Amnesty International Report 2020/21; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Deutschland 2020

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Bundesrepublik Deutschland

STAATSOBERHAUPT

Frank-Walter Steinmeier

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF_IN

Angela Merkel

Stand:
 

1/2021

Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020

Berichte über rechtsextreme Aktivitäten in der Polizei und anderen Sicherheitskräften lösten 2020 Besorgnis aus, was den Schutz der Menschenrechte von Minderheiten betraf. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz forderte die Behörden dringend auf, diskriminierende Personenkontrollen (Racial Profiling) durch die Polizei zu untersuchen. Den zuständigen Behörden gelang es weiterhin nicht, eine umfassende Strategie gegen Hasskriminalität zu entwickeln. Während der Lockdown-Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie stiegen die Beratungsanfragen beim bundesweiten Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" stark an. In einer wegweisenden Entscheidung urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) auch bei Aktivitäten im Ausland an die im Grundgesetz verankerten Grundrechte gebunden ist. Deutschland zählte weiterhin zu den wenigen EU-Mitgliedstaaten, die Asylsuchende aus anderen Ländern übernahmen.

Hintergrund

Im Februar 2020 erschoss ein Mann in Hanau neun Menschen mit Migrationsgeschichte in zwei Shishabars, bevor er zu Hause seine Mutter und sich selbst tötete. Vor dem Anschlag hatte der Mann ein rassistisches und antisemitisches Manifest im Internet veröffentlicht. Der Generalbundesanwalt übernahm die Ermittlungen und stufte die Tat als terroristischen Anschlag ein.

Diskriminierung

Kurz nach dem Anschlag in Hanau bildete die Regierung im März 2020 einen Kabinettsausschuss gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Im September hörte der Ausschuss Sachverständige an, darunter Vertreter_innen von Migrantenorganisationen und Wissenschaftler_innen.

Zivilgesellschaftliche Organisationen berichteten weiterhin über diskriminierende Personenkontrollen von Angehörigen ethnischer und religiöser Minderheiten durch die Polizei. Im März forderte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz eine Studie über das Racial Profiling durch die Polizei. Der Bundesinnenminister lehnte eine entsprechende Studie im Juli ab und begründete dies damit, dass diskriminierende Personenkontrollen verboten seien.

Weder auf Landes- noch auf Bundesebene wurden unabhängige Beschwerdestellen eingerichtet, um diskriminierendes und rechtswidriges Verhalten der Polizei unabhängig zu untersuchen. Ende 2020 gab es in sechs Bundesländern weiterhin keine individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizeikräfte.

Im Mai teilte das Bundesinnenministerium mit, dass die dokumentierten Straftaten im Bereich Hasskriminalität 2019 um mehr als fünf Prozent auf 8.585 Fälle gestiegen waren; antisemitische Straftaten hatten um 13 Prozent zugenommen. Weder auf Bundes- noch auf Landesebene wurde eine umfassende Strategie zur Bekämpfung von Hasskriminalität einschließlich verpflichtender Antirassismus-Trainings für Sicherheitskräfte entwickelt.

Das gesamte Jahr über gab es Ermittlungen zu einer Serie von mehr als 100 Drohschreiben, die vor allem weibliche Politiker_innen, Anwält_innen und Antirassismus-Aktivist_innen von August 2018 bis zum Jahresende 2020 erhalten hatten und die zum Teil Morddrohungen enthielten. Die meisten waren mit "Nationalsozialistischer Untergrund 2.0" unterzeichnet, in Anlehnung an die gleichnamige rechtsextreme Gruppe, die von 2000 bis 2007 rassistisch motivierte Morde verübt hatte. Die Adressen stammten aus Polizeidatenbanken, was Befürchtungen hinsichtlich des Datenschutzes und einer rechtsextremen Unterwanderung der Sicherheitskräfte auslöste. Zudem ermittelte der Militärische Abschirmdienst (MAD) gegen mehr als 500 Angehörige der Bundeswehr wegen der Verwendung verbotener nationalsozialistischer Symbole und Verbindungen zu gewaltbereiten rechtsextremen Netzwerken. Die Ermittlungen richteten sich insbesondere gegen die Eliteeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK).

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im April 2020 begann vor dem Oberlandesgericht Koblenz der weltweit erste Strafprozess wegen staatlicher Folter in Syrien. Zwei ehemalige Angehörige des syrischen Allgemeinen Geheimdienstes waren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Einem der beiden Angeklagten wurde vorgeworfen, für 58 Morde und die Folter von mindestens 4.000 Menschen verantwortlich zu sein.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Der Bundestag verabschiedete im Mai 2020 ein Gesetz, das sogenannte Konversionsbehandlungen verbietet, die darauf abzielen, die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität einer Person zu verändern oder zu unterdrücken. Das Gesetz wurde als positiver Schritt zur Stärkung der Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen angesehen. Nichtregierungsorganisationen und Fachleute forderten allerdings Nachbesserungen. Sie kritisierten unter anderem, dass sich das Verbot auf Minderjährige beschränkte und dass Eltern, die versuchten, ihre Kinder zu "heilen", nur "bei gröblicher Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht" bestraft wurden.

Im September legte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor, um Säuglinge und Kinder, die mit Variationen der Geschlechtsmerkmale geboren wurden, vor "normalisierenden Behandlungen" zu schützen. Der Entwurf berücksichtigte zwar Menschenrechtsverletzungen an intergeschlechtlichen Menschen in Bezug auf medizinische Eingriffe, sah jedoch keine Entschädigung für diejenigen vor, die man einer unnötigen und irreversiblen Behandlung unterzogen hatte. Er enthielt auch keine weiteren Maßnahmen, um die Pathologisierung intergeschlechtlicher Körper zu beenden.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Nach vorläufigen Daten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stiegen die Anfragen an das bundesweite Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" im April 2020 um etwa 20 Prozent an, nachdem erstmals ein Lockdown verhängt worden war, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Die Zahlen blieben seitdem höher als im ersten Quartal des Jahres.

Recht auf Privatsphäre

Im Mai 2020 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass die Überwachung des weltweiten Internetverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst nicht verfassungsgemäß sei. In einer wegweisenden Entscheidung befand das Gericht, die Nachrichtendienste und andere Behörden seien an die im Grundgesetz verankerten Grundrechte (etwa das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) gebunden, unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder dem Aufenthaltsort der überwachten Person. Nach Ansicht des Gerichts sind die Befugnisse für ungezielte Überwachung im BND-Gesetz zu vage formuliert. Außerdem sei die Kontrolle der Nachrichtendienste unzureichend. Das Gericht monierte auch mangelnde Schutzmaßnahmen für Berufsgruppen wie Journalist_innen und Anwält_innen. Das Gesetz muss nun bis Ende 2021 überarbeitet werden.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im April 2020 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine Regelung zur Eindämmung der Corona-Pandemie, die Treffen von mehr als zwei Personen aus verschiedenen Haushalten untersagte, nicht als pauschales Versammlungsverbot ausgelegt werden dürfe. Stattdessen sollten die zuständigen Behörden die Versammlungsfreiheit durch eine Abwägung im Einzelfall mit den notwendigen Vorkehrungen zum Infektionsschutz in Einklang bringen. Demonstrationen konnten danach unter Einhaltung der notwendigen Hygieneauflagen – wie Abstandhalten – stattfinden.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im April und Juni 2020 wurden Änderungen am Netzwerkdurchsetzungsgesetz beschlossen. Das Gesetz reguliert den Umgang großer Internetplattformen mit bestimmten strafbaren Inhalten. Während einige Änderungen begrüßt wurden, weil sie das Recht auf Meinungsfreiheit der Nutzer_innen stärkten, warnten einige Fachleute davor, dass Plattformen Nutzer_innen an das Bundeskriminalamt melden könnten, wenn sie deren legitime Beiträge fälschlicherweise als strafbar einschätzten.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Migrant_innen

Im Dezember 2020 kritisierten Amnesty International und andere zivilgesellschaftliche Organisationen die Entscheidung der Landesinnenminister_innen, Personen, die wegen Straftaten verurteilt wurden oder als sogenannte Gefährder gelten, nach Syrien abzuschieben, obwohl dort ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit bedroht war.

Deutschland übernahm bis zum Jahresende 1.293 Flüchtlinge und Asylsuchende von den griechischen Inseln. Im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens kamen 1.178 syrische Flüchtlinge ins Land. 216 Flüchtlinge wurden im Zuge des Resettlement-Programms des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge neu angesiedelt.

Unternehmensverantwortung

2019 hatte die Bundesregierung ein sogenanntes Monitoring in zwei Phasen gestartet, um herauszufinden, inwieweit große deutsche Unternehmen menschenrechtliche Sorgfaltspflichten erfüllten. Im August 2020 veröffentliche das Auswärtige Amt die Ergebnisse der zweiten Phase des Monitorings, die ergab, dass lediglich 13 bis 17 Prozent der Unternehmen ihren menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in hinreichendem Maße nachkamen. Der 2016 verabschiedete Nationale Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte sah vor, gesetzliche Maßnahmen zu erwägen, sollten weniger als die Hälfte der großen deutschen Unternehmen ihren Sorgfaltspflichten hinreichend nachkommen.

Der Zugang zur Justiz war für Opfer von Menschenrechtsverstößen durch oder unter Beteiligung deutscher Unternehmen im Ausland weiterhin beschwerlich.

Unverantwortliche Rüstungsexporte

Der Rüstungs-Exportstopp für Saudi-Arabien wurde im März 2020 bis zum Jahresende verlängert. Das Moratorium galt nur für Saudi-Arabien, nicht aber für andere am Jemen-Konflikt beteiligte Länder. Der Export deutscher Bauteile für gemeinsame europäische Rüstungsprojekte, die für Saudi-Arabien bestimmt waren, blieb weiterhin erlaubt.

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