Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt [a-12132-2]

14. Juni 2023

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Kurzbeschreibungen zu den in dieser Anfragebeantwortung verwendeten Quellen sowie Ausschnitte mit Informationen aus diesen Quellen finden Sie im Anhang. 

Generelle Regelungen und Informationen aus der Praxis betreffend das aktuelle Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt am Grenzübergang

In seinem Länderinformationsbericht zu Syrien vom Mai 2022 schreibt das niederländische Außenministerium unter Bezugnahme auf eine vertrauliche Quelle Folgendes: Ein Mann, der aus dem Ausland (über den Land- oder Luftweg) nach Syrien zurückkehre und einen Dienst als Reservist abzuleisten habe, werde von Grenzbeamt·innen bei seiner Einreise ins Land darüber informiert. Er müsse sich dann innerhalb von 15 Tagen beim Rekrutierungsbüro melden. Wenn dies nicht erfolge, könne er, etwa an einem Checkpoint oder im Zuge einer Verhaftungskampagne festgenommen werden. Der vertraulichen Quelle zufolge seien zwischen Mai 2021 und Mai 2022 mindestens ein paar Dutzend Rückkehrer als Reservisten rekrutiert worden. Auch einer weiteren Quelle seien Fälle von Rückkehrern bekannt, die dazu aufgefordert worden seien, als Reservisten zu dienen oder ihren Wehrdienst abzuleisten (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Mai 2022, S. 53). In einer E-Mail-Auskunft vom 29. Mai 2023 bestätigt Muhsen Al-Mustafa, Forscher am Omran Center for Strategic Studies, die 15-Tage-Frist. Al-Mustafa zufolge würden alle Personen, die nach Syrien einreisen und alle, die eine Einberufung zum Reservedienst erhalten hätten, eine Sicherheitsüberprüfung durch syrische Behörden durchlaufen. Männern, die zum Reservedienst einberufen worden seien, würde ein Schriftstück überreicht, das von der für sie zuständigen Rekrutierungsabteilung (AR: Schu’bat al-Tadschnid) innerhalb von 15 Tagen überprüft werden müsse. Erfolge die Aushändigung des Dokumentes nicht innerhalb dieser Frist, werde der zum Reservedienst Einberufene verhaftet und habe seinen Reservedienst abzuleisten. In manchen Fällen, insbesondere in ländlichen Gebieten, sei es Al-Mustafa zufolge für Reservisten möglich, Soldaten an Checkpoints zu bestechen, um nicht in den Reservedienst eintreten zu müssen (Al-Mustafa, 29. Mai 2023). Auch Jusoor for Studies, eine unabhängige Forschungseinrichtung mit Sitz in der Türkei und ein Think Tank, der sich unter anderem mit Syrien befasst, bestätigte in einer E-Mail-Auskunft vom 6. Juni 2023, dass diese Regelung noch aufrecht sei. Aus dem Ausland nach Syrien einreisenden Reservisten mit aufrechtem Einberufungsbefehl würden an der Grenze die Ausweisdokumente von Grenzbeamt·innen abgenommen. Sie würden andere Dokumente erhalten und aufgefordert, mit diesen im Rekrutierungsbüro zu erscheinen. Im Rekrutierungsbüro würden sie dann offiziell über die Einberufung zum Reservisten informiert (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023). Unter Bezugnahme auf verschiedene Quellen erläutert das Danish Immigration Service (DIS) in einem Bericht vom Mai 2020, dass die militärische Einberufung von Individuen an Grenzübergängen erfolge. Beamt·innen an Checkpoints und an der Grenze hätten Zugang zu einer zentralisierten Datenbank mit den Namen aller, nach denen für den Militärdienst gefahndet werde (DIS, Mai 2020, S. 11).

In einem Telefonat am 25. Mai 2023 erklärt Fabrice Balanche, Associate Professor und Forschungsdirektor an der Universität von Lyon 2, gegenüber ACCORD, dass in Syrien die meisten Männer, die die Wehrpflicht abgeleistet hätten, bis zum Alter von 50 Jahren Reservisten seien. Es gebe hier nur sehr wenige Ausnahmen. Für potentiell reservepflichtige, im Ausland lebende Syrer würde die Einreise nach Syrien immer das Risiko der Einberufung zum Reservedienst bedeuten, solange sie noch im reservepflichtigen Alter seien. Männern, die sich im Ausland befänden und etwa über den Libanon nach Syrien einreisen wollen, sei zu empfehlen, durch eine andere Person an der Grenze überprüfen zu lassen, ob sie für den Reservedienst einberufen worden seien. Würden die Betroffenen selbst am Grenzübergang erscheinen, bestehe die Gefahr, dass sie sofort einberufen würden, sollte ein aufrechter Einberufungsbefehl für den Reservedienst bestehen. An der Grenze könne die vorausgeschickte Person gegen Bezahlung eines Grenzbeamten, elektronisch überprüfen lassen, ob ein Einberufungsbefehl für den Reservedienst bestehe. Sollte ihr Name nicht aufscheinen, könne die betreffende Person das Risiko der Einreise nach Syrien auf sich nehmen. Eine Einreise sei dennoch riskant, denn ein Mann könne an einem der zahlreichen Checkpoints im Land unter dem Vorwand eines bestehenden Einberufungsbefehls oder eines vorhandenen politischen Berichts („political report“; AR: taqrir) zu seiner Person vom syrischen Geheimdienst oder dem Militär festgenommen und inhaftiert zu werden, bis ein Freikauf aus der Haft erfolge. Personen, die nicht imstande oder willens seien, sich freizukaufen, würden eine wochenlange Inhaftierung riskieren. Es würden auch oft Fehler passieren. Es könne passieren, dass Personen, deren Namen an den Landesgrenzen nicht für den Reservedienst aufscheinen, in der Heimatstadt vom Militärbüro erfahren, dass durchaus ein offener Einberufungsbefehl zum Reservedienst bestehe. Es sei dem Experten zufolge daher besser, sowohl an der Außengrenze des Landes prüfen zu lassen, ob ein Einberufungsbefehl bestehe, als auch in der Herkunftsstadt/im Herkunftsdorf der jeweiligen Person, etwa indem ein/e dort lebende/r Verwandte/r um Einholung der Auskunft gebeten würde (Balanche, 24. Mai 2023).

Balanche seien viele Beispiele für Männer bekannt, deren Namen nicht in der Reservistenliste am Grenzübergang bei der Einreise in von der Regierung kontrollierte Gebiete in Syrien aufgeschienen seien, die nach Einreise ins Land jedoch trotzdem inhaftiert worden seien. Es sei laut Balanche für jeden Mann zwischen 18 und 50 Jahren riskant, nach Syrien einzureisen, besonders in die von der Assad-Regierung kontrollierten Gebiete, da nie vorhergesagt werden könne, was passieren werde (Balanche, 24. Mai 2023).

Generelle Regelungen und Informationen aus der Praxis, wonach ein registrierter Reservist unmittelbar bei der Einreise aus dem Ausland in das syrische Staatsgebiet eingezogen und/oder eingesperrt wird

Unter Bezugnahme auf Aussagen eines abtrünnigen Obersts [Passage entfernt] erläutert Al-Mustafa, dass Rückkehrer, die vor der Rückkehr zum Reservedienst einberufen worden seien und ohne Angabe von Gründen Syrien verlassen hätten, vor Gericht kommen und sofort verhaftet werden könnten (Al-Mustafa, 29. Mai 2023).

Laut Artikel 34 des Gesetzesdekretes 104 von 2011 zum Mobilisierungsgesetz hat jede Person, die im Rahmen des Mobilisierungsplanes mobilisiert wurde und eine Adressänderung vorgenommen hat, die zuständige Division innerhalb von zwei Monaten, wenn sie sich im Ausland befindet, und 15 Tagen, wenn sie sich in Syrien befindet, darüber zu informieren. Zuwiderhandeln wird Artikel 34 zufolge mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis drei Monaten geahndet (Gesetzesdekret Nr. 104 von 2011, Artikel 34).

Laut Artikel 104 des Gesetzesdekretes Nr. 30 von 2007 zur Wehrpflicht hat jeder Reservist, der seinen in der Rekrutierungsabteilung registrierten Wohnort wechselt, dies innerhalb eines Monats nach dem Tag des erfolgten Wechsels zu melden. Zuwiderhandeln werde laut Artikel 104 mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis drei Monaten und einer Geldstrafe in der Höhe zweier Monatsgehälter eines Soldaten ersten Grades begegnet. Dieselbe Strafe gilt auch für Reservisten, die verreisen möchten oder sich außerhalb des Landes befinden, wenn sie ihren vorgesehenen Pflichten nicht nachkommen (Gesetzesdekret Nr. 104 von 2011, Artikel 34).

In zwei Fällen würden registrierte Reservisten bei einer Einreise nach Syrien aus dem Ausland sofort festgenommen, ohne eine Gnadenfrist zu erhalten, so Jusoor for Studies. Der erste Fall trete ein, wenn ein Reservist die Statusregelung an einer syrischen Vertretung nicht abgeschlossen habe, während er sich noch außerhalb Syriens befunden habe. Der zweite Fall trete ein, wenn nach dem Reservisten aus Sicherheitsgründen gefahndet werde. Jusoor for Studies zufolge habe es viele Fälle registrierter Reservisten gegeben, die aus einem dieser zwei Gründe festgenommen worden seien. Überdies würden auch registrierte Reservisten, die den regulären Weg beschritten hätten, die also ihren Status vor Einreise bei einer Auslandsvertretung geregelt hätten und nach denen nicht aus Sicherheitsgründen gefahndet werde, festgenommen, um Geldzahlungen von deren Familien zu erpressen. Reservisten, die aus dem Ausland nach Syrien einreisen und gegen die ein Sicherheitsbericht (ein Memorandum der Sicherheitsbehörden auf Grundlage eines schriftlichen Berichts) und eine militärpolizeiliche Meldung vorliegen würden, würden auf Grundlage des Sicherheitsberichts sofort festgenommen, erläutert Jusoor for Studies. Nach Klärung der Angelegenheit („resolving the matter“), würden sie unmittelbar in den Reservedienst überstellt und bekämen nicht die Gelegenheit, Beschwerde einzulegen (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023).

Ein Artikel vom April 2023 des oppositionellen, syrischen Nachrichtensenders Syria TV mit Sitz in Istanbul berichtet von der Festnahme zweier junger Männer, die zum Reservedienst einberufen worden seien, am Grenzübergang Masnaa zum Libanon durch den syrischen Geheimdienst, nachdem die beiden aus dem Libanon ausgewiesen worden seien. Sie seien in eine Haftanstalt in Damaskus gebracht worden (Syria TV, 24. April 2023).

In seiner E-Mail-Auskunft erläutert Al-Mustafa, dass ihm in den letzten Jahren keine Fälle bekannt geworden seien, in denen registrierte Reservisten, die aus dem Ausland nach Syrien eingereist seien, unmittelbar festgenommen worden seien oder sofort in den Reservedienst eintreten hätten müssen (Al-Mustafa, 29. Mai 2023).

Einreise eines registrierten Reservisten aus dem Ausland in Gebiete, welche von der Syrischen Nationalarmee (SNA)/Freien Syrischen Armee (FSA), den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (KR: Yekîneyên Parastina Gel; YPG) bzw. der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) kontrolliert werden, oder in Gebiete, welche unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen

Personen, die von der Türkei aus etwa nach Idlib, Afrin oder Dscharabulus[1] reisen würden, könnten Balanche zufolge nicht von der syrischen Regierung gefunden und zum Dienst in der Armee einberufen werden, weil die syrische Regierung nicht von ihrer Einreise erfahre. Bei einer Einreise in die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) über den Grenzübergang Faysh Khabour aus dem Irak, erfahre die syrische Regierung offiziell nichts von der Einreise nach Syrien. Daran bestünden jedoch Zweifel, da eine informelle Vereinbarung zwischen der AANES und der syrischen Regierung zu bestehen scheine. Die syrische Regierung wisse, wer über Faysh Khabour nach Syrien einreise. Es könne auch sein, dass sich Spitzel der syrischen Regierung in der Region befinden, da die syrische Regierung genau überwache, wer über Faysh Khabour nach Syrien einreise. Als Reservist könne man jedoch in der AANES-kontrollierten Region nicht von der syrischen Regierung gefasst werden, außer man betrete von der Regierung kontrollierte Gebiete in Qamischli oder Al-Hasaka, da beide Städte unter geteilter Kontrolle stünden. In Qamischli gebe es einen Sicherheitsabschnitt („security square“), der unter der Kontrolle der syrischen Armee stehe, während der Rest der Stadt von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (KR: Yekîneyên Parastina Gel; YPG) kontrolliert werde. In der Nähe des Flughafens befinde sich eine Zone im Graubereich, wo es möglich sei, von regierungsnahen Kräften festgenommen zu werden. In Al-Hasaka sei die Regierungskontrolle auf einen sehr kleinen Abschnitt beschränkt, der weniger als einen Quadratkilometer umfasse. Abgesehen davon sei es für Reservisten in den AANES-kontrollierten Gebieten relativ sicher („quite safe“) (Balanche, 24. Mai 2023).

Innerstaatlicher Übertritt eines registrierten Reservisten von einem Gebiet, welches nicht unter Kontrolle der syrischen Assad-Regierung steht, in ein vom syrischen Regime kontrolliertes Gebiet

Innerhalb von Syrien sei es Balanche zufolge grundsätzlich möglich, zwischen den von unterschiedlichen Akteuren kontrollierten Gebieten zu reisen, sofern eine Person keine Probleme mit der syrischen Regierung habe. Es sei etwa möglich, von Damaskus nach Raqqa und von dort nach Aleppo zu reisen. Frauen und ältere Personen würden zwischen den verschiedenen Gebieten hin- und herreisen. Für Männer zwischen 18 und 50 Jahren sei es besser, die eigenen Gebiete nicht zu verlassen, da sie zum Militärdienst einberufen werden könnten (Balanche, 24. Mai 2023). Registrierte Reservisten, die aus einem Gebiet, welches nicht unter Kontrolle der syrischen Assad-Regierung steht, in ein vom syrischen Regime kontrolliertes Gebiet einreisen würden, könnten laut Al-Mustafa verhaftet und sofort zur Ableistung des Reservedienstes entsendet werden (Al-Mustafa, 29. Mai 2023).

Sich zwischen den verschiedenen Gebieten hin- und herzubewegen sei sehr schwierig, so Al-Mustafa. In den meisten Fällen würde dies mit Hilfe von Schmugglern erfolgen. Es gebe offizielle Übergänge an der Grenze zwischen AANES-Gebieten und von der Regierung kontrollierten Gebieten. Der Ein- und Ausreiseprozess zwischen den Oppositionsgebieten und den Regierungsgebieten sei dagegen sehr kompliziert (Al-Mustafa, 29. Mai 2023).

Jusoor for Studies zufolge seien die Sicherheitsabläufe für Personen, die in einem Gebiet in Syrien leben, das nicht unter Kontrolle der syrischen Regierung stehe, und in von der Regierung kontrolliertes Gebiet einreisen, strenger als jene für Personen, die außerhalb des Landes leben würden. Personen, die aus Gebieten unter Kontrolle der Opposition oder aus AANES-Gebieten einreisen würden, würden verhaftet, sofern sie keine Statusregelung durchgeführt hätten und einen bestimmten Geldbetrag gezahlt hätten, bevor sie in von der Regierung kontrollierte Gebiete eingereist seien (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023).

Die Ausstellung von Reisegenehmigungen für Reisen aus nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten in von der Regierung kontrollierte Gebiete sei möglich, wenn Vereinbarungen oder Übereinkünfte zwischen den verschiedenen Parteien bestünden. Es habe etwa Vereinbarungen zwischen AANES und der syrischen Regierung gegeben, die die Überstellung und Behandlung von Patient·innen in Krankenhäusern in von der Regierung kontrollierten Gebieten erlaubt hätten, ohne dass diese festgenommen worden seien (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023).

Reise jemand aus dem Irak über Faysh Khabour nach Syrien ein, sei eine legale Einreise in von der Regierung kontrollierte Gebiete nicht möglich, so Balanche. Wenn eine aus dem Ausland einreisende Person etwa nach Damaskus reisen wolle, müsse sie über einen offiziellen Grenzübergang unter Kontrolle der syrischen Regierung etwa über den Libanon oder die jordanisch-syrische Grenze, einreisen. Eine Einreise über den Grenzübergang Faysh Khabour gelte offiziell nicht als Einreise nach Syrien und der Reisepass werde nicht abgestempelt. Man erhalte bei der Einreise lediglich ein „Papiervisum“. Sollte eine Person, dennoch versuchen, zum Beispiel nach Damaskus weiterzureisen, würde sie festgenommen werden (Balanche, 24. Mai 2023).

Für einen registrierten Reservisten sei es laut Balanche nicht möglich, aus einem von der Regierung kontrollierten Gebiet in die anderen Gebiete zu reisen. Das syrische Militär oder die Polizei würde das nicht zulassen, denn ein Mann im reservedienstfähigen Alter könne auf diese Weise aus dem Gebiet der syrischen Regierung oder aus Syrien entkommen. Nur Männer über 50 und Frauen würden Reisen in diese Richtung antreten. Männer im reservedienstfähigen Alter würden eine Sondererlaubnis benötigen, was sehr kompliziert sei. Nur sehr wenigen Männern im Alter zwischen 18 und 50 Jahren würde es gelingen, die von der Regierung kontrollierten Gebiete zu verlassen. Viele Menschen würden versuchen, mithilfe von Schmugglern zwischen den Gebieten unter Kontrolle verschiedener Akteure zu reisen, doch dies sei enorm riskant. Andersherum sei eine Einreise in Regierungsgebiete möglich, aber Männer, die im wehrdienstpflichtigen Alter seien und ihren Wehrdienst nicht abgeleistet hätten, würden umgehend festgenommen und einberufen werden (Balanche, 24. Mai 2023).

Al-Mustafa zufolge würden an den Übergängen der Gebiete unter Kontrolle der verschiedenen Akteure reguläre Sicherheitsüberprüfungen erfolgen, auf deren Grundlage weiter vorgegangen werde (Al-Mustafa, 29. Mai 2023). Bei dieser Sicherheitsüberprüfung werde die nationale Identifikationsnummer („national number“) der betreffenden Person von einem Geheimdienst- oder Militärbeamten verifiziert. Auf diese Weise werde sichergestellt, dass nicht aus Sicherheitsgründen im Zusammenhang mit Oppositionstätigkeiten oder für den Militär- oder Reservedienst nach der Person gefahndet werde. Werde die Person aufgrund von Oppositionstätigkeiten gesucht, werde sie umgehend verhaftet. Werde nach der Person für den Militär- oder Reservedienst gefahndet, gebe es zwei Optionen: Personen, deren zuständiges Rekrutierungsbüro sich in von der Regierung kontrollierten Gebieten befände, würden aufgefordert, sich dort zu melden. Personen, deren zuständiges Rekrutierungsbüro sich in einem Gebiet befände, das nicht von der Regierung kontrolliert werde, könnten festgenommen und zum Zweck der Ausübung ihres Militär-/Reservedienstes der Militärpolizei ausgehändigt werden. Al-Mustafa könne letztere Vorgangsweise jedoch nicht zu 100 Prozent bestätigen und ihm seien solche Fälle nicht bekannt (Al-Mustafa, 31. Mai 2023). Laut Balanche gebe es an den Übergängen von innerstaatlichem Gebiet, welches nicht unter Kontrolle der syrischen Assad-Regierung steht, in ein vom syrischen Regime kontrolliertes Gebiet Checkpoints. Hier würden Ausweise der Reisenden kontrolliert und es würde gefragt, warum man in das jeweilige Gebiet einreisen wolle, ob man Verwandte in der Gegend habe und ob jemand bürgen könne, dass man nicht dem sogenannten Islamischen Staat (IS; auch Daesch/Daesh) oder einer Terrorgruppe angehöre (Balanche, 24. Mai 2023).

Balanche seien keine Aufzeichnungen und/oder Berichte darüber, wie viele Personen zwischen diesen Gebieten ein- und ausreisen, bekannt (Balanche, 24. Mai 2023). In seiner E-Mail-Auskunft vom Mai 2023 erklärt Al-Mustafa, dass es nahezu unmöglich sei, an Informationen zur Ein- und Ausreise von Personen zwischen den verschiedenen Gebieten zu gelangen (Al-Mustafa, 29. Mai 2023). Jusoor for Studies erklärt in der E-Mail-Auskunft vom Juni 2023, dass es dazu keine offiziellen Statistiken gebe, da solche Bewegungen meistens über inoffizielle Kanäle und Schmuggelnetzwerke ablaufen würden (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023).

Balanche kenne keine Fälle von Reservisten, die bei einer innerstaatlichen Einreise in das von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiet unmittelbar eingezogen wurden. Der Experte erläutert, dass Syrer, die wüssten, dass für sie die Gefahr bestehe, zum Reservedienst eingezogen zu werden, das sehr hohe Risiko kennen würden, das mit einer Einreise in von der Regierung kontrolliertes Gebiet zusammenhänge. Männer mit aufrechtem Einberufungsbefehl zum Reservedienst könnten Balanche zufolge an den Territorialgrenzen sofort abgeführt werden (Balanche, 24. Mai 2023). In seiner E-Mail-Auskunft vom Mai 2023 erklärt Al-Mustafa, dass es nahezu unmöglich sei, an Informationen zur Frage zu gelangen, inwiefern Reservisten bei einer innerstaatlichen Einreise in das von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiet unmittelbar eingezogen wurden (Al-Mustafa, 29. Mai 2023). Jusoor for Studies erklärt in der E-Mail-Auskunft vom Juni 2023, dass die Informationen, die dazu in öffentlich zugänglichen Quellen vorhanden seien, sehr begrenzt seien. Manchmal würden Medien mit Sitz außerhalb Syriens von solchen Vorfällen berichten. Im Allgemeinen seien Verwandte von Personen, die festgenommen worden seien, oft zögerlich, sich mit Medien oder Organisationen auszutauschen, weil das ihr eigenes Leben und das Leben der Festgenommenen gefährde (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023).

Generelle Regelungen und/oder Informationen aus der Praxis, ob es für einen Reservisten möglich ist, für einen kurzen (bis zu mehrmonatigen) Aufenthalt aus dem Ausland nach Syrien einzureisen, ohne unmittelbar zum Reservedienst einberufen zu werden

Laut einem Webseiteneintrag der dem syrischen Verteidigungsministerium unterstellten Generaldirektion für Rekrutierungsangelegenheiten sei es Auslandssyrern möglich, um eine Befreiung vom Reservedienst anzusuchen. Ein Ansuchen werde bewilligt, wenn sich das Datum der Ausreise mit dem Datum der Versendung der Reservediensteinberufung überschneide. Personen, deren Ansuchen bewilligt worden sei, sei es erlaubt, Syrien pro Kalenderjahr für eine Zeitspanne von 90 Tagen zu besuchen (Syrien, Generaldirektion für Rekrutierungsangelegenheiten, ohne Datum). Dies wird auch im DIS-Bericht vom Mai 2020 zum Militärdienst in Syrien beschrieben. Unter Bezugnahme auf das syrische Außenministerium beschreibt DIS weiters, dass zum Zweck der Antragstellung das vollständig ausgefüllte betreffende Formular erforderlich sei sowie eine Bestätigung über das Betreten und Verlassen des Landes und das Wehrdienstheft, sofern es im Besitz der Person sei. Überdies sei die Vorlage eines syrischen Reisepasses oder Ausweises oder eines Auszuges aus dem syrischen Personenstandsregister erforderlich. Wenn der Antrag bewilligt werde, erhalte der Antragsteller ein Dokument, das den Aufschub seines Reservedienstes bestätige (DIS, Mai 2020, S. 29-30).

In einem Artikel von Eqtesad, der Wirtschaftsnachrichtenseite der in Homs gegründeten und der Revolution nahestehenden Onlinezeitung Zaman al-Wasl, vom 19. Oktober 2019 wird von einer Reihe von Syrern berichtet, die über die oben beschriebene Möglichkeit aus dem Kuwait, aus Saudi-Arabien und dem Libanon nach Syrien eingereist seien und sich dort maximal 90 Tage aufgehalten hätten, ohne zum Dienst beim Militär einberufen zu werden. Ein Syrer, der aus dem Libanon eingereist sei, sei jedoch an der Grenze trotz erfolgter Bewilligung seines Antrages zur zeitlich begrenzten Einreise nach Syrien, einberufen worden (Eqtesad, 31. Oktober 2019; siehe auch DIS, Mai 2020, S. 29-30). In einem Interview mit DIS im Februar 2020 habe ein Vertreter des Think Tanks Jusoor for Studies ausgesagt, dass ihm viele Männer bekannt seien, die von dieser Einreisemöglichkeit Gebrauch gemacht hätten. Männer unterschiedlichen Alters hätten bei den syrischen Vertretungsbehörden um einen Besuch in Syrien angesucht und seien nach Syrien gereist, um ihre Familien für eine gewisse Zeitspanne zu besuchen. Dem Vertreter zufolge stünde diese Option jedoch Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern nicht zur Verfügung. Auch Omran Studies habe gegenüber DIS bestätigt, dass diese Regelung, die Männern im Wehrpflichtalter die Möglichkeit gebe, Syrien für drei Monate zu besuchen, ohne einberufen zu werden, von der syrischen Regierung umgesetzt werde. Einem von DIS interviewten syrischen Aktivisten zufolge sei eine Rückkehr nach Syrien auf Grundlage dieser Regelung gefährlich (DIS, Mai 2020, S. 29-30).


 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 25. November 2020)

·      Al-Mustafa, Muhsen: E-Mail-Auskunft 29. Mai 2023

·      Al-Mustafa, Muhsen: E-Mail-Auskunft 31. Mai 2023

·      Balanche, Fabrice: Telefonauskunft, 24. Mai 2023

·      DIS – Danish Immigration Service: Syria Military Service, Mai 2020
https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf

·      Eqtesad: „Besuch des Landes”: Erfahrungen junger Syrer und Details zu Kosten und erforderlichen Unterlagen, 31. Oktober 2019
https://www.eqtsad.net/news/article/27804/

·      Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007, Wehrpflichtgesetz, 12. Mai 2007
http://www.parliament.gov.sy/arabic/index.php?node=201&nid=4921&RID=-1&Last=2&First=0&CurrentPage=0&Vld=-1&Mode=-1&Service=-1&Loc1=0&Key1=%CC%E4%CF%ED%20%C7%CD%CA%ED%C7%D8%ED&SDate=&EDate=&Year=-1&Country=&Num=&Dep=-1&

·      Gesetzesdekret Nr. 104 von 2011, Mobilisierungsgesetz, 21. August 2011
http://www.parliament.gov.sy/arabic/index.php?node=201&nid=4393&RID=-1&Last=176&First=0&CurrentPage=1&Vld=-1&Mode=-1&Service=-1&Loc1=0&Key1=%C7%CD%CA%ED%C7%D8&SDate=&EDate=&Year=-1&Country=&Num=&Dep=-1&

·      Jusoor for Studies, E-Mail-Auskunft, 6. Juni 2023

·      Netherlands Ministry of Foreign Affairs: Country of origin information report Syria, Mai 2022
https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf

·      OHCHR – UN Office of the High Commissioner for Human Right: Syrian Arab Republic: Approximate Areas of Influence as of December 2022, https://www.ohchr.org/sites/default/files/2023-03/4620_14_202301_MapOf·influence_Syria_2022Dec.jpg

·      Syria TV: Syrische Regierung nimmt zwei junge Männer, die für den Reservedienst einberufen wurden, fest, nachdem sie aus dem Libanon ausgewiesen wurden, 24. April 2023
https://www.syria.tv/%D8%A7%D9%84%D9%86%D8%B8%D8%A7%D9%85-%D8%A7%D9%84%D8%B3%D9%88%D8%B1%D9%8A-%D9%8A%D8%B9%D8%AA%D9%82%D9%84-%D8%B4%D8%A7%D8%A8%D9%8A%D9%86-%D9%85%D8%B7%D9%84%D9%88%D8%A8%D9%8A%D9%86-%D9%84%D9%84%D8%A7%D8%AD%D8%AA%D9%8A%D8%A7%D8%B7-%D8%A8%D8%B9%D8%AF-%D8%AA%D8%B1%D8%AD%D9%8A%D9%84%D9%87%D9%85%D8%A7-%D9%85%D9%86-%D9%84%D8%A8%D9%86%D8%A7%D9%86

Syrien, Generaldirektion für Rekrutierungsangelegenheiten, Allgemeine Bestimmungen, ohne Datum
http://mod.gov.sy/mservice/site/arabic/index.php?node=55148&cat=15203&


 

Anhang: Quellenbeschreibungen und Informationen aus ausgewählten Quellen

Das Danish Immigration Service (DIS) ist die in Dänemark für Einwanderung, Einreise und Aufenthalt von Ausländer·innen zuständige Behörde des Ministeriums für Einwanderung und Integration.

·      DIS – Danish Immigration Service: Syria Military Service, Mai 2020
https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf

„Conscription moreover takes place at border crossings. Officers at checkpoints and at the border have access to a centralized database containing the names of those wanted for military service, and men, who are e.g. in Lebanon, can pay bribes to check whether their names are registered in this database before returning to Syria. According to SAWA, all Syrian men in the military service age fear being conscripted at the border, if they try to return, including men who have the right to be exempted and men trying to make use of a temporary amnesty from military service.“ (DIS, Mai 2020, S. 11)

“According to a circular issued in 2019, men wanted for military service, who are returning to Syria, are granted a period of 15 days to show up at the recruitment office and sort out their affairs before joining the SAA [Syrian Arab Army]. As the Syrian activist Rami explained, the GoS [Government of Syria] is thus being more lenient today and gives those wanted for military service a period of time to come back home and prepare themselves to join the SAA. Previously, these men would have been taken straight from the border to military service. Omran Studies, however, knew of cases where Syrian men had been taken directly from Damascus International Airport to military service and sent to the frontlines in Deir Ezzor without prior training.” (DIS, Mai 2020, S. 12)

„Expatriates who have completed their compulsory military service and have been called up for reserve duty on the day that they left Syria or afterwards, can apply to postpone their reserve service and visit Syria for up to 90 days once a year.

Persons who have left Syria illegally or by using fake passports will have to sort out their affairs before applying to postpone their reserve duty. Along with a completed application form, the expatriate has to submit the following documents:

an Entry and Exit Statement,

the military book or a copy of it, if it is in his possession, and

a Syrian passport or Syrian ID-card or Syrian Civil Registry Statement. If the application is approved, the expatriate will receive a document proving his postponement of reserve duty.

2.5.2. Implementation of approval to visit Syria

In an article on the economic news website, Eqtsad, issued on 31 October 2019, the procedure and implementation of ‘Visit to the Country’ is elaborated. According to the article, applications to visit Syria for Syrian citizens and Palestinians from Syria of military service age are approved if applicants are not wanted by the GoS [Government of Syria] for any crime. The article further mentions cases of people who got such approvals and went to Syria, including cases of Syrian men from Kuwait, Saudi Arabia and Lebanon who succeeded in returning back to Syria and stayed for a maximum of 90 days without being conscripted. However, a Syrian man from Lebanon was conscripted at the border despite having an approval to visit the country.

Jusoor for Studies told the delegation that he knew many men in different ages who had made use of the above-mentioned option. They applied for the visit at a Syrian diplomatic representation and went back to visit their families for a period of time. They did not experience any issues with regard to military service. To the source’s knowledge, however, this option is not available for deserters and draft evaders. According to Omran Studies, the rule that gives men in the military service age the opportunity to visit Syria for a period of three months without being conscripted, is being implemented by the GoS.

The Syrian activist Rami, however, found it dangerous to return to Syria on the basis of a decree allowing men in the military service age to pay a three months visit to Syria.“ (DIS, Mai 2020, S. 29-30)

Das Außenministerium der Niederlande (Ministerie van Buitenlandse Zaken, BZ) ist die Regierungsbehörde der Niederlande, die für die auswärtigen Angelegenheiten des Landes zuständig ist.

·      Netherlands Ministry of Foreign Affairs: Country of origin information report Syria, Mai 2022
https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf

„According to a confidential source, if a man returning to Syria from abroad (by land or air) has to serve as a reservist, this will be made known to him by border post personnel on his arrival in the country. He must then report to the recruitment office within fifteen days. If he does not do so, he may be arrested, for example at a checkpoint or during a campaign of arrests. The source consulted stated that at least several dozen returnees were recruited as reservists during the reporting period. Another source said it, too, was aware of cases in which returnees were called up to serve as conscripts or reservists.“ (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Mai 2022, S. 53)

 



[1] Nordwestsyrische Gebiete unter Kontrolle der Opposition und mit Präsenz türkischer Kräfte; OHCHR – UN Office of the High Commissioner for Human Rights: Syrian Arab Republic: Approximate Areas of Influence as of December 2022, https://www.ohchr.org/sites/default/files/2023-03/4620_14_202301_MapOfInfluence_Syria_2022Dec.jpg