Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Frankreich 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Französische Republik

STAATSOBERHAUPT

Emmanuel Macron

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Élisabeth Borne (löste im Mai 2022 Jean Castex im Amt ab)

Stand:
1/2023

Es gab weiterhin religiöse und rassistische Diskriminierung, die sich insbesondere gegen muslimische Personen und Organisationen richtete. Die Polizei wandte exzessive Gewalt an, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das Gesetz zur "Stärkung der republikanischen Grundsätze" schränkte die Vereinigungsfreiheit ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte fest, dass Frankreich die Rechte tschetschenischer Flüchtlinge und notleidender Asylsuchender verletzt habe. Die europäischen Standards für Luftqualität wurden nicht eingehalten. Ein Gericht verurteilte einen ehemaligen liberianischen Rebellenkommandanten wegen in Liberia verübter Kriegsgräuel. Wegen möglicher Mitschuld an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Jemen wurde gegen drei französische Rüstungsunternehmen Klage eingereicht. Die starke Überbelegung der Gefängnisse führte zu unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen.

Diskriminierung

Rechte muslimischer Frauen

Das Fußballerinnen-Kollektiv Les Hijabeuses wurde im Januar 2022 rechtswidrig an einer Protestveranstaltung in der Nähe des Parlamentsgebäudes gehindert, wo die Abgeordneten zu diesem Zeitpunkt über den Vorschlag für ein Verbot des Tragens religiöser Kleidung im Leistungssport diskutierten. Der Vorschlag, der als Änderungsantrag zum Gesetzentwurf zur Demokratisierung des Sports eingebracht wurde, hätte ein bestehendes diskriminierendes Verbot verschärft, das muslimische Frauen von der Teilnahme an Fußballwettkämpfen ausschließt, wenn sie sich entscheiden, dabei ein Kopftuch zu tragen. Ein Verwaltungsgericht hob das Protestverbot auf, allerdings erst, nachdem die Aktion bereits eingestellt worden war. Der Änderungsantrag wurde zwar nicht angenommen, doch kam es während der Parlamentsdebatte zu diskriminierenden Äußerungen.

Ende 2022 hatte Frankreichs höchstes Verwaltungsgericht, der Staatsrat (Conseil d’État), noch nicht über eine Klage entschieden, die das Kollektiv Les Hijabeuses im November 2021 gegen den französischen Fußballverband eingereicht hatte, um dessen diskriminierende Regel anzufechten, wonach Frauen, die ein Kopftuch tragen, nicht an Fußballturnieren teilnehmen dürfen.

Im Juni 2022 bestätigte der Staatsrat das Urteil eines vorinstanzlichen Gerichts, das das Tragen von Ganzkörper-Badeanzügen (sogenannten Burkinis) in öffentlichen Schwimmbädern in Grenoble untersagt hatte. Nach Ansicht des Gerichts würde die von der Stadt Grenoble geplante Erlaubnis der Burkinis die "Gleichbehandlung" anderer Nutzer*innen öffentlicher Dienstleistungen "untergraben". Es berief sich dabei auf das Gesetz zur "Stärkung der republikanischen Grundsätze" aus dem Jahr 2021, von dem Kritiker*innen befürchtet hatten, dass es zu Menschenrechtsverletzungen und insbesondere zur Diskriminierung muslimischer Personen und Organisationen führen würde.

Antisemitismus

Im Juni 2022 entstand in Avignon ein Wandgemälde mit offenkundig antisemitischen Motiven, Symbolen und Klischees. Es zeigte Präsident Emmanuel Macron als eine Marionette, die von einem politischen Berater gelenkt wird. Die lokalen Behörden lehnten es ab, das Wandbild zu entfernen, und begründeten dies mit dem Recht auf Meinungsfreiheit. Es wurde schließlich von Personen aus der Bevölkerung unkenntlich gemacht.

Rassistische Diskriminierung

Im Dezember 2022 forderte der UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung Frankreich auf, sich stärker zu bemühen, rassistische Hassreden zu verhindern und zu bekämpfen. Zur Begründung verwies der Ausschuss darauf, dass rassistische und diskriminierende Äußerungen führender Politiker*innen über bestimmte ethnische Minderheiten, insbesondere Rom*nja, Fahrende, Afrikaner*innen, Menschen afrikanischer Abstammung, Menschen arabischer Herkunft und Personen ohne französische Staatsangehörigkeit, nach wie vor weit verbreitet seien. Der Ausschuss zeigte sich auch besorgt darüber, dass die Polizei weiterhin diskriminierende Personenkontrollen (Racial Profiling) vornahm.

Eine Sammelklage, die mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen 2021 beim Staatsrat eingereicht hatten, war Ende 2022 noch anhängig. Darin hatten sie der Regierung vorgeworfen, nichts gegen systemische rassistische Diskriminierung und Racial Profiling durch die Polizei unternommen zu haben.

Straflosigkeit

Im Fall eines jungen Mannes, der bei einem Polizeieinsatz auf einem Musikfestival bei Redon 2021 eine Hand verloren hatte, stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein. Die Polizei hatte nachts bei schlechten Sichtverhältnissen in unangemessener und gefährlicher Weise Tränengas- und Blendgranaten sowie andere Geschosse eingesetzt. Die Staatsanwaltschaft teilte mit, die Gewaltanwendung der Polizei sei notwendig und verhältnismäßig gewesen. Dies stand in direktem Widerspruch zu den Erkenntnissen, die Amnesty International gewonnen und 2021 in einem Bericht veröffentlicht hatte.

Die Familie der getöteten algerischen Staatsbürgerin Zineb Redouane hatte 2022 immer noch keine Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung erfahren. Die 80-Jährige war im Dezember 2018 gestorben, nachdem sie während einer Demonstration, die auf der Straße vor ihrer Wohnung stattfand, von einem polizeilich abgefeuerten Tränengasbehälter am Kopf getroffen worden war, als sie gerade das Fenster schließen wollte. Wie Medien 2021 berichteten, empfahl die Aufsichtsbehörde der Nationalpolizei, eine Verwaltungsstrafe gegen den Polizisten zu verhängen, der das Behältnis abgefeuert hatte, doch der Chef der Nationalpolizei lehnte dies ab, und die gerichtlichen Ermittlungen kamen offenbar nicht voran.

Rechte auf Vereinigungs- und Meinungsfreiheit

Zivilgesellschaftliche Organisationen waren durch das Gesetz zur "Stärkung der republikanischen Grundsätze" von 2021 und die entsprechende Durchführungsbestimmung, die am 1. Januar 2022 in Kraft trat, mit Einschränkungen konfrontiert. Bereits vor der Einführung des Gesetzes hatten NGOs gewarnt, es ermögliche unverhältnismäßige Einschränkungen der Rechte auf Vereinigungs- und Meinungsfreiheit. Mehreren Organisationen drohte eine Auflösung durch die Behörden auf Grundlage anderer Gesetze.

Im Mai 2022 machte der Staatsrat die Auflösung einer antifaschistischen und zweier propalästinensischer Organisationen rückgängig, weil die Organisationen seiner Ansicht nach nicht wie zuvor geltend gemacht "zu Diskriminierung, Hass, Gewalt oder sonstigem Verhalten anstifteten, das terroristische Akte provozieren könnte".

Im Januar 2022 kündigte der Innenminister an, den unabhängigen Medienkanal Nantes Révoltée aufzulösen, ohne jedoch entsprechende Schritte einzuleiten. Im September forderte der Präfekt des Departements Vienne die Behörden der Region Poitiers auf, die Finanzierung eines Festivals zurückzuziehen, das von der Bewegung Alternatiba organisiert wurde, die sich gegen den Klimawandel und gegen soziale Ungleichheit einsetzt. Zur Begründung verwies der Präfekt auf geplante Workshops zu zivilem Ungehorsam, die seiner Ansicht nach gegen das Gesetz zur "Stärkung der republikanischen Grundsätze" verstießen.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im August 2022 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in den Fällen R. gegen Frankreich und W. gegen Frankreich, dass die französische Regierung gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen habe, indem sie die Abschiebung von zwei Tschetschenen, denen der Flüchtlingsstatus aberkannt worden war, nach Russland vollzogen bzw. geplant hatte, ohne das damit verbundene Menschenrechtsrisiko angemessen bewertet zu haben. Im Dezember entschied der EGMR im Fall M. K. und andere gegen Frankreich, die Regierung habe das Recht auf ein faires Verfahren von mittellosen Asylsuchenden verletzt, indem sie die Eilanordnungen eines Verwaltungsgerichts zur Bereitstellung einer Notunterkunft nicht umgesetzt hatte.

An der Grenze zu Italien schickte die Grenzpolizei weiterhin Menschen ohne ordnungsgemäßes Verfahren oder Berücksichtigung ihrer persönlichen Umstände zurück, darunter auch unbegleitete Minderjährige. Zugreisende und Personen, die die Grenze zu Fuß oder mit dem Auto überquerten, waren mit diskriminierenden Personenkontrollen (Racial Profiling) konfrontiert. Menschen, die nachts über die Grenze kamen, wurden ohne jede rechtliche Grundlage inhaftiert und am nächsten Morgen der italienischen Polizei übergeben. Dutzende Personen starben bei den zunehmend gefährlicheren Versuchen, die Grenze zu passieren.

Tausende Menschen versuchten weiterhin, den Ärmelkanal in kleinen Booten zu überqueren, weil es keine sicheren und legalen Wege gab, um nach Großbritannien einzureisen und dort Asyl zu beantragen.

Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge waren bis Ende Oktober 118.994 Flüchtlinge aus der Ukraine in Frankreich eingetroffen.

Grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung

Am 24. Februar 2022 übte der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes scharfe Kritik an Frankreich, weil das Land französische Kinder nicht zurückholte, die sich unter lebensbedrohlichen Bedingungen in syrischen Lagern befanden, in denen mutmaßliche Mitglieder der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat (IS) und deren Angehörige inhaftiert waren.

Im Juli 2022 holte Frankreich 35 Kinder, davon sieben unbegleitete Minderjährige, und 16 Mütter zurück, die in Lagern im Nordosten Syriens inhaftiert waren. Im September tadelte der EGMR Frankreich im Verfahren H. F. und andere gegen Frankreich, weil sich das Land geweigert hatte, zwei französische Staatsbürgerinnen zurückzuholen, die in Lagern inhaftiert waren, weil ihre Partner mutmaßliche IS-Kämpfer waren.

Frankreich traf die Entscheidung über eine Repatriierung weiterhin je nach Einzelfall, obwohl Dutzende weitere Menschen, darunter auch Minderjährige, unter prekären Bedingungen in den überfüllten Lagern festgehalten wurden.

Klimakrise

Im September 2022 bestätigte der Staatsrat, dass das Recht, in einer gesunden Umwelt zu leben, ein Grundrecht sei.

Im Oktober verhängte der Staatsrat eine Geldstrafe in Höhe von 20 Mio. Euro gegen die Regierung, weil sie im Zeitraum Juli 2021 bis Juli 2022 ihre rechtliche Verpflichtung zur Einhaltung europäischer Standards für Luftqualität nicht erfüllt hatte. Das Bußgeld musste an Umweltschutzorganisationen bezahlt werden. Ende 2022 hatte Frankreich noch keine angemessenen Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität ergriffen, um die Einhaltung der Zielvorgaben "schnellstmöglich" zu gewährleisten.

Ebenfalls im Oktober schlossen sich die Städte Paris, New York und Poitiers sowie Amnesty International Frankreich einer laufenden Klage an, die mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen 2017 gegen das Unternehmen TotalEnergies angestrengt hatten. Sie werfen dem Energiekonzern vor, die Ziele des Pariser Abkommens nicht zu erfüllen und seiner Sorgfaltspflicht hinsichtlich der Klimakrise nicht nachzukommen, die im französischen Gesetz zur Sorgfaltspflicht von Unternehmen vorgeschrieben ist.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im November 2022 fällte ein Pariser Strafgericht ein historisches Urteil, indem es den ehemaligen liberianischen Rebellenkommandanten Kunti Kamara wegen Kriegsverbrechen schuldig sprach, die zwischen 1989 und 1996 in Liberia verübt wurden. Er wurde u. a. der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie der direkten Beteiligung an Folter und "barbarischen Handlungen" für schuldig befunden.

Es gab weiterhin Kritik hinsichtlich der Auslegung des Weltrechtsprinzips im französischen Recht. Die französische Auslegung zählte zu den restriktivsten weltweit und machte die Anwendung des Weltrechtsprinzips auf die meisten völkerrechtlichen Verbrechen faktisch unmöglich.

Unverantwortliche Waffenlieferungen

Im Juni 2022 reichten mehrere NGOs bei einem Pariser Gericht Klage gegen die französischen Rüstungsunternehmen Dassault Aviation, Thales Group und MBDA France ein. Die NGOs werfen den Firmen vor, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten Waffen für den Einsatz im Jemen zu liefern und damit eine mutmaßliche Mitschuld an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu tragen. Die Regierung und das Parlament konnten sich weiterhin nicht auf die Einrichtung eines parlamentarischen Kontrollmechanismus für Waffenlieferungen einigen.

Unmenschliche Haftbedingungen

Im Juni 2022 forderten die französische Sektion der NGO International Prison Observatory und Amnesty International, es müsse dringend einen nationalen Aktionsplan geben, um gegen die Überbelegung und die unmenschlichen Bedingungen in französischen Gefängnissen vorzugehen, auf die der EGMR in einem Urteil im Jahr 2020 hingewiesen hatte.

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