Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Ukraine 2022

 
 

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Russland begann am 24. Februar 2022 unter Verstoß gegen die UN-Charta eine groß angelegte Militärinvasion in die Ukraine, die ein Akt der Aggression ist und somit ein Völkerrechtsverbrechen darstellt. Die russischen Streitkräfte verübten wahllose Angriffe, die zu Tausenden Opfern in der Zivilbevölkerung führten. Darüber hinaus traten nach und nach immer mehr Belege für weitere Verbrechen wie Folter, sexualisierte Gewalt und rechtswidrige Tötungen zutage. Russische Angriffe auf die zivile Infrastruktur führten auch zu Verletzungen der Rechte auf Wohnen, Gesundheit und Bildung. Durch ein neues Mediengesetz erhielt die staatliche ukrainische Medienaufsicht unverhältnismäßig weitreichende Befugnisse. Das angekündigte neue Gesetz zu eingetragenen Lebenspartnerschaften soll offenbar gleichgeschlechtliche Beziehungen einschließen. Der Krieg verstärkte die bestehende Benachteiligung von Frauen und die geschlechtsspezifische Gewalt nahm laut Berichten zu. Auf der von Russland besetzten Krim gingen die Behörden weiterhin mit aller Härte gegen Andersdenkende und Menschenrechtsverteidiger*innen vor.

Hintergrund

Am 24. Februar 2022 begann Russland eine groß angelegte Militärinvasion in die Ukraine, auch vom benachbarten Belarus aus. Die russischen Streitkräfte erreichten die Außenbezirke der Hauptstadt Kiew und eroberten Gebiete im Osten und Süden des Landes, bevor sie in heftigen Kämpfen zurückgedrängt wurden. Ende 2022 hatten sich die russischen Streitkräfte aus einem Großteil der neu eroberten Gebiete zurückgezogen, behielten jedoch im Osten, Südosten und Süden der Ukraine die Kontrolle über beträchtliche Teile des Staatsgebiets, einschließlich der Krim.

Der Krieg hatte immense Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung in der Ukraine. Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte wurden 2022 mindestens 6.884 Zivilpersonen getötet und mindestens 10.947 verletzt. Die tatsächlichen Zahlen dürften jedoch deutlich höher sein. Die meisten Opfer unter der Zivilbevölkerung wurden durch den Einsatz von Explosivwaffen mit großer Reichweite verursacht.

Fast 8 Millionen Ukrainer*innen verließen 2022 das Land, vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen. Es handelte sich um die größte Flüchtlingsbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Zudem wurden Schätzungen zufolge fast 7 Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben.

Im September 2022 kündigte Russland die rechtswidrige Annexion von vier teilweise besetzten Regionen der Ukraine an.

Der Krieg bestimmte das öffentliche, politische und zivile Leben in der Ukraine. Am 24. Februar 2022 wurde das Kriegsrecht verhängt, das am Jahresende immer noch in Kraft war. Die ukrainischen Behörden ergriffen verschiedene Maßnahmen, um Russlands medialen, kulturellen und politischen Einfluss im Land zurückzudrängen. So sperrten sie den Zugang zu mehreren russischen Internetdiensten und verboten mindestens elf politische Parteien, die ihrer Ansicht nach Verbindungen zu Russland hatten und aufwieglerische Aktivitäten durchführten.

Eine der beiden großen orthodoxen Kirchen, die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die im Gegensatz zur Orthodoxen Kirche der Ukraine dem Moskauer Patriarchat unterstand, änderte im Mai 2022 ihr Kirchenstatut und erklärte sich offiziell für unabhängig und selbstständig, doch blieb ihr Verhältnis zu Moskau unklar. Ungeachtet dessen kündigten die Behörden im Dezember an, die Aktivitäten der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche in der Ukraine verbieten zu wollen. Sie leiteten eine Untersuchung zu deren mutmaßlich subversiven Aktivitäten ein und durchsuchten Kirchen und Klöster im ganzen Land.

Die Weltbank prognostizierte im April, das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine könnte 2022 im Vergleich zum Vorjahr um etwa 45 Prozent einbrechen, und meldete im Oktober, die Armutsquote des Landes habe sich 2022 verzehnfacht. Die Zahl der Kinder, die in Armut lebten, stieg um beinahe eine halbe Million. Im Dezember bezifferte eine Vertreterin der Weltbank die Kosten für den Wiederaufbau auf geschätzte 500 bis 600 Mrd. Euro. Die Arbeitslosenquote lag Ende 2022 bei mehr als 30 Prozent.

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Die russische Invasion hatte in der Ukraine schwerwiegende Folgen für die Menschenrechte und die humanitäre Lage und löste eine Vertreibungskrise aus. Russische Streitkräfte führten wahllose Angriffe durch und setzten Waffen mit großflächiger Wirkung ein, die Tausende Zivilpersonen töteten und verletzten. Am 30. September 2022 wurden bei einem russischen Raketenangriff auf einen Hilfskonvoi in Saporischschja mindestens 25 Zivilpersonen getötet. Die russischen Truppen besetzten weite Teile des Landes und verweigerten der dortigen Zivilbevölkerung den Zugang zu humanitärer Hilfe. Nachdem die Ukraine die Kontrolle über einige Gebiete zurückerlangt hatte, tauchten immer mehr Beweise dafür auf, dass Angehörige der russischen Streitkräfte für rechtswidrige Freiheitsberaubung sowie Folter, sexualisierte Gewalt, rechtswidrige Tötungen und andere Verbrechen verantwortlich waren.

In den von Russland besetzten Gebieten schalteten die russischen Behörden die ukrainischen Kommunikationskanäle ab oder unterbrachen sie und ersetzten z. B. ukrainische Mobilfunknetze durch russische. Bewohner*innen der besetzten Gebiete, die über Angriffe in diesen Gebieten berichteten, wurden von den russischen Behörden ins Visier genommen und u. a. entführt, rechtswidrig inhaftiert und gefoltert. Es gab Berichte über außergerichtliche Hinrichtungen von Zivilpersonen. So dokumentierte Amnesty International in Butscha fünf mutmaßliche außergerichtliche Hinrichtungen, die während der russischen Besetzung im März 2022 verübt wurden.

Aufgrund der Kommunikationsbeschränkungen und des fehlenden Zugangs unabhängiger Medien und Beobachter*innen zu den von Russland besetzten Gebieten war es schwer, Berichte über Militärschläge zu überprüfen, die den ukrainischen Streitkräften zugeschrieben wurden. Hierzu gehörten auch Angriffe, die Tote bzw. Verletzte oder Schäden an der zivilen Infrastruktur zur Folge hatten. Russische Staatsbedienstete und staatlich kontrollierte Medien erhoben regelmäßig Vorwürfe bezüglich rechtswidriger ukrainischer Angriffe, von denen sich einige als falsch erwiesen. So machten die russischen Behörden die ukrainischen Streitkräfte für die Zerstörung des Theaters in Mariupol am 16. März 2022 verantwortlich, obwohl eindeutige Beweise dafür vorlagen, dass das Gebäude, in dem Hunderte Zivilpersonen Zuflucht gesucht hatten, von der russischen Luftwaffe gezielt angegriffen wurde.

Kriegsgefangene

Kriegsgefangene waren Misshandlungen ausgesetzt und wurden möglicherweise Opfer außergerichtlicher Hinrichtungen. Die russischen Streitkräfte und von Russland unterstützte bewaffnete Gruppen verweigerten Hilfsorganisationen zumeist den Zugang zu Gefangenen in ihrem Gewahrsam. Im August 2022 kündigten die Vereinten Nationen eine Ermittlungsmission zu einer Explosion im Gefangenenlager in Oleniwka an, bei der im Juli Dutzende ukrainische Kriegsgefangene getötet worden waren, die sich in Gewahrsam moskautreuer Kräfte befunden hatten. Die Ermittler*innen erhielten jedoch keinen Zugang zum Ort des Geschehens. Die Ukraine bestritt, für den Angriff auf das Gefangenenlager verantwortlich zu sein, und erklärte, es habe sich um eine vorsätzliche Tötung durch die russischen Streitkräfte gehandelt.

Fotos und Videos, die in den Sozialen Medien kursierten, zeigten Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen sowie mögliche außergerichtliche Hinrichtungen, die als Kriegsverbrechen gelten würden. Im Juli 2022 tauchten Videos auf, auf denen zu sehen ist, wie ein russischer Soldat einen ukrainischen Gefangenen kastriert und anschließend tötet. Berichten zufolge verhörten russische Sicherheitsdienste den mutmaßlichen Täter und taten das Video als Fälschung ab, obwohl unabhängige Ermittler*innen es verifiziert hatten.

Die Ukraine sah sich Forderungen gegenüber, die Misshandlung und Tötung russischer Gefangener zu untersuchen. Im November 2022 wurden in den Sozialen Medien Videos und Fotos veröffentlicht, die eine mögliche außergerichtliche Hinrichtung zeigten. Auf einem Video ist zu sehen, wie mindestens zehn russische Soldaten, die sich ergeben hatten, mit dem Gesicht nach unten, aber lebend, auf dem Boden liegen, während sie auf einem späteren aus der Luft gefilmten Video tot sind. Die Ukraine leitete eine Untersuchung ein, deren Ergebnisse Ende 2022 jedoch noch nicht veröffentlicht waren.

Unfaire Gerichtsverfahren

Im Juni 2022 sprach ein separatistisches "Gericht" in der von Russland besetzten Stadt Donezk unter Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht drei Angehörige der regulären ukrainischen Streitkräfte (einen Marokkaner und zwei Briten) "schuldig", sich als ausländische Söldner an Kampfhandlungen beteiligt zu haben, und "verurteilte" sie zum Tode. Im Juli behaupteten die russischen Behörden, sie hätten bereits 92 ukrainische Kriegsgefangene wegen "Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit" angeklagt und planten, sie im besetzten Mariupol vor ein "internationales Tribunal" zu stellen. Dies würde gegen das Recht der Kriegsgefangenen auf ein faires Verfahren verstoßen.

Vertreibung

Die russischen Behörden siedelten Zivilpersonen aus Mariupol und anderen Orten der besetzten ukrainischen Gebiete gegen ihren Willen um und verschleppten sie. Dabei handelte es sich um Kriegsverbrechen und wahrscheinlich auch um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Zivilbevölkerung wurde außerdem gezwungen, sich einem Überprüfungsprozess zu unterziehen, den die russischen Behörden als "Filtration" bezeichneten. Dabei wurden einige der verschleppten Zivilpersonen gefoltert und anderweitig misshandelt, u. a. durch Schläge, Elektroschocks und Hinrichtungsdrohungen. Andere erhielten weder Nahrung noch Wasser und wurden unter gefährlichen Bedingungen in überfüllten Einrichtungen festgehalten. In einigen Fällen wurden Kinder von ihren Eltern getrennt. Nach ihrer Zwangsumsiedlung oder Verschleppung befanden sich ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und unbegleitete bzw. von ihren Eltern getrennte oder verwaiste Kinder in einer besonders schwierigen Lage. Sie hatten häufig nicht die finanziellen Mittel, die notwendige Unterstützung oder das Recht, Russland oder die russisch besetzten Gebiete wieder zu verlassen.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Am 2. März 2022 leitete der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Ermittlungen zu den in der Ukraine verübten Verbrechen ein, nachdem 39 Vertragsstaaten des IStGH eine beschleunigte Aufnahme dieser Ermittlungen gefordert hatten. Die Ukraine selbst hatte das Römische Statut noch nicht ratifiziert. Am Jahresende dauerten die Ermittlungen noch an. Am 4. März 2022 stimmte der UN-Menschenrechtsrat für die Einrichtung einer Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission zur Ukraine.

Am 17. November 2022 sprach ein niederländisches Gericht zwei russische und einen ukrainischen Staatsbürger mit Verbindungen zur sogenannten Volksrepublik Donezk schuldig, alle 298 Menschen ermordet zu haben, die sich an Bord des Flugzeugs der Malaysia Airlines befunden hatten, das im Juli 2014 über der Ostukraine abgeschossen wurde, und verurteilte die Angeklagten in Abwesenheit zu lebenslanger Haft.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Der russische Angriffskrieg stellte die ukrainische Bevölkerung vor große Entbehrungen und führte zu einer dramatischen Verschlechterung des Lebensstandards, u. a. im Hinblick auf Wohnen, Gesundheit und Bildung.

In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 intensivierte Russland seine Angriffe auf grundlegende zivile Infrastruktureinrichtungen wie die Strom- und Wasserversorgung und verschärfte somit die wirtschaftliche Notlage vorsätzlich noch weiter. Zu Beginn der kalten Jahreszeit sorgten Raketen- und Drohnenangriffe dafür, dass mindestens 40 Prozent der ukrainischen Energieinfrastruktur schwer beschädigt wurden, was immer wieder zu großflächigen Stromausfällen führte. Die Angriffe schnitten regelmäßig Millionen Ukrainer*innen gleichzeitig von der Stromversorgung ab, legten die Gesundheitsversorgung, das Bildungswesen und andere wichtige Einrichtungen lahm und beeinträchtigten die Heizungs- und Wasserversorgung der Bevölkerung bei Minusgraden. Zeitweise hatten 80 Prozent der Bewohner*innen von Kiew kein fließendes Wasser.

Nach Angaben der privaten Hochschule Kyiv School of Economics wurden bis Ende Oktober 2022 landesweit mehr als 126.700 Häuser und 16.800 Wohnblöcke zerstört oder schwer beschädigt. Das ukrainische Gesundheitsministerium teilte im Dezember mit, dass 144 Gesundheitseinrichtungen zerstört und weitere 1.100 beschädigt worden seien.

Arbeitnehmer*innenrechte

Im Juli 2022 wurden zwei Gesetze verabschiedet, die die Arbeitnehmer*innenrechte aushöhlten und schätzungsweise 70 Prozent der ukrainischen Arbeitskräfte betrafen. Die ukrainischen Behörden erklärten, in Kriegszeiten seien diese Maßnahmen nötig. Ähnliche Bestimmungen waren bereits 2020 und 2021 vorgeschlagen, nach Protest der Gewerkschaften und Kritik der Internationalen Arbeitsorganisation aber zurückgezogen worden. Das erste der beiden Gesetze erlaubte sogenannte Null-Stunden-Verträge für bis zu zehn Prozent der Beschäftigten eines Unternehmens, vorbehaltlich einer garantierten bezahlten Mindestarbeitszeit von 32 Stunden pro Monat. Das zweite Gesetz befreite Unternehmen mit maximal 250 Beschäftigten von verschiedenen Schutzbestimmungen im Arbeitsrecht, einschließlich gewerkschaftlich ausgehandelter Tarifverträge. Viele der Bestimmungen sollten bis zur Aufhebung des Kriegsrechts in Kraft bleiben.

Rechte älterer Menschen

Unter den Zivilpersonen, die bei Angriffen getötet oder verletzt wurden, befanden sich unverhältnismäßig viele ältere Menschen. Von den getöteten Zivilpersonen, deren Alter bekannt war, waren 34 Prozent über 60 Jahre alt. Ältere Menschen, insbesondere Personen mit Behinderungen oder gesundheitlichen Problemen, waren oft nicht in der Lage, private oder kommunale Schutzeinrichtungen aufzusuchen oder umkämpfte Gebiete zu verlassen. In besetzten Gebieten, in denen die russischen Streitkräfte humanitäre Hilfsleistungen verhinderten, hatten ältere Menschen keinen Zugang zu Medikamenten und medizinischer Versorgung. Vertriebene hatten zudem Schwierigkeiten, eine neue Bleibe zu finden, weil die Notunterkünfte in der Regel nicht barrierefrei waren. Außerdem war es ihnen aufgrund ihrer geringen Renten nicht möglich, sich auf dem privaten Wohnungsmarkt eine neue Wohnung zu suchen. Ab Februar 2022 wurden mindestens 4.000 ältere Menschen in Pflegeheime und andere staatliche Einrichtungen gebracht, die überlastet waren und in denen schlechte Bedingungen herrschten. Andere blieben in ihren beschädigten Wohnungen, wo sie ohne Strom, Heizung und fließendes Wasser lebten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im März 2022 wurden alle nationalen Fernsehsender, die fundierte Nachrichten und Kommentare boten, per Dekret des Präsidenten zu einer gemeinsamen Nachrichtenplattform zusammengelegt, die rund um die Uhr einheitliche Informationen ausstrahlen sollte. Die zunächst verbindliche Regelung wurde im Laufe des Jahres gelockert.

Am 13. Dezember 2022 wurde ein Mediengesetz verabschiedet, das die Befugnisse der Medienaufsichtsbehörde (Nationaler Fernseh- und Rundfunkrat) über Gebühr ausweitete. Laut dem Gesetz kann die Behörde jedes Medienunternehmen verwarnen, mit Geldstrafen belegen und dessen Zulassung vorübergehend oder endgültig entziehen sowie Onlinedienste, bei denen es sich nicht um Medien handelt, ohne Gerichtsbeschluss vorübergehend sperren.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Die Belastungen des Krieges führten zu einer stärkeren Solidarität mit Gruppen, die zuvor ausgegrenzt waren. Anders als im Jahr 2014, als die Kämpfe in der Ostukraine begannen und LGBTI+ in den ukrainischen Streitkräften nicht erwünscht waren, berichteten offen schwul, lesbisch und trans lebende Freiwillige und Wehrpflichtige 2022, sie seien in den Reihen des Militärs nun willkommen und würden respektiert.

Im Juli 2022 hatte eine Petition, in der die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe gefordert wurde, die Mindestzahl von 25.000 Unterschriften erreicht, die notwendig war, um eine Prüfung des Anliegens durch den Präsidenten zu erreichen. Im August 2022 deutete Präsident Selenskyj an, dass er die Initiative unterstütze, wies jedoch darauf hin, dass die dafür notwendige Änderung der Verfassung während des Kriegsrechts nicht möglich sei. Stattdessen stellte er ein Gesetz zu eingetragenen Lebenspartnerschaften in Aussicht und gab zu verstehen, dass dieses auch für gleichgeschlechtliche Paare gelten würde.

Trans Personen, in deren Ausweisdokumenten ein Geschlecht angegeben war, das nicht ihrer Geschlechtsidentität entsprach, berichteten, sie seien bei dem Versuch, das Land zu verlassen, schikaniert oder an der Ausreise gehindert worden. Hintergrund war, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren laut Kriegsrecht nicht ausreisen durften.

Frauenrechte

Frauen übernahmen zunehmend Tätigkeiten, die zuvor überwiegend von Männern ausgeführt worden waren, insbesondere in den Streitkräften, doch waren sie auf politischer Ebene ebenso wie in anderen Entscheidungspositionen weiterhin unterrepräsentiert.

Teilweise verschärften sich bestehende Ungleichheiten sogar noch. UN Women teilte mit, dass in den vom Krieg betroffenen Gebieten mehr als ein Drittel der von Frauen geführten Haushalte Schwierigkeiten habe, eine ausreichende Lebensmittelversorgung sicherzustellen.

Der Konflikt hatte auch erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Betreuung von Schwangeren und Müttern. Die russischen Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und die Stromversorgung sowie ein Mangel an geschultem Personal führten dazu, dass die entsprechende Versorgung stark eingeschränkt war und die Zahl der Frühgeburten deutlich anstieg.

Zahlreiche Organisationen, die mit von häuslicher Gewalt Betroffenen arbeiteten, berichteten, dass die geschlechtsspezifische Gewalt zugenommen habe und es zugleich immer weniger Unterstützungsangebote gebe.

Aus den von Russland besetzten Gebieten wurden Kriegsverbrechen wie Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt gemeldet. Behörden und NGOs hatten aus vielfältigen Gründen – u. a. aufgrund des Misstrauens der Überlebenden und ihrer Furcht vor gesellschaftlicher Stigmatisierung – Schwierigkeiten, diese Fälle zu dokumentieren.

Im Juli 2022 ratifizierte die Ukraine das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). Am 1. November trat das Abkommen in der Ukraine in Kraft.

Umweltzerstörung

Der Krieg wirkte sich verheerend auf die Umwelt aus: Er führte zum Verbrauch riesiger Mengen fossiler Brennstoffe, zerstörte Lebensräume, verursachte Waldbrände und verseuchte die Luft, das Wasser und den Boden der Ukraine mit giftigen Substanzen.

Das russische Vorgehen im Krieg erhöhte die Gefahr eines atomaren Zwischenfalls. Nachdem Russland am 4. März 2022 die Kontrolle über das Atomkraftwerk in Saporischschja erlangt hatte, wurden dort russische Streitkräfte und militärisches Gerät stationiert. Es gab wiederholt Berichte über Explosionen in der unmittelbaren Umgebung des Atomkraftwerks, für die sich beide Seiten gegenseitig die Schuld gaben. Die Angriffe führten zu Schäden an der Anlage. Im September 2022 wurde auch der letzte noch aktive Reaktor abgeschaltet. Verhandlungen unter Leitung der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) über die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone um die Anlage waren Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen.

Im November führten russische Angriffe auf das ukrainische Stromnetz zu einer Notabschaltung aller ukrainischen Kernreaktoren. Angesichts der Gefahren, die ein wiederholtes Abschalten und Wiederhochfahren von Atomreaktoren mit sich bringt, beschrieb die IAEA die Situation als "prekär, schwierig und potenziell gefährlich".

Krim

Im Gegensatz zu anderen russisch besetzten Gebieten war die Krim, die 2014 rechtswidrig annektiert worden war, weniger vom Krieg betroffen. Es kam zu gelegentlichen ukrainischen Angriffen, die Schiffen oder Flughäfen galten, sowie einer Explosion, bei der die Brücke zwischen der Halbinsel und Russland teilweise zerstört wurde.

Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Die De-facto-Behörden auf der Halbinsel Krim unterdrückten die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit weiterhin mit aller Härte. Bekannte krimtatarische Vertreter*innen und Aktivist*innen, Personen mit pro-ukrainischen Ansichten und Angehörige religiöser Minderheiten waren ständigen Repressalien ausgesetzt. Darbietungen ukrainischer Kultur und Musik waren faktisch strafbar, und mehrere Personen wurden zu Verwaltungshaft oder hohen Geldstrafen verurteilt, weil sie bei privaten Veranstaltungen ukrainische Lieder gespielt hatten.

Lokale Rechtsbeistände, die Menschen vertraten, die aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt wurden, mussten mit rechtswidrigen Durchsuchungen, willkürlichen Festnahmen, hohen Geldstrafen und Verwaltungshaft rechnen. Am 15. Juli 2022 wurde den Rechtsbeiständen Lilya Gemedzhi, Rustem Kyamilev und Nazim Sheikhmambetov die Zulassung entzogen, offenbar als Vergeltung dafür, dass sie krimtatarische Aktivist*innen verteidigt hatten.

Der gewaltlose politische Gefangene Nariman Dschelal, das prominenteste noch auf der Krim verbliebene ehemalige Mitglied der willkürlich verbotenen krimtatarischen Volksvertretung (Medschlis), wurde im September 2022 aufgrund konstruierter Sabotagevorwürfe zu 17 Jahren Haft verurteilt. Seine Mitangeklagten erhielten ebenfalls lange Gefängnisstrafen.

Veröffentlichungen von Amnesty International

 
 

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