Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Indonesien 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Republik Indonesien

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Joko Widodo

Stand:
1/2023

Die Behörden setzten 2022 wiederholt exzessive Gewalt ein, um Demonstrationen niederzuschlagen, die sich u. a. gegen Bergbauprojekte richteten. In den Provinzen Papua und Westpapua ging die Regierung weiterhin mit großer Härte gegen politisch Andersdenkende vor. Zahlreiche indigene Papuaner*innen wurden festgenommen, und einige von ihnen waren mit Anklagen konfrontiert, die lange Freiheitsstrafen nach sich ziehen konnten. Das Recht auf freie Meinungsäußerung blieb eingeschränkt. Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und weitere Personen waren tätlichen Angriffen und Bedrohungen im Internet ausgesetzt und wurden auf Grundlage repressiver Gesetze festgenommen und strafrechtlich verfolgt. Ein neues Gesetz stellte verschiedene Verbrechen im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt unter Strafe, Vergewaltigungen wurden jedoch nicht konsequent verfolgt. In der Provinz Aceh wurden Auspeitschungen vorgenommen. Die Sicherheitskräfte verübten in Papua, Westpapua und andernorts rechtswidrige Tötungen, die in der Regel straflos blieben.

Hintergrund

Das Parlament verabschiedete im Juni 2022 ein Gesetz, das drei neue Provinzen schuf und die bestehenden Provinzen Papua und Westpapua in kleinere Verwaltungseinheiten aufteilte. Die Regierung erklärte, die Maßnahme würde den Fortschritt beschleunigen und öffentliche Dienstleistungen verbessern. In der Region, in der es seit Langem eine Unabhängigkeitsbewegung gibt, kam es daraufhin zu Protesten, weil befürchtet wurde, dass die Neuordnung zu einer verstärkten Militärpräsenz führen könnte.

Im Dezember 2022 verabschiedete das Parlament ein neues Strafgesetzbuch, das innerhalb von drei Jahren das bisherige Recht ersetzen soll. Das neue Strafgesetzbuch verstieß gegen die Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den Schutz der Privatsphäre sowie gegen sexuelle und reproduktive Rechte und diskriminierte Frauen, lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+) sowie Minderheiten. Es sah erneut Haftstrafen für die Beleidigung des Präsidenten, des Vizepräsidenten, der Regierung und anderer staatlicher Institutionen vor und legte fest, dass Demonstrationen vorab genehmigt werden müssen. Indem einvernehmliche sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe strafbar gemacht wurden, war es dem Staat möglich, in private Entscheidungen von Einzelpersonen und Familien einzugreifen. Zudem könnte das neue Strafgesetzbuch dazu missbraucht werden, Überlebende sexualisierter Gewalt zu kriminalisieren und LGBTI+ ins Visier zu nehmen.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Die Behörden gingen mit Festnahmen, Inhaftierungen und exzessiver Gewalt gegen Demonstrierende vor, die sich z. B. für Landrechte und Umweltschutz einsetzten. Am 8. Februar 2022 griffen Sicherheitskräfte Bewohner*innen des Dorfes Wadas (Provinz Zentraljava) an, die gegen einen geplanten Steinbruch auf ihrem Land protestierten, der sich negativ auf ihre Lebensgrundlagen und die Umwelt auswirken würde. Als Hunderte Angehörige des Militärs und der Polizei in das Dorf kamen, um das dafür vorgesehene Gebiet abzusichern, kam es zu Zusammenstößen mit Dorfbewohner*innen. Bei den Auseinandersetzungen wurden 67 Personen festgenommen, später jedoch ohne Anklage wieder freigelassen. Die Polizei wies Vorwürfe zurück, sie habe übermäßige Gewalt gegen die Demonstrierenden angewandt.

Am 12. Februar 2022 erschoss die Polizei den 21-jährigen Erfaldi Erwin Lahadado bei einem Protest, der sich gegen die Vergabe einer Lizenz zum Goldabbau im Regierungsbezirk Parigi Moutong (Provinz Zentralsulawesi) richtete. Berichten zufolge setzten Angehörige der mobilen Polizeibrigade Tränengas ein und feuerten mit scharfer Munition, um Hunderte von Menschen zu zerstreuen, die die Trans-Sulawesi-Autobahn blockierten. Die Blockade war organisiert worden, nachdem der Gouverneur der Provinz nicht zu einer Diskussion erschienen war, in der es um Befürchtungen der lokalen Bevölkerung gehen sollte, die Goldmine könnte sich negativ auf ihre Lebensgrundlagen auswirken. Ein Polizist, der für den Tod von Erfaldi Erwin Lahadado verantwortlich gemacht wurde, stand Ende 2022 noch vor Gericht.

Papua und Westpapua

Im Laufe des Jahres 2022 wurden mehrere Proteste in den Provinzen Papua und Westpapua mit exzessiver Gewalt niedergeschlagen und zahlreiche Demonstrierende festgenommen. Am 10. Mai nahm die Polizei in Jayapura, der Hauptstadt der Provinz Papua, sieben politische Aktivist*innen fest, die gegen die geplante Neuordnung der Provinzen Papua und Westpapua protestierten. Alle kamen ohne Anklage wieder frei. Ebenfalls am 10. Mai traktierte die Polizei Demonstrierende, die zum Parlamentsgebäude in Jayapura marschieren wollten, mit Fußtritten, Gummiknüppeln und Holzprügeln. Ein Student, der mit der Polizei verhandelt hatte, wurde mit einer Pistole bedroht und so lange geschlagen, bis er das Bewusstsein verlor. Mindestens 36 weitere Demonstrierende erlitten Verletzungen.

Im November 2022 löste die Polizei an einer Privatuniversität (University of Technology and Science) in Jayapura eine Mahnwache gewaltsam auf, die an den einstigen Führer der Unabhängigkeitsbewegung, Theys Eluay, erinnern wollte, der 21 Jahre zuvor entführt und ermordet worden war. Berichten zufolge beschoss die Polizei die Studierenden, die die Morgensternflagge – ein Unabhängigkeitssymbol Papuas – gehisst hatten, mit Tränengas, um sie auseinanderzutreiben. Fünfzehn Personen wurden festgenommen. Drei von ihnen wurden wegen Hochverrats angeklagt und befanden sich Ende 2022 noch in Haft. Sechs Personen, gegen die Anklage wegen Gewalt gegen Polizeibedienstete erhoben worden war, kamen gegen Kaution frei.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Behörden nutzten das Gesetz über Elektronische Informationen und Transaktionen (ITE) und weitere restriktive Gesetze, um Menschenrechtsverteidiger*innen, Aktivist*innen, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und andere Personen einzuschüchtern und strafrechtlich zu verfolgen. Gegen drei der 67 Personen, die am 8. Februar 2022 im Dorf Wadas festgenommen wurden (siehe "Recht auf Versammlungsfreiheit"), leitete die Polizei auf Grundlage des ITE Ermittlungen ein, weil sie in den Sozialen Medien Videos über die Geschehnisse an jenem Tag veröffentlicht hatten. Die Betreffenden wurden nicht angeklagt, aber ihre Mobiltelefone beschlagnahmt. Außerdem sperrten die Behörden die Twitter-Konten der Protestbewegung gegen den Steinbruch in Wadas und persönliche Konten von mindestens sieben Aktivist*innen, die sich an den Protesten beteiligt hatten.

Am 6. April 2022 verurteilte das Gericht des Regierungsbezirks Ciamis (Provinz Westjava) Muhammad Kosman wegen "Verbreitung von Falschinformationen" zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Er war im August 2021 festgenommen worden, nachdem er ein Video auf Youtube hochgeladen hatte, in dem er den Islam und den Propheten Mohammed beleidigt haben soll. Die Anklage berief sich auf Bestimmungen des ITE bezüglich "Förderung von Hass" und auf das Gesetz Nr. 1/1946 über Falschinformation.

Im Mai 2022 leitete die Polizei strafrechtliche Ermittlungen gegen Dozent*innen und weitere Beschäftigte einer Universität in der Provinz Westjava ein, die Proteste veranstaltet hatten, nachdem eine ehemalige Dekanin der juristischen Fakultät sie wegen Verleumdung angezeigt und sich dabei auf das ITE berufen hatte. Die Anzeige bezog sich auf Kritik an der Politik und dem Vorgehen der Fakultätsleitung und auf Forderungen, die Dekanin zu entlassen. Mindestens 14 Dozent*innen und weitere Beschäftigte, die sich an den Protesten beteiligt hatten, wurden vernommen. Bis zum Jahresende wurde jedoch niemand angeklagt.

Im März 2022 wurden die Menschenrechtler*innen Haris Azhar und Fatia Maulidiyanti auf Grundlage des ITE wegen Verleumdung angeklagt. Sie waren im Jahr 2021 wegen "Verbreitung von Falschinformationen" angezeigt worden. Hintergrund war ein Youtube-Video, in dem sie über Vorwürfe berichtet hatten, denen zufolge der Koordinierende Minister für Meeres- und Investitionsangelegenheiten und Armeeangehörige in die Bergbauindustrie in Papua verwickelt seien. Im Falle einer Verurteilung drohten den beiden Aktivist*innen bis zu vier Jahre Gefängnis.

Journalist*innen

Im Laufe des Jahres wurden mindestens 53 Fälle tätlicher, digitaler und anderweitiger Angriffe auf mindestens 63 Journalist*innen und Medienunternehmen gemeldet. Medienberichten zufolge schlug und würgte die Polizei einen Journalisten, als dieser im April 2022 über eine Demonstration Studierender in Kendari (Provinz Südost-Sulawesi) berichtete. Das Mobiltelefon des Journalisten wurde beschlagnahmt, und ein von ihm aufgenommenes Video, das zeigte, wie die Polizei einen Demonstrierenden schlug, wurde gegen seinen Willen gelöscht.

Zwischen dem 23. und 30. September 2022 wurden die technischen Geräte und Social-Media-Konten von mindestens 38 Journalist*innen und anderen Medienschaffenden des Online-Mediums Narasi Ziel eines koordinierten Hackerangriffs. Gleichzeitig war die Website von Narasi nach einem Cyberangriff vorübergehend lahmgelegt. Narasi ist für seine Berichterstattung über Korruption, Straftaten unter Beteiligung von Staatsbediensteten und andere kontroverse Themen bekannt.

Menschenrechtsverteidiger*innen

2022 wurden mindestens 35 tätliche und digitale Angriffe auf 150 Menschenrechtsverteidiger*innen und -organisationen gemeldet. Am 9. Mai wurde auf das Gebäude des Papua-Instituts für Rechtshilfe (Lembaga Bantuan Hukum Papua) in Jayapura ein Brandanschlag verübt, bei dem ein Motorrad zerstört wurde. Es wurde befürchtet, dass der Anschlag im Zusammenhang mit der Menschenrechtsarbeit der NGO in Papua stand. Das Institut erstattete Anzeige bei der Polizei, doch wurden die Verantwortlichen nicht ermittelt.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Am 12. April 2022 verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt. Das Gesetz, das Frauenrechtlerinnen erstmals im Jahr 2012 gefordert hatten, stellte neun Formen sexualisierter Gewalt unter Strafe, darunter zum ersten Mal auch Zwangsverheiratung, körperliche und seelische Gewalt sowie sexualisierte Belästigung im Internet.

Am 24. Oktober 2022 wurde das unabhängige Nachrichtenportal Konde.co durch einen Cyberangriff vorübergehend lahmgelegt, nachdem es einige Stunden zuvor einen Bericht veröffentlicht hatte, der monierte, dass die Behörden einen Vergewaltigungsfall im Jahr 2019 nicht untersucht hatten, in den Beschäftigte des Ministeriums für Genossenschaften und kleine und mittlere Unternehmen verwickelt gewesen sein sollen. Dem Bericht zufolge wurde die Frau gezwungen, einen der mutmaßlichen Täter zu heiraten, offenbar als eine Art "Täter-Opfer-Ausgleich". Die Polizei habe die Ermittlungen daraufhin eingestellt und alle Tatverdächtigen freigelassen. Die Nachrichtenwebsite Konde.co, die über Belange von Frauen und ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen berichtet, war bereits früher Ziel von Cyberattacken.

Folter und andere Misshandlungen

Mindestens 168 Personen wurden 2022 in Aceh ausgepeitscht, der einzigen indonesischen Provinz, in der diese Strafe zur Anwendung kommt. Am 25. Januar 2022 kollabierte eine Frau zweimal, während sie wegen außerehelicher sexueller Beziehungen 100 Peitschenhiebe erhielt. Ihr Geliebter wurde mit 15 Peitschenhieben bestraft. Drei weitere Männer erhielten am selben Tag wegen Ehebruchs oder "Beihilfe zum Ehebruch" je 100 Peitschenhiebe.

Rechtswidrige Tötungen

Im Jahr 2022 wurden 36 Vorfälle mutmaßlich rechtswidriger Tötungen durch Sicherheitskräfte registriert, denen 41 Menschen zum Opfer fielen. Fünf der Vorfälle, bei denen insgesamt neun Personen getötet wurden, ereigneten sich in der Provinz Papua. Die Gesamtzahl der Opfer mutmaßlich rechtswidriger Tötungen in Papua und Westpapua, die seit Februar 2018 gemeldet wurden, stieg damit auf 105 an.

Papua und Westpapua

Am 15. März 2022 erschoss die Polizei zwei Menschen und verletzte drei weitere, als sie im Regierungsbezirk Yahukimo (Provinz Papua Pegunungan) das Feuer auf Demonstrierende eröffnete, die gegen die neue Aufteilung Papuas und Westpapuas protestierten.

Im Zusammenhang mit der Tötung und Verstümmelung von vier Papuanern im Regierungsbezirk Mimika (Provinz Papua Tengah) nahm die Polizei im August 2022 zehn Personen fest, darunter sechs Militärangehörige. Ein Kommandeur der strategischen Reserve der indonesischen Armee sagte Journalist*innen, die Tötungen seien kriminelle Handlungen, aber keine Menschenrechtsverletzungen. Am 29. August 2022 inhaftierten und folterten Sicherheitskräfte im Dorf Bade im Regierungsbezirk Mappi (Provinz Papua) drei Männer. Bruno Kimko starb aufgrund der Folter, die beiden anderen Männer erlitten schwere Verletzungen. Wegen des Vorfalls wurden 18 Angehörige der Militäreinheit Yonif Raider 600/Modang festgenommen, doch war bis zum Jahresende noch keine Anklage erhoben worden.

Im März 2022 äußerten sich UN-Expert*innen besorgt über die sich verschlechternde Menschenrechtslage in den Provinzen Papua und Westpapua und forderten umfängliche und unabhängige Untersuchungen der rechtswidrigen Tötungen und anderer Menschenrechtsverletzungen.

Am 8. Dezember 2022 sprach das Menschenrechtsgericht in Makassar (Provinz Südsulawesi) einen ehemaligen Militärkommandanten frei, dem die rechtswidrige Tötung von vier Schülern der Papua High School im Regierungsbezirk Paniai im Jahr 2014 zur Last gelegt worden war. Es gab Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Verfahrens, u. a. weil in dem Fall nur ein Verdächtiger angeklagt war und weil die Zeug*innen bis auf zwei Ausnahmen alle ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte waren. Untersuchungen der Nationalen Menschenrechtskommission Indonesiens (Komnas HAM) hatten ergeben, dass damals Angehörige der Militäreinheit XVII/Cenderawasih auf demonstrierende indigene Papuaner*innen geschossen und dabei vier Schüler getötet und 21 weitere Personen verletzt hatten. Anlass der Proteste war, dass Armeeangehörige offenbar papuanische Minderjährige verprügelt hatten. Nach Ansicht von Komnas HAM reihte sich der Vorfall in systematische und weit verbreitete Angriffe auf Zivilpersonen ein.

Exzessive Gewaltanwendung

Am 1. Oktober 2022 kam es im Kanjuruhan-Stadion der Stadt Malang in Ostjava nach einem Fußballspiel zu einer Massenpanik, bei der 135 Personen starben und weitere 433 verletzt wurden. Zwei getrennte Untersuchungen ergaben, dass exzessive Gewaltanwendung durch die Polizei die Hauptursache der Katastrophe war. Sowohl eine vom Präsidenten eingesetzte Untersuchungskommission als auch Ermittlungen der Komnas HAM kamen zu dem Schluss, dass ein massiver Tränengaseinsatz zu der Panik und anschließenden Massenflucht geführt hatte, bei der viele Personen zu Tode getrampelt wurden. Nach Angaben von Komnas HAM feuerte die Polizei insgesamt 45 Tränengaskanister in die Menge. Gegen sieben mutmaßlich Verantwortliche wurde Anklage erhoben, darunter drei Polizist*innen und ein*e Armeeangehörige*r.

Klimakrise

Im September 2022 aktualisierte die Regierung ihren nationalen Klimabeitrag (Nationally Determined Contribution – NDC). Das Ziel, die Treibhausgasemissionen auf Netto-Null zu reduzieren, soll nun im Jahr 2060 erreicht werden und nicht erst im Jahr 2070. Bis 2030 sollen die Emissionen um 32 Prozent gesenkt werden, anstatt um 29 Prozent, und bei entsprechender Hilfe aus dem Ausland um 43 Prozent anstatt um 41. Unabhängige Analyst*innen bewerteten diese Ziele als unzureichend und kritisierten, Indonesien sei viel zu stark von Kohle abhängig und ergreife keine ausreichenden Maßnahmen, um fossile Energieträger durch erneuerbare Energien zu ersetzen.

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