblockaden sowie die "Vereinnahmung des öffentlichen Raums" (usurpación del espacio público) verboten werden sollen. Die Debatte über die Reform wurde auf 2023 verschoben.

Straflosigkeit

Die Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die unter der Militärregierung 1976–83 begangen worden waren, wurden fortgesetzt. Zwischen 2006 und Dezember 2022 ergingen 286 Urteile, womit die Gesamtzahl der Verurteilungen auf 1.088 und die der Freisprüche auf 166 anstieg.

Bei den Ermittlungen zum Verschwinden und Tod von Facundo Astudillo Castro wurden bis Ende 2022 keine wesentlichen Fortschritte erzielt. Zuletzt war er 2020 an einem Polizeikontrollpunkt in der Provinz Buenos Aires gesehen worden.

Auch die Ermittlungen zum Verschwinden und Tod von Santiago Maldonado kamen bis Ende 2022 nicht voran. Im Jahr 2017 war seine Leiche 78 Tage nach einer gewaltsamen Razzia durch die argentinische Gendarmerie in einem Fluss auf Mapuche-Gebiet in der Provinz Chubut aufgefunden worden.

Sorge bereitete nach wie vor das Fehlen institutioneller politischer Maßnahmen zur wirksamen Suche nach vermissten Personen. Mutmaßliche Fälle des Verschwindenlassens wurden nicht untersucht.

Rechte indigener Gemeinschaften

Indigene Gemeinschaften hatten weiterhin große Schwierigkeiten, Zugang zu kollektiven Landrechten zu erhalten. Das Nationale Institut für indigene Angelegenheiten (Instituto Nacional de Asuntos Indígenas) hatte 2022 nur 43 Prozent der durch das Notstandsgesetz Nr. 26160 vorgeschriebenen Vermessung der indigenen Gebiete abgeschlossen. Die Vertreibung indigener Gemeinschaften aus ihren angestammten Territorien wurde fortgesetzt, obwohl das Notstandsgesetz dies grundsätzlich untersagt.

Die Behörden der Provinz Formosa leugneten die vorkoloniale Existenz der Gemeinschaft der Nivaclé und weigerten sich daher, ihren Angehörigen – insbesondere den älteren – Geburtsurkunden und Personalausweise auszustellen. Nach Angaben von zivilgesellschaftlichen Organisationen blieben etwa 30 Prozent der Angehörigen dieser Gemeinschaft ohne Ausweisdokumente, wodurch ihr Recht auf Identität verletzt wurde und sie der Gefahr der Staatenlosigkeit ausgesetzt waren.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im Mai 2022 richteten die argentinischen Behörden ein Programm des Gemeinschafts-Sponsoring für Menschen ein, die vor sozialen Unruhen und Naturkatastrophen in Mittelamerika, der Karibik und Mexiko flohen. Menschen, die aus anderen Ländern kamen und aus anderen Gründen internationalen Schutz benötigten, wurden nicht in das Programm aufgenommen.

Die Behörden setzten die Ansiedlung neuer Schutzsuchender im Rahmen des Programms des Gemeinschafts-Sponsoring zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge (Programa Siria) aus. Die Regierungsbehörden verabschiedeten 2022 keine Verordnungen gemäß dem Flüchtlingsgesetz, um Asylsuchenden und Flüchtlingen einen besseren Zugang zu Grundrechten wie Bildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung einzuräumen.

Klimakrise und Umweltzerstörung

Trotz extremer Hitzewellen, Dürren und Bränden in weiten Teilen Argentiniens, die Land und Lebensgrundlagen der Bevölkerung bedrohten, verabschiedete der Kongress auch 2022 nicht das seit mehr als einem Jahrzehnt anhängige Gesetz zum Schutz von Feuchtgebieten (Ley de Humedales).

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