Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Palästina 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Bewaffnete palästinensische Gruppen im Gazastreifen verübten während dreitägiger Kämpfe mit Israel im August 2022 offenbar Kriegsverbrechen, indem sie in zivilen Wohngebieten ungelenkte Raketen einsetzten und mindestens sieben palästinensische Zivilpersonen töteten. Die palästinensischen Behörden im Westjordanland und im Gazastreifen schränkten die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit weiterhin massiv ein. Zahlreiche Menschen waren willkürlich inhaftiert und wurden in vielen Fällen gefoltert oder anderweitig misshandelt. Es gab weiterhin keine Gerechtigkeit für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Die De-facto-Behörden der Hamas im Gazastreifen vollzogen erstmals seit fünf Jahren wieder Hinrichtungen.

Hintergrund

Die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland lebte weiterhin unter israelischer Besatzung, die einem System der Apartheid gleichkam und von brutaler Unterdrückung, geografischer Zersplitterung und Ausgrenzung gekennzeichnet war (siehe Länderkapitel Israel und besetzte palästinensische Gebiete).

Die palästinensischen Behörden waren nicht in der Lage, 2022 die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abzuhalten, die Präsident Mahmoud Abbas im Vorjahr erneut verschoben hatte. Die letzten Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat hatten im Jahr 2006 stattgefunden. Präsident Abbas regierte weiterhin per Dekret, was zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung führte.

Menschenrechtsverstöße bewaffneter Gruppen

Am 5. August 2022 startete Israel eine Militäroffensive im besetzten Gazastreifen, die sich gegen den Palästinensischen Islamischen Dschihad (Palestinian Islamic Jihad – PIJ) und dessen bewaffneten Flügel richtete. Bei den israelischen Angriffen wurden die beiden hochrangigen PIJ-Befehlshaber Khaled Mansour und Taysir al-Jaabari sowie zehn weitere PIJ-Mitglieder getötet. Während der dreitägigen Kampfhandlungen wurden auch 31 palästinensische Zivilpersonen getötet, 17 von ihnen durch israelische Angriffe, von denen einige offenbar Kriegsverbrechen waren.

Bewaffnete palästinensische Gruppen im Gazastreifen begingen während der Kampfhandlungen offenbar Kriegsverbrechen, indem sie ungelenkte Raketen in zivilen Wohngebieten einsetzten. Am 6. August 2022 verfehlte eine von der PIJ abgefeuerte Rakete, die Israel galt, ihr Ziel und schlug in einer Straße im Flüchtlingslager Jabalia ein. Dabei wurden sieben Zivilpersonen getötet, darunter vier Minderjährige, und mindestens 15 weitere Personen verletzt. Sieben weitere palästinensische Zivilpersonen, darunter fünf Minderjährige, wurden bei vier weiteren Raketeneinschlägen in den Flüchtlingslagern Izbat Beit Hanoun, Al Bureij und Jabalia sowie in der Stadt Beit Hanoun getötet. Die Trümmer der Geschosse wurden unverzüglich entfernt – eine Taktik, die nach fehlgeleitetem palästinensischem Raketenbeschuss regelmäßig angewandt wird. Die Hamas-Behörden erklärten, sie würden alle tödlichen Angriffe untersuchen, veröffentlichten jedoch keine Berichte.

Im März und April 2022 töteten bewaffnete Palästinenser bei Anschlägen in verschiedenen Städten und Dörfern Israels 18 Menschen. Obwohl die Attentäter offenbar keine direkte Verbindung zu bewaffneten palästinensischen Gruppen hatten, lobten die De-facto-Behörden der Hamas im Gazastreifen die Anschläge, was Aufstachelung zu Gewalt gleichkommen könnte. Der Anführer der Hamas im Gazastreifen, Yahya Sinwar, rief die Palästinenser*innen auf, israelische Staatsangehörige mit allen verfügbaren Mitteln anzugreifen. Dieser Aufruf trug Berichten zufolge zu Anschlägen bei, die nach seiner Rede verübt wurden.

Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Die palästinensischen Behörden im Westjordanland und im Gazastreifen schränkten die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit auch 2022 übermäßig ein und gingen teilweise mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen friedliche Versammlungen vor. Im Gazastreifen herrschte seit der brutalen Niederschlagung der friedlichen Proteste gegen steigende Lebenshaltungskosten im Jahr 2019 ein allgemeines Klima der Unterdrückung, das eine abschreckende Wirkung auf Personen mit abweichenden Meinungen hatte und häufig zu Selbstzensur führte.

Im Westjordanland unterdrückten die von der Fatah geführten palästinensischen Behörden weiterhin öffentliche Veranstaltungen, bei denen Oppositionelle geehrt oder Fahnen der Opposition geschwenkt wurden. Im Juni 2022 lösten Sicherheitskräfte in Hebron einen friedlichen Protest gegen steigende Lebenshaltungskosten auf und nahmen die Organisator*innen fest. Am 4. August 2022 setzten Sicherheitskräfte Tränengas ein, um eine friedliche Versammlung in Tubas im nördlichen Westjordanland aufzulösen, bei der die Freilassung einer Person gefeiert wurde, die einer Splittergruppe der Fatah angehörte und 20 Jahre in israelischer Haft verbracht hatte.

Am 23. Oktober 2022 löste Präsident Abbas per Dekret die palästinensische Ärzt*innengewerkschaft auf, deren Vorstand von oppositionellen Fraktionen dominiert wurde, und setzte stattdessen einen nicht gewählten "konstitutiven Rat" ein. Als daraufhin Ärzt*innen im gesamten Westjordanland in den Streik traten, nahm der Präsident die Entscheidung wieder zurück.

Am 4. November 2022 untersagten die Sicherheitskräfte in Ramallah im Westjordanland eine Versammlung der Palästinensischen Volkskonferenz (Palestinian Popular Conference). Hierbei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Aktivist*innen und Politiker*innen, die eine Reform der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO fordern. Am 8. November stürmte die Polizei ohne richterlichen Beschluss eine Pressekonferenz der Gruppe an ihrem Sitz in Ramallah und löste die Versammlung gewaltsam auf, indem sie Teilnehmer*innen und Journalist*innen mit Schlagstöcken bedrohte.

Willkürliche Inhaftierungen

Nach Angaben der offiziellen palästinensischen Menschenrechtskommission (Independent Commission for Human Rights – ICHR) waren 2022 im Westjordanland mehr als 200 und im Gazastreifen etwa 105 Palästinenser*innen willkürlich inhaftiert.

Folter und andere Misshandlungen

In den Haft- und Verhörzentren im Westjordanland und im Gazastreifen waren Folter und andere Misshandlungen weiterhin an der Tagesordnung. Besonders viele Beschwerden betrafen das vom Innenministerium betriebene Haftzentrum in der Stadt Jericho im Westjordanland. Inhaftierte berichteten, man habe sie mit Knüppeln und Schlagstöcken verprügelt, ihre Fußsohlen mit Peitschenhieben traktiert und sie gezwungen, stundenlang in Stresspositionen zu verharren. Bei der ICHR gingen 2022 mindestens 130 Beschwerden gegen Vollzugsbehörden im Westjordanland und mindestens 160 Beschwerden gegen Polizei und Geheimdienste im Gazastreifen ein, die Folter und andere Misshandlungen betrafen.

Nach Angaben der ICHR und der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Lawyers for Justice ergriffen die Behörden keine wirksamen Maßnahmen, um den Foltervorwürfen nachzugehen. Im Juni 2022 nahmen Sicherheitskräfte nach einer Explosion in einer Schreinerei in Ramallah im Westjordanland ohne Haftbefehl sechs Männer fest und unterzogen sie Folter und anderen Misshandlungen, wie aus ihren beim ICHR eingereichten Beschwerden hervorging. Fünf der Männer kamen in Einzelhaft, durften keine Familienbesuche erhalten und wurden erneut misshandelt, als sie im September in den Hungerstreik traten.

Am 16. Oktober 2022 starb Nasser Abu Obeid, ein pensionierter Angehöriger des Geheimdiensts im Gazastreifen, in einem Krankenhaus, in das er verlegt worden war, nachdem man ihn in einem von der Hamas geführten Gefängnis der Militärpolizei in Gaza-Stadt verhört hatte. Die ICHR forderte die Behörden des Gazastreifens auf, Vorwürfen nachzugehen, wonach Nasser Abu Obeid während seiner Inhaftierung gefoltert wurde und keine medizinische Hilfe erhalten hatte. Soweit bekannt, kamen die Behörden dieser Aufforderung nicht nach.

Verschwindenlassen

Das Schicksal von sechs Männern, die 20 Jahre zuvor dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren, nachdem palästinensische Behörden sie in einem Haftzentrum in der Stadt Salfit im Westjordanland festgehalten hatten, war 2022 weiterhin unbekannt. Die De-facto-Behörden im Gazastreifen veröffentlichten neue Aufnahmen von Hisham al-Sayed, einem palästinensischen Staatsbürger Israels mit psychischen Erkrankungen, der 2015 die Grenze zum Gazastreifen überquert hatte und seither verschwunden war. Mit den Aufnahmen sollte Israel zu einem Gefangenenaustausch bewegt werden. Das Schicksal von Avera Mengistu, einem israelischen Staatsbürger mit psychischen Erkrankungen, der 2014 ohne Genehmigung in den Gazastreifen eingereist war, blieb ungeklärt.

Rechte von Frauen und Mädchen

Nach Angaben des Frauenzentrums für Rechtshilfe und Beratung (Women’s Centre for Legal Aid and Counselling) wurden 2022 im Westjordanland und im Gazastreifen in mutmaßlichen Fällen von häuslicher Gewalt 29 Frauen von Familienmitgliedern getötet. Im September 2022 hinderten die Behörden im Gazastreifen die 24-jährige Wissam al-Assi und die 20-jährige Fatimah al-Assi daran, Anzeigen wegen häuslicher Gewalt vor Gericht zu bringen, indem sie den Schwestern verwehrten, Aussagen bei der Staatsanwaltschaft zu machen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Die Behörden unternahmen nichts, um homo- und transfeindliche Drohungen und Angriffe zu verhindern oder zu verfolgen.

Am 9. Juli 2022 sahen die Sicherheitskräfte tatenlos zu, wie eine aufgebrachte Menschenmenge auf Kinder und Jugendliche losging, die an einer vom Ashtar-Theater in Ramallah organisierten Parade mit Regenbogenflaggen teilnahmen. Der Angriff erfolgte vor dem Hintergrund massiver Aufstachelungen zu Gewalt und Hassreden gegen LGBTI+ und Feministinnen, denen die Behörden nicht nachgingen.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im Westjordanland mussten sich 14 Sicherheitskräfte niedrigen Ranges vor einem Militärgericht wegen des Todes von Nizar Banat verantworten. Der bekannte Oppositionelle war im Juni 2021 kurz nach seiner gewaltsamen Festnahme in Gewahrsam des Geheimdiensts gestorben. Während des Prozesses kam es zu Verzögerungen und Schmutzkampagnen gegen Zeug*innen. Hochrangige Angehörige der Sicherheitskräfte wurden nicht vernommen oder strafrechtlich verfolgt.

Die Behörden im Westjordanland und im Gazastreifen unternahmen nichts, um schweren Verstößen wie rechtswidrigen Tötungen und Angriffen, auch gegen israelische Zivilpersonen, nachzugehen, obwohl sie gleichzeitig öffentlich ihre Zusage erneuerten, unabhängige Ermittlungen unterstützen zu wollen. Dies bezog sich auch auf den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchte, die seit 2014 in Palästina begangen wurden, und auf den Internationalen Gerichtshof (IGH), der die Rechtmäßigkeit der israelischen Besatzung des Westjordanlands und des Gazastreifens prüfte.

Am 28. Oktober 2022 erließ Präsident Abbas ein Dekret zur Gründung eines Obersten Rats der Justizorgane und -behörden (Supreme Council for Judicial Bodies and Committees) und ernannte sich selbst zum Vorsitzenden des Gremiums. Der Rat, der die vollständige Kontrolle über das Justizwesen innehatte, bot dem Präsidenten noch mehr Einflussmöglichkeiten auf die Justiz, untergrub deren Unabhängigkeit und ordnete sie noch stärker der Exekutive unter.

Todesstrafe

Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Palestinian Centre for Human Rights verhängten Gerichte im Gazastreifen 27 neue Todesurteile und damit elf mehr als 2021. Bei den Berufungsgerichten gab es eine neue Tendenz, Urteile erstinstanzlicher Gerichte zu verschärfen. So wurden 2022 fünf lebenslange Haftstrafen in Todesurteile umgewandelt, nachdem das Justizministerium des Gazastreifens einen Obersten Strafausschuss (Supreme Criminal Committee) eingerichtet hatte, der – angeblich zur Abschreckung vor Gewaltverbrechen – härtere Urteile befürwortete.

Am 4. September 2022 vollzogen die Hamas-Behörden erstmals seit fünf Jahren wieder Hinrichtungen im Gazastreifen. Einer der Hingerichteten war in einem äußerst unfairen Prozess wegen Mordes zum Tode verurteilt worden.

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