Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Russland 2022

 

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ging mit zunehmender Repression gegen Andersdenkende in Russland einher. Friedliche Antikriegsproteste wurden oft gewaltsam aufgelöst, und wer sich offen gegen den Krieg aussprach, musste mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Es wurden neue Gesetze eingeführt, um Proteste und Aktivitäten von NGOs und zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen zu beschneiden. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas ging weiter. In den Hafteinrichtungen waren Folter und andere Misshandlungen nach wie vor an der Tagesordnung. Aus Tschetschenien wurden weiterhin Entführungen und Fälle von Verschwindenlassen gemeldet. Die Standards für faire Gerichtsverfahren wurden häufig verletzt. Militärdienstverweigerer durften keinen alternativen Zivildienst ableisten. Neue Gesetze führten zu einer noch stärkeren Stigmatisierung und Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+).

Hintergrund

Am 24. Februar 2022 begann Russland eine groß angelegte Militärinvasion in die Ukraine, besetzte weite Teile des Landes und verkündete im September die Annexion von vier ukrainischen Regionen. Tausende ukrainische Zivilpersonen wurden getötet. Die russischen Truppen begingen Kriegsverbrechen und andere völkerrechtliche Verbrechen (siehe Länderkapitel Ukraine). Die ukrainischen Streitkräfte griffen offenbar Militärstützpunkte, Kommunikationseinrichtungen und Treibstoffdepots auf russischem Staatsgebiet an. Laut russischen Medien wurden dabei mindestens 21 Zivilpersonen getötet und 39 verletzt.

Hunderttausende russische Staatsangehörige verließen das Land, insbesondere nachdem im September 2022 eine "Teilmobilmachung" begonnen hatte und viele Männer ohne angemessene Ausbildung und Versorgung an die Front geschickt wurden. Eine private Militärfirma rekrutierte Berichten zufolge Tausende Gefangene für den Einsatz in der Ukraine. Diese Praxis wurde durch ein im November verabschiedetes Gesetz rückwirkend legalisiert.

Russland wurde 2022 international zunehmend isoliert. Die EU, die USA und andere Länder verhängten als Reaktion auf den Einmarsch in die Ukraine Wirtschaftssanktionen. In der Folge kam es zu einer massiven Abwanderung internationaler Unternehmen. Der Anteil der in Armut lebenden Menschen stieg an.

Am 15. März 2022 trat Russland aus dem Europarat aus und verabschiedete im Juni ein Gesetz, wonach die russischen Behörden rückwirkend zum 15. März Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ignorieren konnten, darunter auch solche, die Entschädigungszahlungen vorsahen.

Im April 2022 stimmte die UN-Generalversammlung für den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat. Im Oktober schuf der Menschenrechtsrat den Posten eines*r Sonderberichterstatters*in über die Menschenrechtssituation in der Russischen Föderation.

Im November 2022 stellte ein niederländisches Gericht fest, dass Russland die vollständige Kontrolle über das von Separatisten gehaltene Gebiet in der Ostukraine hatte, von dem aus im Juli 2014 ein Zivilflugzeug abgeschossen worden war. Dabei waren alle 298 Menschen an Bord ums Leben gekommen. Das Gericht verurteilte im Zusammenhang mit dem Angriff drei Männer – zwei russische und einen ukrainischen Staatsbürger – in Abwesenheit zu lebenslanger Haft.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Um abweichende Meinungen zu unterdrücken, schränkten die Behörden die Meinungs- und Versammlungsfreiheit durch weitere restriktive Maßnahmen noch stärker ein. Die Polizei löste friedliche Proteste gegen den Krieg und die militärische Mobilisierung auf, oft unter Einsatz exzessiver Gewalt. Mehr als 19.400 Menschen wurden festgenommen, darunter auch Journalist*innen, die über die Proteste berichteten. Den meisten drohten hohe Geldstrafen oder Verwaltungshaft.

Im März 2022 wurden neue Gesetze verabschiedet, die die "Diskreditierung" der russischen Streitkräfte und die "Verbreitung wissentlich falscher Informationen" über die Streitkräfte unter Strafe stellten. Bis Dezember wurden mehr als 100 Strafverfahren wegen "Diskreditierung" und mindestens 180 wegen "Verbreitung wissentlich falscher Informationen" eingeleitet. Zudem liefen mindestens 5.518 Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen "Diskreditierung". Mehr als 200 weitere Strafverfahren in Verbindung mit Antikriegsaktivitäten wurden auf Grundlage anderer strafrechtlicher Tatbestände eingeleitet.

Im April 2022 wurde die Künstlerin Aleksandra Skochilenko wegen "Verbreitung wissentlich falscher Informationen" über die Streitkräfte in Untersuchungshaft genommen. Ihr drohen bis zu zehn Jahre Haft, weil sie in einem Supermarkt in St. Petersburg Preisschilder durch Antikriegsbotschaften ersetzt hatte. In der Haft wurde ihr die medizinische Versorgung verweigert. Der Prozess gegen sie begann im Dezember.

Im Juli 2022 wurde der Moskauer Kommunalpolitiker Alexej Gorinow zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er in einer Gemeinderatssitzung die russische Invasion in die Ukraine kritisiert hatte. Im Dezember erhielt der Oppositionspolitiker Ilya Yashin eine achteinhalbjährige Freiheitsstrafe, weil er auf Youtube über die massenhafte Tötung von Zivilpersonen durch russische Streitkräfte in der ukrainischen Stadt Butscha berichtet hatte.

Dutzende unabhängige Medien wurden 2022 geschlossen und Tausende Internetseiten blockiert. Im März schlossen die Behörden den Radiosender Echo Moskwy und blockierten dessen Website. Ebenfalls im März sperrte die Medienaufsichtsbehörde die Plattformen Twitter, Facebook und Instagram. Der Konzern Meta, dem Facebook und Instagram gehören, wurde als "extremistische Organisation" eingestuft.

Im September 2022 entzog ein Moskauer Gericht der unabhängigen Zeitung Nowaja Gaseta die Lizenz. Ab November konnte die unabhängige dagestanische Zeitung Tschernowik nur noch digital erscheinen, weil Druckereien sie auf Anweisung der Behörden nicht mehr druckten.

Konzerte, Ausstellungen und andere Veranstaltungen von Kulturschaffenden, die eine abweichende Meinung vertraten, gerieten ebenfalls ins Visier und mussten abgesagt werden. Der Rockmusiker Juri Schewtschuk, der Rapper Oxxxymiron und weitere Personen wurden wegen "Diskreditierung" der Streitkräfte zu Geldstrafen verurteilt. Andere, wie z. B. der Rockmusiker Andrej Makarewitsch und der Schriftsteller Dmitrij Bykow, wurden zu "ausländischen Agenten" erklärt. Im April 2022 nahmen die Behörden Mikhail Afanasyev, den Chefredakteur der in Chakassien ansässigen Medienwebsite Novyi Focus, wegen "Verbreitung wissentlich falscher Informationen" über die Streitkräfte in Untersuchungshaft. In Jekaterinburg wurden im Juni und Juli das Medienunternehmen Vechernie Vedomosti sowie dessen Herausgeber und dessen Chefredakteur wegen "Diskreditierung" der Streitkräfte zu einer Geldstrafe von insgesamt 450.000 Rubel (nach damaligem Kurs etwa 7.200 Euro) verurteilt.

Im Juli 2022 wurde ein vage definierter neuer Tatbestand in das Strafgesetzbuch eingeführt. Demnach konnte jede "vertrauliche Zusammenarbeit" mit internationalen oder ausländischen Organisationen und Staaten mit Haftstrafen von bis zu acht Jahren geahndet werden. Bis Dezember wurden zwei Festnahmen gemeldet, die sich auf diese Bestimmungen bezogen, doch wurden keine genauen Gründe für die Anklagen genannt.

Im Dezember wurde das Gesetz über öffentliche Versammlungen geändert und die darin enthaltene Liste der Orte, an denen Demonstrationen verboten sind, um Verwaltungsgebäude, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Flughäfen, Bahnhöfe und Busbahnhöfe erweitert. Außerdem wurden die regionalen Behörden ermächtigt, weitere Einschränkungen zu erlassen.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Die Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Gruppen und oppositioneller Bewegungen wurde 2022 weiter verschärft.

Das Justizministerium setzte weitere 166 Personen auf die Liste der "ausländischen Agenten" und stufte weitere 23 Organisationen als "unerwünscht" ein. Im Juni entschied der EGMR, das russische Gesetz über "ausländische Agenten" verstoße gegen das Recht auf Vereinigungsfreiheit. Im Dezember trat eine Verschärfung dieses Gesetzes in Kraft, die es ermöglicht, noch mehr Personen und Organisationen auf die Liste der "ausländischen Agenten" zu setzen, weil die Kriterien für diese Einstufung stark ausgeweitet wurden. Außerdem verschärfte die Gesetzesänderung die Strafen und andere diskriminierende Maßnahmen für "ausländische Agenten", wodurch deren Teilnahme am öffentlichen Leben noch stärker eingeschränkt wurde.

Im Dezember 2022 wurde der Oppositionspolitikerin und Aktivistin Yulia Galyamina mitgeteilt, dass ihr Vertrag mit einer Moskauer Universität gekündigt werde, weil sie als "ausländische Agentin" eingestuft sei.

Im Mai 2022 sperrten die Behörden die Website der nicht registrierten Jugendbewegung Vesna und leiteten Strafverfahren gegen einige ihrer Mitglieder ein, offenbar als Vergeltungsmaßnahme für Antikriegsaktionen der Organisation. Im September verbot ein Gericht Vesna jegliche Aktivitäten. Im Oktober wurden die Jugendbewegung und zwei ihrer Mitglieder zu "ausländischen Agenten" erklärt, und im Dezember stuften die Behörden Vesna als "extremistisch" ein.

Die Behörden setzten ihr repressives Vorgehen gegen Aktivist*innen der aufgelösten Bewegung Offenes Russland (Otkrytaya Rossiya) sowie gegen Unterstützer*innen des inhaftierten Oppositionspolitikers und gewaltlosen politischen Gefangenen Alexej Nawalny unvermindert fort. Im Februar 2022 verurteilte ein Gericht in Nowosibirsk den Blogger Timur Khanow und den Stadtrat Anton Kartawin dazu, insgesamt 3.024.877 Rubel (nach damaligem Kurs etwa 43.300 Euro) für einen Polizeieinsatz bei einer friedlichen Demonstration gegen die Strafverfolgung von Alexej Nawalny im Januar 2021 zu bezahlen. Das Urteil wurde im November bestätigt. Ähnliche Urteile ergingen auch in anderen Teilen Russlands.

Im Juli 2022 wurde der ehemalige Leiter von Offenes Russland und gewaltlose politische Gefangene Andrej Piwowarow wegen angeblicher Verstöße gegen das Gesetz über "unerwünschte Organisationen" zu vier Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde im November im Rechtsmittelverfahren bestätigt.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Die Behörden nutzten neben der Gesetzgebung über "ausländische Agenten" und "unerwünschte Organisationen" verschiedene weitere Maßnahmen, um Menschenrechtler*innen unter Druck zu setzen.

Im Februar 2022 wurde Bakhrom Khamroev, ein langjähriges Mitglied des Menschenrechtszentrums Memorial, wegen "öffentlicher Rechtfertigung von Terrorismus" in Untersuchungshaft genommen. Im Oktober wurde die konstruierte Anklage um den Vorwurf der "Organisation von Aktivitäten einer terroristischen Vereinigung" erweitert.

Ein Gericht in der Region Moskau ordnete im Oktober an, dem im Exil lebenden Klimaaktivisten Arshak Makichyan, der in Russland einige Aktionen der Bewegung Fridays for Future organisiert hatte, die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Der Aktivist, der dadurch staatenlos wurde, sah darin eine Vergeltungsmaßnahme für seinen friedlichen Aktivismus.

Im November 2022 schloss Präsident Wladimir Putin mehrere prominente Menschenrechtsverteidiger*innen aus dem Menschenrechtsrat des Präsidenten aus und ersetzte sie durch Personen, die als regierungsfreundlich galten.

Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit

Im Juni 2022 urteilte der EGMR, Russland habe mit dem Verbot und der strafrechtlichen Verfolgung der Zeugen Jehovas aufgrund ihrer Glaubensausübung gegen mehrere Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Der russische Staat müsse alle anhängigen Strafverfahren einstellen und bereits inhaftierte Zeugen Jehovas freilassen. Trotz dieses Urteils und zweier weiterer EGMR-Urteile, die im Februar 2022 ergingen, wurden die Zeugen Jehovas weiterhin schikaniert und strafrechtlich verfolgt. Ihnen drohten hohe Geldstrafen und bis zu sieben Jahre Gefängnis.

Im Mai 2022 wurde der dänische Staatsbürger und gewaltlose politische Gefangene Dennis Christensen nach Verbüßung seiner sechsjährigen Haftstrafe aus einer Strafkolonie entlassen. Er war der erste Zeuge Jehovas, der nach dem Verbot der Organisation im Jahr 2017 inhaftiert worden war.

Folter und andere Misshandlungen

In den Haftanstalten waren Folter und andere Misshandlungen weiterhin an der Tagesordnung, und die dafür Verantwortlichen wurden nur selten strafrechtlich verfolgt. Die medizinische Versorgung der Häftlinge war nach wie vor unzureichend. Die Behörden verboten Häftlingen, insbesondere Andersdenkenden, häufig den Kontakt zur Außenwelt oder verlegten sie willkürlich in Strafzellen, um Druck auf sie auszuüben.

Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde im Laufe des Jahres zehnmal in eine Strafzelle verlegt und verbrachte mehr als 90 Tage unter unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen wegen angeblicher Verstöße gegen die Gefängnisordnung, wie z. B. "Tragen der falschen Kleidung". Im November verlegten ihn die Behörden in eine Einzelzelle und verweigerten ihm jeglichen Kontakt zu seiner Familie, einschließlich schriftlicher Korrespondenz.

Der ukrainische Staatsbürger Oleksandr Marchenko verbüßte noch immer eine zehnjährige Haftstrafe wegen Spionage, deren Grundlage ein "Geständnis" war, das seinen Angaben zufolge unter Folter erpresst worden war. Die Behörden verweigerten ihm regelmäßig die notwendige medizinische Versorgung, verlegten ihn aus fadenscheinigen Gründen zeitweise in Straf- oder Einzelzellen und verboten ihm den Kontakt zu seiner Familie.

Die Polizei nutzte weiterhin Folter, um Andersdenkende unter Druck zu setzen. Im März 2022 berichteten mehrere Demonstrierende, die bei Antikriegskundgebungen festgenommen worden waren, sie seien auf Polizeiwachen gefoltert oder anderweitig misshandelt worden. Im September wurde der Dichter Artyom Kamardin bei einer Hausdurchsuchung von der Polizei geschlagen und erlitt Berichten zufolge sexualisierte Gewalt, weil er ein kriegskritisches Gedicht vorgetragen hatte. Er und zwei weitere Personen wurden wegen "Aufstachelung zum Hass" in Untersuchungshaft genommen. Seine Foltervorwürfe waren Ende des Jahres noch nicht untersucht worden.

Verschwindenlassen

In Tschetschenien gab es auch im Jahr 2022 Fälle von Verschwindenlassen.

Das Schicksal und der Verbleib von Salman Tepsurkayev waren weiterhin unbekannt. Der Administrator des Telegram-Kanals 1ADAT war 2020 entführt worden. Im August 2022 berichteten seine Kolleg*innen von 1ADAT, Salman Tepsurkayev sei im September 2020 außergerichtlich hingerichtet worden.

Nach Angaben von 1ADAT gab es mindestens 964 Entführungen, darunter auch Fälle von Verschwindenlassen. Einige der Entführten wurden von den Behörden unter Druck gesetzt, in der Ukraine zu kämpfen, andernfalls würden sie strafrechtlich verfolgt.

Nach der russischen Invasion in die Ukraine verschleppten russische Streitkräfte und deren Verbündete ukrainische Zivilpersonen aus russisch besetzten Gebieten der Ukraine und brachten sie Berichten zufolge rechtswidrig nach Russland, wo sie ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten wurden. Sie wurden außerdem gezwungen, sich einem Überprüfungsprozess zu unterziehen, den die russischen Behörden als "Filtration" bezeichneten. Unter den mehreren Hundert Personen, überwiegend Kriegsgefangenen, die 2022 im Zuge des Austauschs von Gefangenen in die Ukraine zurückkehrten, befanden sich auch einige Zivilpersonen, die diese Vorwürfe bestätigten und berichteten, sie seien ohne Anklage in russischen Hafteinrichtungen festgehalten und dort gefoltert oder anderweitig misshandelt worden.

Unfaire Gerichtsverfahren

Die Standards für faire Gerichtsverfahren wurden auch 2022 verletzt.

Im Februar 2022 verurteilte das Gericht von Atschchoi-Martan in Tschetschenien die Brüder Salekh Magamadov und Ismail Isaev zu acht bzw. sechs Jahren Haft, nachdem man sie aufgrund einer konstruierten Anklage der "Unterstützung einer illegalen bewaffneten Gruppe" für schuldig befunden hatte. Die beiden Männer, die Kritik an den tschetschenischen Behörden geübt hatten, waren 2021 von Sicherheitskräften aus einem Versteck im zentralrussischen Nischni Nowgorod entführt und nach Tschetschenien verschleppt worden.

Im August 2022 begann vor dem Leninskij-Bezirksgericht in Grosny der Prozess gegen Zarema Musaeva auf Grundlage der konstruierten Vorwürfe "Betrug" und "Gewalt gegen einen Polizisten". Die Mutter der beiden tschetschenischen Aktivisten Abubakar und Ibraghim Yangulbaev war von der tschetschenischen Polizei in ihrer Wohnung in Nischni Nowgorod willkürlich festgenommen und unter dem Vorwand nach Tschetschenien verschleppt worden, sie müsse als Zeugin in einem Kriminalfall aussagen. Ihr Gesundheitszustand gab Anlass zu großer Sorge.

Im September 2022 verurteilte das Moskauer Stadtgericht den ehemaligen Journalisten Ivan Safronov in einem politisch motivierten Verfahren zu 22 Jahren Haft wegen "Hochverrats". Das Urteil wurde im Dezember im Rechtsmittelverfahren bestätigt.

Straflosigkeit

Nach dem Austritt Russlands aus dem Europarat im März 2022 war es Opfern von Menschenrechtsverletzungen nicht mehr möglich, sich an den EGMR zu wenden.

Im Dezember 2022 nahm die Staatsduma, das Unterhaus des Parlaments, in der ersten von drei Lesungen ein neues Gesetz an, dem zufolge Handlungen, die vor dem 30. September 2022 zur "Verteidigung der Interessen Russlands" in den annektierten ukrainischen Gebieten begangen wurden, "weder als strafbar gelten noch bestraft werden".

Rechte von Militärdienstverweiger*innen

Trotz des in der Verfassung verankerten Rechts auf Militärdienstverweigerung lehnten die Militärkommissariate und Gerichte Anträge von Personen, die für einen Einsatz in der Ukraine eingezogen worden waren und stattdessen Zivildienst leisten wollten, routinemäßig ab. Zur Begründung hieß es, sie könnten dieses Recht nicht geltend machen, da es keine spezifischen gesetzlichen Regelungen bezüglich des Zivildiensts in Zeiten einer "Teilmobilmachung" gebe. Laut einer im November 2022 eingeführten gesetzlichen Regelung konnten Zivildienstleistende während der Mobilisierung abgeordnet werden, um als ziviles Personal in den Streitkräften zu dienen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Im Juni 2022 erklärte das Justizministerium die feministische Künstlerin und LGBTI-Aktivistin Yulia Tsvetkova zur "ausländischen Agentin". Im Juli wurde sie vom Vorwurf der "Verbreitung pornografischen Materials" freigesprochen. Im November bestätigte das Berufungsgericht den Freispruch.

Im Dezember wurde ein Gesetz verabschiedet, das das Verbot der "Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen, Pädophilie und Geschlechtsangleichung" von Minderjährigen auf alle Altersgruppen ausdehnte. Das Gesetz ermöglichte u. a. die Sperrung von Internetseiten, ein Verkaufsverbot für Material, das verbotene Informationen enthält, und Geldstrafen von bis zu 5 Mio. Rubel (etwa 64.000 Euro, Stand: Dezember 2022) für die vage definierten Ordnungswidrigkeiten "Propaganda", "Darstellung nicht-traditioneller sexueller Beziehungen oder Vorlieben" und Bereitstellung von Informationen, die "den Wunsch nach einer Änderung des Geschlechts hervorrufen".

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge kamen 2022 mehr als 2,8 Millionen Vertriebene aus der Ukraine nach Russland. Zwar flohen viele von ihnen freiwillig nach Russland. Doch gab es auch zahlreiche Personen aus den von Russland besetzten Gebieten, die nicht in Gebiete unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ausreisen durften und von den russischen Behörden rechtswidrig und gegen ihren Willen aus der Ukraine nach Russland umgesiedelt bzw. verschleppt wurden. Freiwillige Helfer*innen unterstützten nach eigenen Angaben mindestens 9.000 Ukrainer*innen bei der Ausreise aus Russland in Drittländer. Die russischen Behörden brachten Ukrainer*innen in provisorischen Unterkünften in mindestens 54 Regionen unter, u. a. in Sibirien und im Fernen Osten, was eine Umsiedlung in Drittländer oder eine Rückkehr in die Ukraine erschwerte und verteuerte. Die russischen Behörden legten ukrainischen Flüchtlingen die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft nahe bzw. setzten sie teilweise auch unter Druck, damit sie diese annahmen. Für unbegleitete Minderjährige und Menschen mit Behinderungen war die Gefahr, gegen ihren Willen in die russische Gesellschaft eingegliedert zu werden, besonders groß.

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