Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Bosnien und Herzegowina 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Bosnien und Herzegowina

STAATSOBERHAUPT

Staatspräsidium mit turnusgemäß wechselndem Vorsitz, bestehend aus Denis Bećirović, Željko Komšić und Željka Cvijanović

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Borjana Krišto (löste im Dezember 2022 Zoran Tegeltija im Amt ab)

Stand:
1/2023

Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen wurden nach wie vor bedroht. Die Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge und Migrant*innen verbesserten sich, doch viele von ihnen waren nach wie vor obdachlos und mussten im Freien übernachten. Der Ministerrat verabschiedete Aktionspläne zur Integration von Rom*nja und zu den Rechten von LGBTI+. Zivile Kriegsopfer hatten nach wie vor nur eingeschränkten Zugang zur Justiz und zu Entschädigungsleistungen.

Hintergrund

Bosnien und Herzegowina befand sich nach wie vor in einer politischen Krise. Politische Parteien der serbischen Teilrepublik (Republika Srpska) drohten mit der Blockade staatlicher Institutionen. Die Regierung der Föderation Bosnien und Herzegowina beendete eine volle Amtszeit als geschäftsführende Regierung. Im Oktober 2022 setzte der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina Änderungen an der Verfassung der Föderation Bosnien und Herzegowina und am Wahlgesetz von Bosnien und Herzegowina durch. Ziel dieser Änderungen war es, die "Funktionsfähigkeit" der Institutionen der Föderation von Bosnien und Herzegowina zu "verbessern". Kritische Stimmen befürchteten, die Änderungen könnten zu einer Verschärfung bestehender ethnischer Spaltungen führen. Im Dezember erkannte die Europäische Union Bosnien und Herzegowina als EU-Beitrittskandidat an.

Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Medien und Journalist*innen, die über Korruption und Kriegsverbrechen berichteten, waren weiterhin politischem Druck, Schikane und Drohungen ausgesetzt. Politiker*innen führten Verleumdungskampagnen gegen Journalist*innen und animierten damit andere zu weiteren Feindseligkeiten, sowohl im Internet als auch im öffentlichen Raum. Im November 2022 wurde der Leiter der Polizei von Bosnien und Herzegowina, Zoran Čegar, suspendiert, nachdem er eine Journalistin mit den Worten bedroht hatte, er würde "ihr die Kehle rausreißen".

Im September 2022 urteilte das Verfassungsgericht, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunksender RTRS der Republika Srpska Vladimir Kovačević diffamiert habe. Der Journalist wurde, möglicherweise aufgrund der politisch geführten Verleumdungskampagne, 2018 bei Massenprotesten in Banja Luka angegriffen und schwer verletzt, woraufhin RTRS in einem Artikel haltlose Behauptungen gegen ihn aufgestellt hatte.

Bosnien und Herzegowina rutschte in der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit vom 58. auf den 67. Platz ab.

Politiker*innen und Unternehmen setzten Verleumdungsklagen zur Einschüchterung von Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen ein. Im April 2022 verklagte ein in Belgien ansässiges Unternehmen zwei lokale Umweltschützerinnen, die Bedenken angesichts möglicher Auswirkungen der Wasserkraftwerke des Unternehmens auf den Fluss Kasindolska geäußert hatten. Das Unternehmen machte überhöhte Schadensersatzforderungen gegenüber den Frauen geltend.

Die Gesetze zu friedlichen Versammlungen waren regional unterschiedlich und entsprachen im Allgemeinen nicht den internationalen Standards. Im Mai 2022 verbot die Polizei der Republika Srpska in Prijedor einen friedlichen Gedenkmarsch anlässlich des 30. Jahrestags der Verfolgung von Bosniak*innen und Kroat*innen während des Krieges. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats sah in dem Vorgehen der Polizei einen Verstoß gegen das Recht der Menschen auf friedliche Versammlung.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die Behörden registrierten 2022 fast 27.000 Personen, die Bosnien und Herzegowina bei dem Versuch, EU-Länder zu erreichen, durchquerten. 2021 waren es noch etwa 16.000 gewesen. Etwa 1.300 Personen, die meisten davon aus Afghanistan, befanden sich auch Ende 2022 noch im Land.

Während sich die Aufnahmebedingungen im Allgemeinen verbesserten, verfügten die für Migration zuständigen Schlüsselinstitutionen nach wie vor über zu wenig Mittel und waren nicht in der Lage, die Aufnahmezentren ohne die Unterstützung der Internationalen Organisation für Migration zu verwalten. Weil die Behörden keine Verteilung von Asylsuchenden auf andere Landesteile anordneten, saßen die meisten Personen im Kanton Una-Sana fest.

Die unerwartete Zunahme der Zahl eintreffender Personen ab August 2022 sowie die hohe Fluktuation in den Aufnahmeeinrichtungen führten zu einer weiteren Beeinträchtigung der Bereitstellung angemessener langfristiger Hilfeleistungen für die Bewohner*innen.

Während die meisten Flüchtlinge und Migrant*innen in Aufnahmezentren untergebracht waren, mussten in der Nähe der Grenze, hauptsächlich im Kanton Una-Sana, mehrere Hundert Menschen im Freien übernachten, darunter auch Familien mit Kindern. Sie hatten keinen Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen wie Wasser, Nahrung, sanitären Anlagen, Heizung und medizinischer Versorgung. Aktivist*innen berichteten, sie seien von den Behörden daran gehindert worden, Menschen außerhalb der Aufnahmezentren humanitäre Hilfe zukommen zu lassen.

Die im Jahr 2020 von den Kantonsbehörden gegen Flüchtlinge und Migrant*innen verhängten diskriminierenden Maßnahmen, zu denen auch rechtswidrige Einschränkungen der Bewegungsfreiheit gehörten sowie das Verbot, sich auf öffentlichen Plätzen zu versammeln und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, blieben bestehen.

Das Asylsystem war nach wie vor weitgehend ineffektiv. So dauerte die Bearbeitung von Asylanträgen durchschnittlich mehr als 400 Tage. Die Anerkennungsquoten blieben extrem niedrig. Zum Jahresende war keiner einzigen Person der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden.

Die Anträge schutzsuchender Ukrainer*innen hingegen wurden in Bosnien und Herzegowina schnell bearbeitet. Sie erhielten jedoch statt des Flüchtlingsstatus subsidiären Schutz, wodurch ihr Zugang zu elementaren Rechten wie Familienzusammenführung und Ausstellung von Reisedokumenten eingeschränkt war.

Diskriminierung

Rom*nja

Im April 2022 verabschiedete der Ministerrat des Landes einen Aktionsplan für die soziale Eingliederung von Rom*nja, um die bestehenden Lücken beim Zugang von Rom*nja zu Wohnraum, Beschäftigung, Bildung und Gesundheitsversorgung zu schließen.

Die Behörden setzten mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verfassungsgerichts von Bosnien und Herzegowina nicht um, nach denen die in der Verfassung festgelegte Machtaufteilung diskriminierend war. Nach den geltenden gesetzlichen Bestimmungen durften auch weiterhin nur Angehörige der drei "konstituierenden Völker" (Bosniak*innen, Kroat*innen und Serb*innen) für Ämter in Legislative und Exekutive kandidieren.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Im Juli 2022 verabschiedete der Ministerrat den ersten Aktionsplan für die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+) mit dem Ziel, sie besser vor Diskriminierung zu schützen.

Ein Gericht in Sarajevo bestätigte, dass eine ehemalige Abgeordnete der Kantonsversammlung von Sarajevo LGBTI+ diskriminiert hatte. Damit erging in Bosnien und Herzegowina erstmals ein Gerichtsurteil wegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Fast 500 Fälle völkerrechtlicher Verbrechen, die während des bewaffneten Konflikts zwischen 1992 und 1995 begangen worden waren, waren weiterhin vor Gericht anhängig. Insgesamt mussten sich in diesen Fällen mehr als 4.000 Personen vor Gericht verantworten. Fehlende Kapazitäten, systemische Mängel in den Staatsanwaltschaften und eine uneinheitliche regionale Zusammenarbeit führten weiterhin zu erheblichen Verzögerungen und ließen die Hoffnung vieler Betroffener auf Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung zu Lebzeiten schwinden.

Die Behörden führten kein umfassendes landesweites Programm für die Entschädigung von zivilen Kriegsopfern ein. Ob jemand Zugang zu Sozialleistungen wie der Invaliditätsrente hatte, hing vom Wohnsitz ab und war je nach Landesteil sehr unterschiedlich.

Die Behörden setzten eine Entscheidung des UN-Ausschusses gegen Folter aus dem Jahr 2019 nach wie vor nicht um. Darin wurde Bosnien und Herzegowina aufgefordert, alle Überlebenden sexualisierter Gewalt in Kriegszeiten unverzüglich und umfassend zu entschädigen.

In der Republika Srpska mussten Überlebende von Kriegsvergewaltigungen, deren Entschädigungsansprüche vor Zivilgerichten aufgrund von Verjährungsfristen zurückgewiesen wurden, überhöhte Gerichtsgebühren zahlen. Einigen drohte die Beschlagnahme ihres Eigentums zum Zwecke der Pfändung. Die UN-Kommissarin für Menschenrechte forderte ein sofortiges Ende dieser Praxis.

Mehr als 7.500 Menschen wurden als Folge des bewaffneten Konflikts noch immer vermisst.

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