Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Kolumbien 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Menschenrechtsverteidiger*innen waren wegen ihrer Arbeit nach wie vor Angriffen, Drohungen und Schikanen ausgesetzt. Besonders gefährdet waren diejenigen, die sich für Land- und Territorialrechte sowie für Umweltschutz einsetzten. Ehemalige Kämpfer*innen der Guerillagruppe Fuerzas Armadas Revolucionarias de ColombiaEjercito del Pueblo (FARC-EP) wurden auch 2022 bedroht und mehrere getötet. Angriffe auf Medienschaffende und Medienunternehmen hielten an und bedrohten das Recht auf freie Meinungsäußerung. Berichten zufolge wandten Ordnungskräfte übermäßige und unnötige Gewalt an. Indigenensprecher*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen wurden angegriffen und getötet. In Gebieten, in denen weiterhin bewaffnete Gruppen aktiv waren, wurden indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften vertrieben, was in einigen Fällen zu humanitären Notlagen führte. Der Abschlussbericht der Wahrheitskommission bestätigte, dass während des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts (1964–2016) die reproduktiven Rechte von Frauen verletzt wurden. Die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (Jurisdicción Especial para la Paz) klagte mehrere Ex-Armeeangehörige, Zivilpersonen und ehemalige FARC-EP-Befehlshaber wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen an, die während des bewaffneten Konflikts verübt wurden. Schwangerschaftsabbrüche wurden entkriminalisiert. Es kam weiterhin zu Angriffen auf lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+). Geschlechtsspezifische Gewalt war nach wie vor an der Tagesordnung, und die Überlebenden hatten kaum Aussicht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Venezolanische Flüchtlingsfrauen waren aufgrund ihrer Nationalität und ihres Geschlechts Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt.

Hintergrund

Am 13. März 2022 fand die Parlamentswahl statt. Wie im Friedensabkommen von 2016 vorgesehen, waren einige Sitze für ehemalige FARC-EP-Kämpfer*innen sowie für Opfer des bewaffneten Konflikts reserviert.

Im Juni 2022 veröffentlichte die Wahrheitskommission ihren Abschlussbericht. Sie forderte darin, historische Ungleichheiten, Diskriminierung, Rassismus, geschlechtsspezifische Gewalt, Gewalt gegen indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften zu bekämpfen und den vom bewaffneten Konflikt Betroffenen das Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung zu garantieren.

Der ehemalige Bürgermeister von Bogotá und frühere M-19-Guerillakämpfer Gustavo Petro gewann die Präsidentschaftswahl und trat im August seine vierjährige Amtszeit an. Mit ihm wurde die Umweltschützerin Francia Márquez zur ersten Schwarzen Vizepräsidentin des Landes gewählt.

Im August 2022 erkannten die Behörden die Zuständigkeit des UN-Ausschusses gegen das Verschwindenlassen für die Entgegennahme und Prüfung von Einzelfällen an. Im September ratifizierte Kolumbien die Interamerikanische Konvention zum Schutz der Menschenrechte älterer Menschen. Im Oktober billigte das Parlament das Regionale Abkommen über den Zugang zu Informationen, Teilhabe und Gerechtigkeit in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik (Escazú-Abkommen).

Präsident Petro nahm 2022 wieder diplomatische Beziehungen zu Venezuela auf. Im September folgte die Öffnung der Grenze zwischen den beiden Ländern, die jahrelang geschlossen war.

Die im Friedensabkommen vereinbarte Nationale Kommission für Sicherheitsgarantien (Comisión Nacional de Garantías de Seguridad), die ein politisches Konzept zur Auflösung bewaffneter Gruppen entwickeln soll, wurde im Oktober von Präsident Petro reaktiviert und hielt wieder Sitzungen ab.

Ebenfalls im Oktober nahmen die Regierung und die Guerillagruppe Nationale Befreiungsarmee (Ejército de Liberación Nacional – ELN) ihre Friedensgespräche wieder auf und schlugen einen "multilateralen Waffenstillstand" vor. Im Rahmen ihrer Politik des "vollkommenen Friedens" (Paz Total) stellte die Regierung außerdem die Weichen für Verhandlungen mit weiteren bewaffneten Gruppen.

Kolumbien zählte im Jahr 2022 zu den Ländern Südamerikas, in denen extreme Wetterereignisse besonders häufig auftraten. Etwa 84 Prozent der Bevölkerung waren mehrfachen Umweltgefahren ausgesetzt. Nach Erkenntnissen des staatlichen Instituts für Hydrologie, Meteorologie und Umweltstudien reagieren die Küsten- und Inselgebiete sowie die Hochgebirgsökosysteme besonders empfindlich auf den Klimawandel.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im Januar 2022 stellte das Verfassungsgericht einen "verfassungswidrigen Zustand" fest, weil die Grundrechte ehemaliger FARC-EP-Kämpfer*innen auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Sicherheit ständig massiv verletzt würden. Laut der zivilgesellschaftlichen Organisation Instituto de Estudios para el Desarrollo y la Paz (INDEPAZ) wurden im Laufe des Jahres 42 ehemalige Kämpfer*innen getötet. Der UN-Sicherheitsrat äußerte sich sehr besorgt darüber, dass ehemalige FARC-EP-Kämpfer*innen, die das Friedensabkommen unterzeichnet hatten, weiterhin bedroht, angegriffen und getötet wurden.

Die Umsetzung des 2016 zwischen der FARC-EP und dem kolumbianischen Staat geschlossenen Friedensabkommens kam weiterhin nur schleppend voran. Nach Angaben des Kroc-Instituts, das die Einhaltung des Abkommens überwacht, galt dies vor allem für Maßnahmen zugunsten von Frauen und indigenen Bevölkerungsgruppen. Das Institut teilte mit, dass 37 Prozent der Bestimmungen des Abkommens nur in Ansätzen und 15 Prozent noch überhaupt nicht umgesetzt worden seien.

Von Januar bis Dezember 2022 fand die Sucheinheit für verschwundene Personen (Unidad de Búsqueda de Personas dadas por Desaparecidas – UBPD) in Regionen wie Antioquia, Santander und Sucre die sterblichen Überreste von 185 Personen, die während des bewaffneten Konflikts als vermisst gemeldet worden waren. Im Juni berichtete die UBPD, dass sie seit ihrer Gründung im Jahr 2017 die Leichen von 167 Personen an deren Familien und Angehörige ausgehändigt habe.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im Mai 2022 äußerte die Stiftung für Pressefreiheit (Fundación para la Libertad de Prensa) große Besorgnis darüber, dass der Journalist Luis Ángel und die Journalistin Luna Mendoza in der Nähe der Stadt Cartagena willkürlich festgenommen wurden, als sie über die Ermordung des paraguayischen Staatsanwalts Marcelo Pecci berichten wollten, die großes Aufsehen erregt hatte.

Medienunternehmen in den Departamentos Antioquia und Córdoba erhielten im Mai Morddrohungen im Zusammenhang mit einem "bewaffneten Streik", den die paramilitärische Gruppe Autodefensas Gaitanistas de Colombia (auch bekannt als Clan del Golfo) ausgerufen hatte.

Im Juli erklärte das oberste Verwaltungsgericht des Landes (Consejo de Estado de Colombia), im Fall der Journalistin Claudia Julieta Duque und ihrer Familie sei der Staat für psychische Folter, Drohungen, Verfolgung, Exilierung und illegale Abhörmaßnahmen in den Jahren 2001 bis 2010 verantwortlich.

Im August 2022 wurden der Journalist Leiner Montero und die Journalistin Dilia Contreras im Departamento Magdalena getötet. Nach Angaben der Stiftung für Pressefreiheit standen die Tötungen im Zusammenhang mit ihrer journalistischen Arbeit.

Im September berichtete die Stiftung über Drohungen gegen Journalist*innen des TV-Netzwerks Telemundo, die über die durch den Urwald von Darién nach Panama führende Migrationsroute berichtet hatten.

Die Stiftung dokumentierte bis September 595 Verstöße gegen die Meinungsfreiheit von Journalist*innen, darunter auch zwei Fälle von sexualisierter Gewalt. Medienschaffende, die über Wahlkämpfe berichteten, wurden vermehrt bedroht. Nach Angaben der Stiftung lag die Zahl der Drohungen in den ersten fünf Monaten des Jahres um 59 Prozent höher als im Wahljahr 2018.

Exzessive und unnötige Gewaltanwendung

Bei einer Umweltdemonstration in der Stadt Miranda (Departamento Cauca) wurde im Mai 2022 der indigene Sprecher Luis Tombé erschossen, als Angehörige der polizeilichen Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung (Escuadrón Móvil Antidisturbios – ESMAD) das Feuer auf Demonstrierende eröffneten, die die Freilassung von Mitstreiter*innen aus dem Polizeigewahrsam gefordert hatten.

Im Juni 2022 kritisierte die zivilgesellschaftliche Plattform Campaña Defender la Libertad die exzessive Gewaltanwendung der ESMAD gegen Protestierende, die dazu geführt hatte, dass ein Studierender der Universidad Distrital in Bogotá eine Augenverletzung erlitt. Die Demonstrierenden hatten mehr finanzielle Mittel und eine bessere Ausstattung für die Universität gefordert.

Willkürliche Inhaftierungen

Das zivilgesellschaftliche Netzwerk "Kampagne zur Verteidigung der Freiheit" teilte mit, dass die Sicherheitskräfte von März bis Juni 2022 – im Vorfeld der Präsidentschaftswahl – vermehrt Personen willkürlich inhaftierten.

Rechte indigener Gemeinschaften

Indigenensprecher*innen und Aktivist*innen wurden weiterhin bedroht und getötet.

Im Januar 2022 meldete die indigene Gemeinschaft der Totoroez, dass Albeiro Camayo, Mitglied der zivilen Selbstverteidigungsgruppe Guardia Indígena, von abtrünnigen Kämpfer*innen der FARC-EP im Departamento Cauca getötet worden war.

Im Februar berichtete die Nationale Indigene Organisation Kolumbiens (Organización Nacional Indígena de Colombia) über die Tötung von Julio César Bravo, einem Menschenrechtsverteidiger und Sprecher der Gemeinschaft der Pastos im Departamento Nariño.

Im selben Monat töteten ELN-Kämpfer*innen im Departamento Chocó Luis Chamapuro, einen Angehörigen der indigenen Gemeinschaft der Wounan.

Ebenfalls im Februar wurde Dilson Arbey Borja, Indigenensprecher, Menschenrechtsverteidiger und Mitglied der Guardia Indígena, in der Stadt Turbo (Departamento Antioquia) getötet.

Im März 2022 wurde der Menschenrechtsverteidiger Miller Correa getötet, der zur indigenen Gemeinschaft der Nasa im Departamento Cauca gehörte. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte verurteilte seine Tötung und die ständigen Drohungen, denen seine Gemeinschaft und deren Sprecher*innen ausgesetzt waren.

Im September 2022 starben im Departamento La Guajira zwei Kleinkinder der indigenen Gemeinschaft der Wayuu an Unterernährung. Damit erhöhte sich die Zahl der Kleinkinder, die dort seit Januar gestorben waren, auf 39. Am 6. September veröffentlichte die Nationale Ombudsstelle eine Warnung, in der sie die Regierung aufforderte, Maßnahmen zu ergreifen, um die humanitäre Situation in der Region zu verbessern.

Im Juni 2022 wurden mindestens 100 indigene Einwohner*innen des Reservats Alto Andagueda (Departamento Chocó) aufgrund von Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und illegalen bewaffneten Gruppen vertrieben.

Indigene Organisationen in Chocó machten darauf aufmerksam, dass Familien, die zur indigenen Gemeinschaft der Emberá gehörten, die Vertreibung drohte, weil im Reservat Jurubida Chori Alto Baudó illegale bewaffnete Gruppen aktiv waren.

Im September 2022 erklärte die indigene Gemeinschaft der Awá, sie befinde sich wegen der Präsenz illegaler bewaffneter Gruppen in indigenen Reservaten in den Departamentos Nariño und Putumayo weiterhin in einer humanitären Notlage und leide unter Gewalt.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Im Juli 2022 kündigte die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden die Eröffnung des Falls 11 an. Dieser bezieht sich auf während des bewaffneten Konflikts verübte sexualisierte Gewalt, schwere Verletzungen der reproduktiven Rechte und Gewalt aufgrund der sexuellen Orientierung bzw. Geschlechtsidentität.

Die Beobachtungsstelle für Feminizide (Observatorio de Feminicidios) meldete 557 Feminizide für das Jahr 2022. (Der Begriff "Feminizid" statt "Femizid" verdeutlicht die politische Dimension von Morden an Frauen).

Frauen, die während des landesweiten Streiks im Jahr 2021 Opfer sexualisierter und anderer geschlechtsspezifischer Gewalt durch Staatsbedienstete geworden waren, hatten große Schwierigkeiten, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu erlangen.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Im Februar 2022 stellte ein Urteil des Verfassungsgerichts Schwangerschaftsabbrüche bis zur 24. Schwangerschaftswoche straffrei. Der historischen Entscheidung war eine Klage des zivilgesellschaftlichen Netzwerks Causa Justa (Gerechte Sache) vorausgegangen.

Der Abschlussbericht der Wahrheitskommission stellte fest, dass während des bewaffneten Konflikts reproduktive Rechte schwerwiegend verletzt wurden, u. a. durch Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisationen und Zwangsverhütung. Zudem empfahl der Bericht dem Staat, Programme zur Vernichtung illegaler Anbaukulturen durch Besprühen mit Glyphosat aus der Luft nicht wieder aufzunehmen, da diese die reproduktive Gesundheit der Menschen schädigten.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Die Organisation Caribe Afirmativo teilte mit, dass in Medellín zwischen Januar und Juli 15 schwule Männer getötet wurden. Zudem seien LGBTI+ dort besonders in Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden.

Die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden leitete ein Verfahren zu Sexualverbrechen und zur Diskriminierung zwangsrekrutierter minderjähriger LGBTI+ während des bewaffneten Konflikts ein.

Das Verfassungsgericht ordnete die Einführung einer nicht-binären Geschlechtskategorie in Ausweisdokumenten an und schuf damit einen Präzedenzfall für die Geschlechtervielfalt.

Im März 2022 sah sich die lesbische Menschenrechtsverteidigerin Paola Andrea Jaraba Martínez mit Gewalt und Drohungen konfrontiert, die sich mutmaßlich auf ihre sexuelle Orientierung und ihre Arbeit im Departamento Córdoba bezogen.

Nach Angaben der Organisation Fundación Grupo de Acción y Apoyo a Personas Trans wurden in Kolumbien zwischen Januar und August 16 trans Frauen ermordet.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Menschenrechtsverteidiger*innen waren aufgrund ihrer Arbeit weiterhin Angriffen, Drohungen und Schikanen ausgesetzt. Besonders gefährdet waren diejenigen, die sich für Land- und Territorialrechte sowie für Umweltschutz einsetzten.

Am 7. Februar 2022 verbreitete eine bewaffnete Gruppe, die sich Vereinigte Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (Autodefensas Unidas de Colombia) nannte, in der Region Magdalena Medio ein Pamphlet, das sich gezielt gegen einige Menschenrechtsverteidiger*innen richtete. Diese wurden darin als militärische Ziele bezeichnet und aufgefordert, mit ihren Familien innerhalb von 48 Stunden die Gegend zu verlassen oder andernfalls die Konsequenzen zu tragen. Zu den bedrohten Personen zählte u. a. Carolina Agón Ramón Abril. Zehn Tage später sah sich die 21-jährige Umweltschützerin Yuvelis Natalia Morales gezwungen, ins Ausland zu fliehen, nachdem in ihr Haus eingebrochen worden war.

Im Mai 2022 schossen Unbekannte auf vier Mitglieder der in Barrancabermeja ansässigen Umweltschutzorganisation FEDEPESAN (Federación de Pescadores Artesanales, Ambientales y Turísticos de Santander), als diese in der Region Magdalena Medio mögliche Umweltschäden untersuchten.

Im Juli 2022 verübten Unbekannte einen bewaffneten Anschlag auf Yuli Velásquez, die Vorsitzende von FEDEPESAN. Sie konnte sich in Sicherheit bringen, doch ihr Leibwächter wurde verletzt.

Im August 2022 eröffnete der Innenminister in der Gemeinde Caldono (Departamento Cauca) den ersten Stützpunkt zum Schutz gefährdeter Personen (Puesto de Mando Unificado por la Vida), dem weitere Stützpunkte in anderen Regionen folgten. Sie sollen dazu dienen, auf Forderungen und Sorgen der Gemeinden einzugehen und das Leben von zivilgesellschaftlichen Sprecher*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und anderen gefährdeten Personen zu schützen.

Die Organisation Programa Somos Defensores registrierte von Januar bis September insgesamt 621 Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen.

INDEPAZ erfasste für 2022 die Tötung von 189 Menschenrechtsverteidiger*innen und Sprecher*innen lokaler Gemeinschaften.

Vertreibung und Einschränkung der Bewegungsfreiheit

Das UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten meldete von Januar bis Juli 2022 insgesamt 220 humanitäre Notlagen, weil Menschen infolge bewaffneter Konflikte entweder vertrieben worden oder an ihren Wohnorten eingeschlossen waren und nur begrenzten Zugang zu Lebensmitteln, Trinkwasser und grundlegenden staatlichen Dienstleistungen hatten. Betroffen waren mindestens 249.106 Menschen, vor allem entlang der Pazifikküste und an der Grenze zu Venezuela.

Im Januar 2022 kam es in Arauca zu Zusammenstößen zwischen abtrünnigen FARC-EP-Kämpfer*innen und der ELN, die zur Vertreibung von 3.860 Menschen führten.

Im Mai 2022 hinderten nichtstaatliche bewaffnete Gruppen 7.989 Menschen daran, ihre Häuser zu verlassen und sich in den Gemeinden Nóvita und San José del Palmar (Departamento Chocó) frei zu bewegen.

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz wurden im ersten Halbjahr 2022 in 16 Departamentos insgesamt 377 Menschen Opfer von Antipersonenminen, verbliebener Kriegsmunition und anderen Explosivkörpern. Am stärksten betroffen waren die Departamentos Cauca, Antioquia, Arauca, Norte de Santander und Meta.

Die Menschenrechtsorganisation Colectivo de Abogados José Alvear Restrepo teilte mit, dass bei einem Militäreinsatz in der Gemeinde Puerto Leguízamo (Departamento Putumayo) am 28. März 2022 elf Personen außergerichtlich hingerichtet wurden.

Die Nationale Ombudsstelle warnte vor der paramilitärischen Gruppe Comandos de Frontera, die in der Region Caquetá aktiv war, und wies darauf hin, dass von dieser Gruppe eine große Gefahr für das Leben und die körperliche Unversehrtheit zivilgesellschaftlicher Sprecher*innen und ehemaliger FARC-EP-Kämpfer*innen ausging.

Am 5. Mai verhängte die paramilitärische Gruppe Autodefensas Gaitanistas de Colombia über zehn Departamentos im Norden des Landes eine viertägige Ausgangssperre. Anlass für den "bewaffneten Streik" (paro armado) war die Entscheidung, ihren Anführer "Otoniel" an die USA auszuliefern. Während der Ausgangssperre wurden in 73 Gemeinden mindestens 127 Gewalttaten verübt, darunter vier Tötungen, fünf Todesdrohungen, 36 Fälle von Bewegungseinschränkung sowie ein Fall von Folter und eine Entführung.

Im Mai 2022 meldeten afro-kolumbianische Gemeinschaften im Departamento Chocó bewaffnete Zusammenstöße in Istmina, Sipí, Nóvita, Medio San Juan und Litoral del San Juan, die dazu führten, dass mehrere Schwarze Gemeinschaften kollektiv vertrieben wurden oder eingeschlossen waren. Im Juni töteten unbekannte Bewaffnete Jesusita Moreno und Rómulo Angulo López, Mitglieder der afrokolumbianischen Gemeinde Malaguita in Bajo San Juan (Departamento Chocó).

INDEPAZ registrierte bis zum 1. Dezember insgesamt 91 Massaker, definiert als Vorfälle, bei denen drei oder mehr Menschen zur selben Zeit, am selben Ort und von mutmaßlich denselben Täter*innen getötet werden. Dabei verloren insgesamt 289 Menschen ihr Leben.

Straflosigkeit

Am 18. Februar 2022 kündigte die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden neue Prozesse an. Darin ging es um Verantwortlichkeit ehemaliger FARC-EP-Kämpfer*innen für sexualisierte Gewalt, rechtswidrige Vertreibungen und Fälle des Verschwindenlassens sowie um andere Verbrechen, die von Sicherheitskräften und Staatsbediensteten in Absprache mit paramilitärischen Gruppen verübt worden waren. Auch Verbrechen gegen ethnische Gemeinschaften und deren Territorien bildeten Gegenstand der Prozesse.

Die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden erhob im Jahr 2022 Anklage gegen 79 ehemalige Militärangehörige, vier Zivilpersonen und einen ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit außergerichtlichen Tötungen und Verschwindenlassen in den Departamentos Norte de Santander, Casanare und Antioquia sowie an der karibischen Küste. Außerdem klagte sie acht ehemalige hochrangige FARC-EP-Kommandeure, denen u. a. systematische Entführungen und Geiselnahmen vorgeworfen wurden, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen an.

Im September übernahmen ehemalige FARC-EP-Kämpfer*innen die Verantwortung für Tötungen sowie die Vertreibung, Zwangsrekrutierung und andere Verbrechen an der Zivilbevölkerung im Norden Caucas.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen erklärte im Juni 2022, dass seit Jahresbeginn bereits mehr als 5.000 Kinder den Urwald von Darién in Richtung Panama durchquert hätten und damit doppelt so viele wie im vergleichbaren Vorjahreszeitraum.

Offiziellen Angaben zufolge lebten im Juli 2.477.000 Venezolaner*innen in Kolumbien, von denen 96 Prozent vorübergehenden Schutz beantragt hatten.

Die geschlechtsspezifische Gewalt gegen venezolanische Flüchtlingsfrauen hielt an, ohne dass die Behörden Maßnahmen ergriffen, um ihnen ihr Recht auf ein Leben frei von Gewalt und Diskriminierung zu garantieren.

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