Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Armenien 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Republik Armenien

STAATSOBERHAUPT

Wahagn Chatschaturjan (löste im März 2022 Alen Simonjan im Amt ab, der im Februar 2022 Armen Sarkissjan im Amt abgelöst hatte)

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Nikol Paschinjan

Stand:
1/2023

Bei der Untersuchung von Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtlichen Verbrechen während des bewaffneten Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan im Jahr 2020 und unmittelbar danach wurden keine Fortschritte erzielt. Die Sicherheitskräfte setzten bei regierungskritischen Protesten unverhältnismäßige Gewalt ein. Das Recht auf freie Meinungsäußerung war eingeschränkt, so wurden u. a. Hunderte Personen strafrechtlich verfolgt, weil sie Staatsbedienstete beleidigt haben sollen. Änderungen des Bergbaugesetzes machten es leichter, den Widerstand der Öffentlichkeit und Umweltaspekte zu umgehen. Die Gesetze gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität waren nach wie vor unzureichend.

Hintergrund

Die Sicherheitslage entlang der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan blieb 2022 angespannt, und es kam immer wieder zu Auseinandersetzungen. Durch aserbaidschanischen Beschuss auf armenischem Gebiet in den Provinzen Syunik, Gegharkunik und Vayots Dzor wurden mehr als 200 Menschen getötet, darunter zwei Zivilpersonen. Im Oktober 2022 stimmten Armenien und Aserbaidschan der befristeten Entsendung einer EU-Beobachtermission entlang ihrer Grenze zu.

Die durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ausgelöste massive Zuwanderung von russischen Staatsangehörigen nach Armenien führte zu einer Verbesserung der Wirtschaftsleistung des Landes, trug jedoch gleichzeitig zu einem Anstieg der Mietpreise und der allgemeinen Lebenshaltungskosten bei.

Im März 2022 äußerte sich der Europäische Ausschuss für soziale Rechte besorgt über die unzureichenden Maßnahmen Armeniens zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz, das Fehlen einer klar definierten Strategie für den Arbeitsschutz und das Fehlen einer sozialen Absicherung für alle Beschäftigten und deren Familien.

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Die Ermittlungen zu Kriegsverbrechen und anderen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht während des bewaffneten Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan im Jahr 2020 und unmittelbar danach machten keine nennenswerten Fortschritte. Gleiches galt für die Bemühungen, die mutmaßlichen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Nach wie vor wurden Menschen durch Minen getötet und verletzt, welche die armenischen Streitkräfte in Gebieten verlegt hatten, die von ihnen an Aserbaidschan abgetreten worden waren. Aserbaidschanische Behörden berichteten im Oktober, dass seit dem bewaffneten Konflikt von 2020 insgesamt 266 Personen durch Minen verletzt oder getötet wurden. Zudem gaben sie an, dass die von Armenien bereitgestellten Minenfeldkarten nicht zuverlässig seien.

Laut einem im August 2022 veröffentlichten Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz war der Verbleib von über 300 armenischen Staatsangehörigen, die seit den Kämpfen im Jahr 2020 vermisst wurden, auch 2022 weiter ungeklärt.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Das Recht auf friedliche Versammlung war durch die gewaltsame und unverhältnismäßige Reaktion von Sicherheitskräften auf Proteste eingeschränkt.

Zwischen April und Juni 2022 fanden mehrere regierungskritische Demonstrationen statt, bei denen im Zusammenhang mit den Verhandlungen über ein Friedensabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan der Rücktritt von Premierminister Paschinjan gefordert wurde. Die Proteste fanden häufig in Form großer Demonstrationen statt, bei denen die Teilnehmenden Straßen blockierten und Zelte aufstellten. Die Behörden reagierten darauf zum Teil auf unverhältnismäßige Weise, indem sie die Demonstrationen auflösten, Hunderte Personen festnahmen und Dutzende verletzten.

Bei einem der gewaltsamsten Zusammenstöße am 3. Juni setzte die Polizei Blendgranaten und exzessive Gewalt ein, um Tausende Demonstrierende daran zu hindern, sich dem Parlamentsgebäude zu nähern. 50 Personen, darunter 34 Polizist*innen, mussten Berichten zufolge ärztlich behandelt werden, und zahlreiche Demonstrierende wurden wegen der Beteiligung an "Massengewalt" festgenommen.

Medienaufsichtsstellen gaben an, dass mindestens elf Journalist*innen verletzt wurden, als sie von April bis Juni über die Proteste berichteten. Einige Journalist*innen wurden ganz an der Berichterstattung gehindert. Bis Jahresende waren noch keine Polizeikräfte wegen der Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt in Verbindung mit den regierungskritischen Demonstrationen zur Rechenschaft gezogen worden.

Am 25. August 2022 löste die Polizei in der Hauptstadt Jerewan eine friedliche Demonstration gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine auf und nahm 22 Personen fest. Die Inhaftierten wurden über mehrere Stunden ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand festgehalten. Diejenigen, die kein Armenisch sprachen, erhielten zudem keinen Zugang zu Dolmetscher*innen. Später am gleichen Tag kamen alle ohne Anklage wieder frei.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Das Recht auf freie Meinungsäußerung blieb auch 2022 in unzulässigem Maße eingeschränkt. Die Strafverfolgung von Menschen aufgrund ihrer legitimen Äußerung von Kritik an den Behörden wirkte sich abschreckend hinsichtlich der Wahrnehmung des Rechts auf Meinungsfreiheit aus.

Das Verfahren gegen den jesidischen Menschenrechtsverteidiger Sashik Sultanian aufgrund konstruierter Vorwürfe wegen "Anstiftung zu ethnischem Hass" wurde fortgesetzt. Grund für seine Verfolgung war seine Kritik am Umgang der Behörden mit nationalen Minderheiten.

Seit der Verabschiedung von Gesetzesänderungen im Jahr 2021, mit denen die Beleidigung von Personen des öffentlichen Lebens unter Strafe gestellt worden war, wurden über 200 Strafverfahren wegen schwerer Beleidigung von Staatsbediensteten eingeleitet.

Am 4. Juli schlug der Generalstaatsanwalt Gesetzesänderungen vor, welche der Regierung die Befugnis geben würden, ohne vorherige richterliche Überprüfung Online-Inhalte zu blockieren, die sie für schädlich erachtete. Dies löste die Sorge aus, dass die Zensur der Meinungsfreiheit im Internet durch die Regierung zunehmen könnte.

Umweltzerstörung

Am 18. Juni 2022 änderte das Parlament das Bergbaugesetz. Dadurch wurde es leichter, Widerstand seitens der Öffentlichkeit und Umweltbedenken zu umgehen, sodass Bergbauprojekte trotz Protesten fortgesetzt werden konnten. Lokale Umweltschützer*innen äußerten die Befürchtung, dass die neuen gesetzlichen Bestimmungen der Absicht der Regierung dienten, die Amulsar-Goldmine in Südarmenien wieder in Betrieb zu nehmen. Die Mine war aus Umweltgründen und wegen anderer Bedenken sowie aufgrund von Protesten der Zivilgesellschaft geschlossen worden.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

LGBTI+ waren nach wie vor von Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität betroffen, da die entsprechenden Gesetze weiterhin unzureichend waren. Die Behörden unternahmen nichts, um die 2021 vom Ausschuss des Europarats für Gleichstellung und Nichtdiskriminierung gemachten Empfehlungen umzusetzen. Zu diesen zählte die Verabschiedung wirksamer Gesetze und "Strategien, um zielführender gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität, des Ausdrucks der Geschlechtlichkeit sowie der Geschlechtsmerkmale vorzugehen".

Am 17. Mai 2022 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass die Behörden 2012 die Besitzerin eines LGBTI-Lokals nicht vor homofeindlicher Gewalt, darunter Brandstiftung sowie körperliche und verbale Übergriffe, geschützt und keine gründlichen Untersuchungen eingeleitet hatten.

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