Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Polen 2022

Sexuelle und reproduktive Rechte

Im Januar 2022 wurde ein Urteil des Verfassungsgerichts umgesetzt, welches das Gesetz, das Schwangerschaftsabbrüche in Fällen schwerer Schädigungen des Fötus erlaubte, für verfassungswidrig erklärt hatte. In der Folge war der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen noch weiter eingeschränkt. Im April forderten UN-Experten*innen die polnische Regierung erneut auf, Schwangerschaftsabbrüche zu entkriminalisieren.

Die Familie einer verstorbenen schwangeren Frau forderte eine Untersuchung, um festzustellen, inwiefern die Verweigerung eines Schwangerschaftsabbruchs zu dem Tod der Frau geführt haben könnte. Der Fall führte im Oktober und November zu Protesten, bei denen Gerechtigkeit und Reformen gefordert wurden. Im Juni forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Polen förmlich auf, sich zu fünf weiteren Fällen zu äußern, in denen es um die Verweigerung des Zugangs zu Schwangerschaftsabbrüchen ging.

Im Juli 2022 veröffentlichte die Regierung Daten, aus denen hervorging, dass im Jahr 2021 nur 107 Schwangerschaftsabbrüche in Krankenhäusern durchgeführt worden waren, ein drastischer Rückgang gegenüber 1.076 solcher Eingriffe im Jahr 2020. Im Oktober legte die NGO Abortion without Borders dagegen Daten offen, denen zufolge sie in den zwölf Monaten seit Oktober 2021 insgesamt 44.000 Menschen beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen unterstützt hatte. Darunter befanden sich auch 1.515 Frauen, die vor dem Krieg in der Ukraine nach Polen geflohen waren.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Im April 2022 begann der Prozess gegen die Menschenrechtsverteidigerin Justyna Wydrzyńska. Gegen sie war auf Grundlage drakonischer und diskriminierender Gesetze Anklage erhoben worden, weil sie eine Schwangere, die einen sicheren Schwangerschaftsabbruch benötigte, informiert und unterstützt hatte. Ebenfalls im April forderten UN-Expert*innen die polnischen Behörden auf, alle Anklagen gegen Justyna Wydrzyńska fallen zu lassen und damit aufzuhören, Menschenrechtsverteidiger*innen ins Visier zu nehmen, insbesondere solche, die sich gegen das restriktive Abtreibungsgesetz des Landes einsetzen.

Unfaire Gerichtsverfahren

Im Laufe des Jahres 2022 ging die Regierung weiterhin gegen Richter*innen und Staatsanwält*innen vor, die Bedenken bezüglich der Justizreformen äußerten. Die von der Disziplinarkammer gegen zwei Richter verhängte Suspendierung blieb bestehen. Einer von ihnen, Piotr Gąciarek, durfte trotz eines Urteils zur Wiederherstellung seiner vollen richterlichen Rechte seine Arbeit nicht wieder aufnehmen. Zahlreiche Disziplinarverfahren gegen andere unabhängige Richter*innen waren anhängig. Einige von ihnen waren wegen der Anwendung von Urteilen des EGMR und des Europäischen Gerichtshofs suspendiert worden.

Die internationale Besorgnis über die Aushöhlung der Unabhängigkeit der Justiz hielt an. Im Februar 2022 entschied der EGMR, dass Änderungen am Verfahren zur Ernennung von Richter*innen der Zivilkammer des Obersten Gerichtshofs bedeuteten, dass diese juristische Instanz nicht länger als unabhängiges und unparteiisches Gericht angesehen werden konnte. Im Oktober urteilte der EGMR in der Rechtssache Juszczyszyn gegen Polen, dass die Suspendierung des Richters Paweł Juszczyszyn durch die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs gegen seine Rechte auf ein faires Verfahren und auf Privatleben verstoße.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im März 2022 kritisierten mehrere NGOs, darunter CIVICUS, die fortwährende Praxis der Regierung und ihrer Anhänger*innen, sogenannte zyklische Versammlungen, d. h. regelmäßig stattfindende Versammlungen, zu nutzen, um rechtmäßige und friedliche Gegenproteste am selben Ort und zur selben Zeit zu verhindern. Im Oktober verhinderten Mitglieder der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) auf diese Weise Gegenproteste bei einer monatlichen Veranstaltung in Krakau, bei der der Opfer des Flugzeugabsturzes von Smolensk gedacht wurde, unter ihnen der ehemalige Präsident Lech Kaczyński.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Obwohl viele Verwaltungseinheiten des Landes ihren Status als selbst erklärte "LGBT-freie Zone" auf Druck der Zivilgesellschaft und der Europäischen Kommission wieder aufgehoben hatten, bezeichneten sich Ende 2022 immer noch 79 Verwaltungseinheiten als "LGBT-freie Zonen".

Personen, die für die Rechte von schwulen, lesbischen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen eintraten, mussten sich 2022 weiterhin in straf- und zivilrechtlichen Verfahren vor Gericht verantworten. Gegen einige, wie die Aktivist*innen hinter dem "Atlas des Hasses" (Atlas nienawiści), wurden strategische Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung (SLAPP-Klagen) angestrengt. Beim "Atlas des Hasses" handelt es sich um eine interaktive Landkarte, die die Gebiete zeigt, die sich für "LGBT-frei" erklärt haben.

Im Januar 2022 fand ein Gerichtsverfahren statt, das von einem LGBTI-Aktivisten angestrengt worden war, der nach der sogenannten "Regenbogennacht" im Jahr 2020 willkürlich 24 Stunden lang von der Polizei festgehalten worden war. In seiner Zeugenaussage während des Verfahrens erklärte der Polizist, der ihn festgenommen hatte: "Man hatte uns angewiesen, alle Personen zu stoppen, die LGBT-Farben zur Schau stellten, unabhängig davon, wie sie sich verhielten."

Im März 2022 entschied das Bezirksgericht in Danzig im Fall einer privaten Klage zugunsten der NGO Tolerado. Die NGO hatte gegen den Einsatz von als "Homophobusse" bekannten Fahrzeugen geklagt, die mit homofeindlichen Losungen und Transparenten durch polnische Städte fuhren.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im Februar 2022 wurde als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine eine Hilfsaktion an der ukrainisch-polnischen Grenze organisiert. Dank der Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft und entsprechender Anstrengungen der Behörden kamen im Laufe des Jahres mehr als sieben Millionen geflüchtete Ukrainer*innen nach Polen. Im Juli lobte der UN-Sonderberichterstatter über die Menschenrechte von Migrant*innen die Reaktion Polens. Zudem empfahl er den polnischen Behörden, angesichts der Belastung durch einen so plötzlichen und großen Zustrom von Menschen, die Zugang zu Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Bildung benötigten, die Dauerhaftigkeit der Unterstützung für die ukrainischen Flüchtlinge sicherzustellen. Ende 2022 hielten sich noch immer ein bis zwei Millionen ukrainische Flüchtlinge in Polen auf. Es gab Bedenken hinsichtlich des Zugangs zu Bildung für ukrainische Kinder, u. a. aufgrund der Sprachbarriere.

Die Behandlung der geflüchteten Ukrainer*innen unterschied sich deutlich von dem Umgang mit Flüchtlingen und Migrant*innen, die seit Juli 2021 über die belarussische Grenze ins Land kamen und weiterhin behördlicher Feindseligkeit ausgesetzt waren. Angehörige des Grenzschutzes brachten die Menschen teils unter Einsatz von rechtswidriger Gewalt dazu, das polnische Hoheitsgebiet zu verlassen und sich wieder nach Belarus zu begeben, wo sie weiteren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt waren.

Die meisten Asylsuchenden wurden von den polnischen Behörden in überbelegten und unzulänglichen Einrichtungen festgehalten. Sie hatten keinen Zugang zu einem fairen Asylverfahren und waren Misshandlungen durch das Wachpersonal ausgesetzt. Viele wurden in ihre Herkunftsländer abgeschoben. In einigen Fällen wurden Menschen mit Medikamenten ruhiggestellt, um Gegenwehr gegen eine Ausreise zu verhindern. Im März 2022 wurden fünf Aktivist*innen festgenommen und wegen "Beihilfe zur illegalen Einreise" angeklagt, weil sie einer Gruppe von Menschen humanitäre Hilfe geleistet hatten. Die Gruppe, zu der auch Kinder gehörten, hatte in einem Wald an der polnisch-belarussischen Grenze festgesessen und ohne Wasser, Nahrung, Unterkunft oder Zugang zu medizinischer Versorgung um ihr Überleben gekämpft.

Die staatliche Finanzhilfe für Privatpersonen, die Flüchtlinge aufnahmen, war auf 120 Tage begrenzt. Das Gesetz zur Unterstützung von Flüchtlingen aus der Ukraine, das u. a. den Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Gesundheitsversorgung erleichterte, wurde nicht auf alle aus der Ukraine geflohenen Menschen gleichermaßen angewendet. Nach Ansicht des UN-Sonderberichterstatters über die Menschenrechte von Migrant*innen herrschte zudem eine Doppelmoral, da Personen aus Drittstaaten nicht von den Unterstützungsleistungen aus diesem Gesetz profitierten.

Auch die diskriminierende Behandlung von aus der Ukraine geflüchteten Rom*nja seitens der polnischen Behörden wurde von NGOs kritisiert. Überdies waren nichtukrainische Staatsangehörige Angriffen ausgesetzt und mit rassistischen Einstellungen konfrontiert.

Recht auf Privatsphäre

Amnesty International deckte Anfang 2022 auf, dass während der Parlamentswahlen im Jahr 2019 die Spionagesoftware Pegasus des Unternehmens NSO Group gegen den Stabschef der größten Oppositionspartei sowie gegen mehrere andere Angehörige der Opposition und deren Mitarbeitende eingesetzt worden war. Die Behörden weigerten sich zunächst, weitere Ermittlungen einzuleiten, bis ein Gericht im September die Untersuchung des Einsatzes von Spionagesoftware gegen eine Staatsanwältin anordnete.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Im August 2022 schlug das Justizministerium weitere Gesetzesreformen zur Einführung von Schutzanordnungen für Überlebende häuslicher Gewalt vor, wie es die Anforderungen des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) vorgeben. Es wurden jedoch keine Reformen eingeleitet, um entsprechend der Istanbul-Konvention das Zustimmungsprinzip zur Grundlage der Definition von Vergewaltigung zu machen und ökonomische Gewalt als Straftatbestand anzuerkennen.

Folter und andere Misshandlungen

Im Oktober 2022 wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den ehemaligen Geheimdienstdirektor Zbigniew Siemiątkowski im Zusammenhang mit dem geheimen CIA-Gefängnis in Stare Kiejkuty eingestellt hatte. Die Entscheidung, die Ermittlungen einzustellen, war bereits im Jahr 2020 getroffen, jedoch nicht veröffentlicht worden.

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