Amnesty International Report 2020/21; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Ägypten 2020

 

Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Arabische Republik Ägypten

STAATSOBERHAUPT

Abdel Fattah al-Sisi

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF_IN

Moustafa Madbouly

Stand:
 

1/2021

Die Behörden bestraften 2020 weiterhin jegliche öffentlich geäußerte Kritik oder als kritisch eingestufte Meinung und unterdrückten die Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit massiv. Zahlreiche Journalist_innen befanden sich allein aufgrund ihrer Arbeit oder kritischer Ansichten willkürlich in Haft. Die Behörden gingen hart gegen jede Berichterstattung über die Corona-Pandemie vor, die von der offiziellen Darstellung abwich, und inhaftierten Beschäftigte des Gesundheitswesens, die auf Mängel beim Infektionsschutz hingewiesen hatten. Das Recht auf Vereinigungsfreiheit war für Menschenrechtsorganisationen und politische Parteien weiterhin stark eingeschränkt. Sicherheitskräfte lösten gelegentliche Protestaktionen unter Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt auf und hielten Hunderte Demonstrierende und Passant_innen in willkürlicher Haft fest, während Ermittlungen wegen "Terrorismus" und anderer Anschuldigungen gegen sie eingeleitet wurden. Tausende Menschen befanden sich immer noch in übermäßig langer Untersuchungshaft, darunter Menschenrechtsverteidiger_innen, Journalist_innen, Politiker_innen, Anwält_innen und Influencer_innen. Die Haftbedingungen waren nach wie vor grausam und unmenschlich. Den Gefangenen wurde eine angemessene medizinische Versorgung verweigert, was dazu führte oder dazu beitrug, dass mindestens 35 Menschen in der Haft oder kurz nach ihrer Freilassung starben. Garantien für ein faires Gerichtsverfahren wurden ständig missachtet. Gerichte verhängten Todesurteile und ließen Hinrichtungen vollstrecken. Die Behörden gingen strafrechtlich gegen Influencerinnen vor, denen sie wegen ihrer Kleidung, ihres Verhaltens und der Tatsache, dass sie mit Werbung in den sozialen Medien Geld verdienten, Moralverstöße vorwarfen. Zahlreiche Arbeiter_innen wurden willkürlich inhaftiert und strafrechtlich verfolgt, weil sie von ihrem Streikrecht Gebrauch gemacht hatten. Bewohner_innen informeller Siedlungen wurden Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen. Die Behörden inhaftierten und verfolgten Christ_innen, Schiit_innen und andere Personen strafrechtlich wegen Blasphemie. Die Sicherheitskräfte gingen mit Gewalt gegen Flüchtlinge vor, die an Protestkundgebungen teilnahmen, nachdem ein sudanesischer Junge getötet worden war. Sie schlugen die Protestierenden mit Knüppeln und überzogen sie mit rassistischen Beleidigungen.

Hintergrund

Zwischen August und Dezember 2020 fanden in mehreren Durchgängen Wahlen für beide Kammern des Parlaments statt. Die Wahlbeteiligung war sehr gering.

Die Behörden verlängerten alle drei Monate den seit April 2017 andauernden Notstand und umgingen so die in der Verfassung vorgesehene Höchstgrenze von sechs Monaten. Eine im Mai vorgenommene Reform des Notstandsgesetzes verlieh dem Präsidenten zusätzliche weitreichende Befugnisse, um öffentliche und private Zusammenkünfte einzuschränken und die Zuständigkeit der Militärgerichte für Zivilpersonen noch weiter auszudehnen.

Im Juni bewilligte der Internationale Währungsfonds 5,2 Mrd. US-Dollar, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise in Ägypten zu bewältigen. Im August reduzierte die Regierung die Subventionen für Brot. Im September gab es in verschiedenen Dörfern, Kleinstädten und Außenbezirken von Kairo, in denen Armut weit verbreitet war, kleine Protestaktionen. Auslöser waren die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation und die Drohung der Regierung, Häuser abzureißen, die ohne Genehmigung errichtet worden seien, sollten die Bewohner_innen nicht die gesetzlich festgelegte Geldstrafe zahlen.

Im Nordsinai gab es 2020 weiterhin vereinzelt Angriffe bewaffneter Gruppen. Die Armee informierte über Militärangehörige, die im Mai, Juli und Oktober getötet wurden, sowie über die Tötung zahlreicher Mitglieder bewaffneter Gruppen. Medienberichten zufolge überfielen bewaffnete Gruppen im Juli mehrere Dörfer in der Gegend von Bir al-Abd und zwangen die Bewohner_innen zur Flucht. Einige von ihnen wurden bei ihrer Rückkehr im Oktober durch explodierende Sprengsätze getötet.

Ägypten beteiligte sich weiterhin an der von Saudi-Arabien angeführten Militärallianz, die in den bewaffneten Konflikt im Jemen eingriff, und war unverändert Mitglied der Koalition, die im Zuge der anhaltenden diplomatischen Krise am Golf Sanktionen gegen Katar verhängt hatte. Im bewaffneten Konflikt in Libyen stand Ägypten aufseiten der selbsternannten Libysch-Arabischen Streitkräfte (Libyan Arab Armed Forces – LAAF) von Khalifa Haftar und unterstützte die Konfliktpartei unter anderem durch die Weiterleitung von Waffenlieferungen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). Die VAE nutzten den ägyptischen Luftwaffenstützpunkt Sidi Barrani, um im Auftrag der LAAF Ziele in Libyen mit Drohnen anzugreifen.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Die Behörden reagierten auf kleine, vereinzelte Protestaktionen im September und Oktober 2020 mit unverhältnismäßiger Gewalt, Massenfestnahmen, Zensur und willkürlichen Sicherheitskontrollen. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas, Schlagstöcke, Schrotmunition und zumindest in einem Fall auch scharfe Munition ein, um die Demonstrationen aufzulösen, und führten unter Einsatz von Gewalt Hausdurchsuchungen durch, um mutmaßliche Demonstrierende festzunehmen. Dabei wurden mindestens zwei Männer getötet und weitere Personen verletzt. Hunderte Demonstrierende und Umstehende kamen in Haft, während man Ermittlungen wegen "Terrorismus" und anderer Anschuldigungen in Zusammenhang mit den Protesten gegen sie einleitete.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Das Recht auf Meinungsfreiheit wurde 2020 weiterhin massiv beschnitten, dies galt auch für Äußerungen im Internet.

Zahlreiche Journalist_innen wurden willkürlich festgenommen und inhaftiert, während man wegen "Missbrauchs sozialer Medien", "Verbreitung von Falschnachrichten" oder "Terrorismus" gegen sie ermittelte.

Am 24. Juni drangen Sicherheitskräfte in das Büro der unabhängigen Nachrichtenwebsite al-Manassa in Kairo ein und nahmen die Chefredakteurin Noura Younes vorübergehend fest.

Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen waren weiterhin Hunderte Internetseiten, die Nachrichten oder Informationen zu Menschenrechten und anderen Themen enthielten, blockiert. Im April schalteten die Behörden die Nachrichtenseite Darb ab, nachdem diese über Menschenrechtsanliegen berichtet hatte.

Die Behörden gingen mit aller Härte gegen jegliche unabhängige Berichterstattung über die Corona-Pandemie vor und drohten mit Konsequenzen, sollten "Falschinformationen" verbreitet werden. Mindestens neun Mitarbeiter_innen des Gesundheitswesens wurden willkürlich festgenommen, weil sie in den sozialen Medien auf mangelnde Schutzvorkehrungen hingewiesen oder den Umgang der Regierung mit der Pandemie kritisiert hatten. Sie blieben in Haft, während man wegen "Terrorismus" und "Verbreitung von Falschinformation" gegen sie ermittelte. Weitere Personen wurden bedroht, schikaniert und mit Verwaltungsstrafen belegt.

Die Kammer für Terrorismus des Strafgerichts in Kairo verurteilte am 25. August den Direktor des Kairoer Instituts für Menschenrechtsstudien, Bahey el-Din Hassan, in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft. Ihm wurde "Beleidigung der Justiz" und "Verbreitung von Falschinformationen" zur Last gelegt, weil er sich auf Twitter zu Menschenrechtsverletzungen in Ägypten geäußert hatte.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Die politisch motivierten strafrechtlichen Ermittlungen gegen Menschenrechtsorganisationen wegen deren Aktivitäten und Finanzierung, die als "Fall 173" bekannt wurden, dauerten 2020 an. Mindestens 31 Mitarbeiter_innen zivilgesellschaftlicher Organisationen durften weiterhin nicht ins Ausland reisen. Im Juli wies ein Kairoer Gericht den Einspruch von 14 Personen gegen ihre Reiseverbote ab.

Im Februar nahmen Sicherheitskräfte den Menschenrechtsverteidiger Patrick George Zaki am Flughafen von Kairo willkürlich fest, als er von einer Auslandsreise zurückkam. Nach Angaben seiner Rechtsbeistände traktierte ihn die Polizei mit Elektroschocks und Schlägen. Der Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte (Egyptian Initiative for Personal Rights – EIPR) war Ende 2020 immer noch in Untersuchungshaft, während die Behörden ihm vollkommen grundlos "Terrorismus" vorwarfen und gegen ihn ermittelten. Im November inhaftierten die Sicherheitskräfte drei Führungskräfte der EIPR, denen ebenfalls "Terrorismus" zur Last gelegt wurde. Gasser Abdel-Razek, Karim Ennarah und Mohamed Basheer hatten mehrere westliche Diplomat_innen in die Räume der Organisation eingeladen, um mit ihnen über die Menschenrechtslage in Ägypten zu sprechen. Nach weltweiten Protesten kamen die drei Männer im Dezember frei, doch froren die Behörden ihre Konten ein.

Oppositionelle wurden schikaniert und willkürlich inhaftiert. Im März 2020 verurteilte ein Gericht den ehemaligen Parlamentsabgeordneten und Vorsitzenden einer Oppositionspartei, Zyad el-Elaimy, zu einem Jahr Gefängnis, weil er sich in einem Interview zur Lage der Menschenrechte geäußert hatte. Im Juni wurde das Urteil in nächster Instanz bestätigt, und der Politiker blieb in Haft. Nach einer Änderung der Antiterrorgesetze im Februar konnten die Justizbehörden Organisationen und Einzelpersonen bereits dann als "Terroristen" einstufen, wenn die Polizei ermittelte, selbst wenn keine "terroristischen Handlungen" vorgefallen waren. In der Folge setzte die für Terrorismus zuständige Kammer des Strafgerichts in Kairo die Politiker Zyad el-Elaimy und Abdelmoniem Abouelfotoh, die Aktivisten Ramy Shaath und Alaa Abdelfattah sowie den Menschenrechtsverteidiger Mohamed el-Baqer ohne jegliche Anhörung oder ein ordnungsgemäßes Verfahren für fünf Jahre auf die ägyptische "Terrorismusliste".

Willkürliche Inhaftierungen und unfaire Gerichtsverfahren

Tausende Menschen befanden sich 2020 in willkürlicher Haft: Sie hatten lediglich ihre Menschenrechte wahrgenommen oder waren in Massenprozessen, Verfahren vor Militärgerichten oder anderen grob unfairen Prozessen verurteilt worden. In Ägypten lebende Familienangehörige von Dissident_innen, die ins Exil gegangen waren, wurden bedroht, verhört und willkürlich festgenommen.

Die Menschenrechtsaktivistin Sanaa Seif wurde im Juni 2020 willkürlich inhaftiert und im August wegen "Verbreitung falscher Nachrichten", "Beleidigung eines Polizisten" und anderer Vorwürfe angeklagt. Grund dafür war, dass sie, ihre Schwester und ihre Mutter vor dem Tora-Gefängnis schwer verprügelt worden waren, ohne dass die anwesenden Sicherheitskräfte eingriffen, und Sanaa Seif einem Polizisten daraufhin Komplizenschaft vorgeworfen hatte.

Staatsanwaltschaften und Gerichte verlängerten routinemäßig die Untersuchungshaft Tausender Inhaftierter, gegen die vollkommen grundlos wegen "Terrorismus" ermittelt wurde. In einigen Fällen waren die Beschuldigten nicht anwesend, wenn über die Verlängerung ihrer Haft entschieden wurde, und ihren Rechtsbeiständen war es nicht erlaubt, die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung anzufechten. Viele Häftlinge waren viel länger in Untersuchungshaft als die zwei Jahre, die nach ägyptischem Recht maximal zulässig sind.

Die für Staatssicherheit zuständige Sonderabteilung der Staatsanwaltschaft (Supreme State Security Prosecution – SSSP) umging Entscheidungen von Gerichten und Staatsanwaltschaften, die nach übermäßig langer Untersuchungshaft Freilassungen anordneten, indem sie neue Haftbefehle für ähnliche Anklagen ausstellte. Eine vergleichbare Taktik wandte die SSSP an, um verurteilte Gefangene nach Verbüßung ihrer Haftstrafe willkürlich weiter zu inhaftieren.

Verschwindenlassen, Folter und andere Misshandlungen

Die Behörden ließen 2020 Hunderte Häftlinge, darunter auch gewaltlose politische Gefangene, an unbekannten Orten verschwinden.

Der Gewerkschafter Ahmad Amasha wurde am 17. Juni festgenommen und war danach 25 Tage lang Opfer des Verschwindenlassens. Am 12. Juli verhörte ihn die SSSP und ordnete seine Inhaftierung an, während man wegen "Terrorismus" gegen ihn ermittelte.

Folter war in offiziellen und inoffiziellen Hafteinrichtungen nach wie vor an der Tagesordnung. Personen, die in Zusammenhang mit den Protesten im September festgenommen worden waren, teilten der Staatsanwaltschaft mit, dass Sicherheitskräfte sie geschlagen und mit Elektroschocks gequält hätten.

Die Staatsanwaltschaften leiteten in der Regel keine Ermittlungen gegen Angehörige des nationalen Geheimdienstes (National Security Agency –NSA) wegen Foltervorwürfen und Verschwindenlassen an. Nur bei einigen wenigen Todesfällen in Gewahrsam kam es zu strafrechtlichen Ermittlungen. Islam al-Australy, der Inhaber eines Ladens für Geflügel, starb am 7. September, zwei Tage nach seiner Festnahme, auf der Polizeistation von Monib in Gizeh. Das Innenministerium wies Vorwürfe zurück, er sei an den Folgen von Folter gestorben. Sicherheitskräfte nahmen Familienangehörige, Nachbar_innen und Bewohner_innen des Stadtviertels fest, die vor der Polizeiwache gegen seinen Tod protestierten. Sie kamen erst wieder frei, nachdem die Familie des Opfers ihre Anzeige gegen die Polizei zurücknahm. Die Staatsanwaltschaft ordnete die Inhaftierung von vier Polizisten der unteren Hierarchieebene bis zum Abschluss der Ermittlungen an und ließ einen Polizeibeamten gegen Kaution frei.

Die italienische Staatsanwaltschaft benannte im Dezember vier Angehörige des Geheimdienstes NSA, die im Verdacht standen, an der Entführung, Folterung und Tötung des italienischen Studenten Giulio Regeni im Jahr 2016 beteiligt gewesen zu sein.

Recht auf Gesundheit – Haftbedingungen

Die Bedingungen in Gefängnissen und anderen Hafteinrichtungen waren weiterhin grausam und unmenschlich. Gefangene klagten über stark überbelegte Zellen, schlechte Belüftung, mangelnde Hygiene, fehlende sanitäre Anlagen sowie unzureichendes Essen und verunreinigtes Trinkwasser. Die Behörden folterten einige Häftlinge, indem sie unter schrecklichen Bedingungen für unbestimmte Zeit in Einzelhaft gehalten wurden.

Die Behörden verweigerten den Gefangenen eine angemessene medizinische Versorgung. In einigen Fällen geschah dies vorsätzlich, um Andersdenkende zu bestrafen, was den Tatbestand der Folter erfüllen könnte. Mindestens 35 Gefangene starben im Gefängnis oder kurz nach ihrer Freilassung an medizinischen Komplikationen oder weil ihnen eine angemessene ärztliche Versorgung verweigert worden war. Die Behörden leiteten keine unabhängigen und wirksamen Untersuchungen zu den Ursachen und Umständen dieser Todesfälle ein.

Am 13. August 2020 starb der führende Vertreter der Muslimbruderschaft Essam El-Erian, der seit 2013 inhaftiert war, im Gefängnis. Er hatte vor Gericht angegeben, dass er in der Einzelhaft misshandelt worden sei und dass man ihm die medizinische Versorgung verweigert habe.

Die Behörden ergriffen keine Maßnahmen, um Infektionen mit dem Coronavirus in Gefängnissen und anderen Hafteinrichtungen zu verhindern. Den Gefangenen stand kein Desinfektionsmittel zur Verfügung, und im Falle eines Infektionsverdachts wurden sie weder systematisch getestet noch unter Quarantäne gestellt. Auch an der Überbelegung der Zellen änderte sich nichts. Die Behörden ließen Tausende Gefangene, die sich seit langer Zeit in Untersuchungshaft befanden, weiterhin nicht frei. Die jährlichen Begnadigungen betrafen erneut nur Tausende nicht-politische Gefangene. Angehörige und Unterstützer_innen von Gefangenen, die sich besorgt über den gesundheitlichen Zustand von Inhaftierten äußerten, wurden von den Behörden schikaniert und willkürlich inhaftiert.

Die Behörden verboten von März bis August Gefängnisbesuche unter Berufung auf die Corona-Pandemie. Zahlreiche politische Gefangene durften auch im Rest des Jahres keinen Besuch empfangen. Das Gefängnispersonal bot auch keine anderen Möglichkeiten an, um eine regelmäßige Kommunikation zwischen den Gefangenen und ihren Familien und Rechtsbeiständen zu gewährleisten.

Todesstrafe

Militärgerichte, die für Terrorismus zuständigen Kammern der Strafgerichte und andere Gerichte fällten nach unfairen Massenprozessen Todesurteile. Berufungsgerichte bestätigten die Urteile. Es wurden Hinrichtungen vollstreckt.

Im März 2020 verhängte ein Strafgericht nach einem unfairen Massenprozess Todesurteile gegen 37 Männer. Viele von ihnen waren vor ihrem Prozess monatelang dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen, waren geschlagen, mit Elektroschocks traktiert oder über einen langen Zeitraum aufgehängt worden. Im Juli bestätigte Ägyptens oberstes Berufungsgericht das Todesurteil gegen Wael Tawadros, auch bekannt unter dem Namen Vater Isaiah, nach einem Gerichtsverfahren, das durch Folter und Verschwindenlassen gekennzeichnet war.

Die Behörden vollstreckten Todesurteile und richteten auch Menschen hin, die in grob unfairen Prozessen verurteilt worden waren – sei es, dass sie Opfer des Verschwindenlassens geworden waren, sei es, dass unter Folter erpresste "Geständnisse" als Beweismittel gegen sie verwendet wurden. Allein im Oktober und November 2020 wurden in Ägypten fast doppelt so viele Menschen hingerichtet wie im gesamten Jahr 2019.

 

Geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt

Frauen und Mädchen waren weiterhin Diskriminierung ausgesetzt, sowohl durch Gesetze als auch im täglichen Leben.

Nach einer öffentlichen Debatte über Straflosigkeit bei sexualisierter Gewalt nahmen die Behörden mehrere Männer fest, die im Verdacht standen, Vergewaltigungen verübt zu haben. Die Behörden stellten jedoch weder den Schutz von Überlebenden und Zeug_innen sicher, noch ergriffen sie Maßnahmen, um die weit verbreitete Gewalt gegen Frauen und Mädchen angemessen zu untersuchen und zu bekämpfen. Eine Frau, die vergewaltigt worden war, sowie weitere, die sexualisierte Gewalt anzeigten, erlebten Repressalien seitens der Behörden.

Im August 2020 wurden ein Mann und drei Frauen, die sich als Zeug_innen gemeldet hatten, um Aussagen zu einer Gruppenvergewaltigung in einem Kairoer Hotel im Jahr 2014 zu machen, von den Behörden willkürlich festgenommen. Außerdem wurden strafrechtliche Ermittlungen wegen "Unsittlichkeit", "Missbrauchs sozialer Medien" und anderer Vorwürfe gegen sie eingeleitet. Zwei Bekannte der Zeug_innen wurden ebenfalls festgenommen und wegen "Ausschweifung" angeklagt – ein Vorwurf, der in Ägypten häufig erhoben wird, um gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen strafrechtlich zu verfolgen. Die beiden Männer wurden unter Zwang einer analen Untersuchung unterzogen, was dem Tatbestand der Folter entspricht. Die Anklage gegen alle sechs Personen stützte sich vor allem auf private Videos und Fotos intimer Natur.

Eine am 5. September 2020 erfolgte Änderung der Strafprozessordnung untersagte der Staatsanwaltschaft und der Polizei, die Identität von Überlebenden sexualisierter Gewalt preiszugeben. Die Änderung sah jedoch keine Strafen für Verstöße gegen die Schweigepflicht vor und umfasste auch keine Bestimmungen, um Zeug_innen und andere Personen, die sexualisierte Gewalt anzeigten, zu schützen.

Ab April verschärften die Behörden ihr hartes Vorgehen gegen Influencerinnen, denen sie wegen ihrer Kleidung, ihres Verhaltens und der Tatsache, dass sie mit Apps wie TikTok Geld verdienten, Moralverstöße vorwarfen. Mindestens neun Frauen wurden wegen "Unsittlichkeit" und "Verletzung familiärer Prinzipien und Werte" strafrechtlich verfolgt. Mindestens sechs Frauen wurden zu Haftstrafen zwischen zwei und sechs Jahren verurteilt.

Rechte von Arbeitnehmer_innen

Zehntausende Beschäftigte in der Privatwirtschaft wurden nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie entlassen, gezwungen, Lohnkürzungen zu akzeptieren, ohne Schutzausrüstung zu arbeiten oder unbefristeten, unbezahlten Urlaub zu nehmen. Die Behörden gewährten Arbeitnehmer_innen, die aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise ihren Lebensunterhalt verloren, keine Arbeitslosenunterstützung oder andere Sozialleistungen.

Die Behörden nahmen zahlreiche Beschäftigte und Gewerkschafter_innen willkürlich fest, nur weil sie ihr Recht, zu streiken und friedlich zu protestieren, wahrgenommen hatten.

Im September inhaftierten die Sicherheitskräfte mindestens 41 Beschäftigte eines staatlichen Textilunternehmens in der Stadt Shebin al-Kom, die mit einer Demonstration die Auszahlung ihrer ausstehenden Löhne eingefordert hatten. Alle kamen zehn Tage später wieder frei.

Das Kassationsgericht, Ägyptens oberstes Berufungsgericht, billigte im Juni, dass Beschäftigte staatlicher Unternehmen entlassen werden können, wenn sie im Zusammenhang mit Protesten verurteilt wurden, selbst dann, wenn höhere Instanzen sie freisprachen.

Recht auf Wohnen – rechtswidrige Zwangsräumungen

Die Behörden räumten informelle Siedlungen mit Gewalt und nahmen zahlreiche Menschen willkürlich fest, die gegen den drohenden Abriss ihrer Häuser protestierten. Am 18. Juli 2020 lösten Sicherheitskräfte eine Protestaktion der Bewohner_innen von Ma'awa el-Sayadeen in Alexandria gegen den Abriss ihrer Häuser gewaltsam auf. 65 Demonstrierende wurden festgenommen, mindestens 42 Männer waren bis zu fünf Monate lang inhaftiert, während man wegen "Teilnahme an nicht genehmigten Protesten" und "Angriff auf Staatsbedienstete" gegen sie ermittelte. Sie wurden später alle freigelassen.

Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit

Die Behörden diskriminierten Christ_innen weiterhin sowohl durch Gesetze als auch in der Praxis. Ihr Recht, Kirchen zu bauen, zu sanieren und zu erweitern, war nach wie vor durch ein Gesetz aus dem Jahr 2016 eingeschränkt, wonach dafür eine Genehmigung der Sicherheitsbehörden und anderer staatlicher Stellen erforderlich war. Nach Angaben der EIPR hatten die Behörden von insgesamt 5.540 Anträgen, die seit 2016 gestellt worden waren, weniger als 200 Kirchen eine vollständige rechtliche Genehmigung erteilt. 1.412 Anträge waren vorläufig und unter Auflagen genehmigt worden.

Atheist_innen und Angehörige religiöser Minderheiten wie Schiit_innen und Christ_innen wurden wegen Blasphemie oder "terroristischen" Straftaten strafrechtlich verfolgt und inhaftiert. Im Juni verurteilte ein Gericht zwei Schiiten zu einem Jahr Haft, weil sie ihren Glauben praktiziert hatten. Im August nahmen Sicherheitskräfte den koranistischen Schriftsteller und Blogger Reda Abdel-Rahman fest und ließen ihn für 22 Tage verschwinden, offenbar als Vergeltung für religiöse und politische Schriften eines Verwandten von ihm, der im Exil lebte. Ende 2020 befand sich Reda Abdel-Rahman noch immer in Untersuchungshaft.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen

Geflüchtete und Migrant_innen wurden weiterhin willkürlich festgenommen und inhaftiert. Von Januar bis September nahmen die Sicherheitskräfte im Süden des Landes mindestens 14 Personen aus Syrien, 29 aus dem Sudan und eine Person aus Guinea fest, die nach Ägypten eingereist waren oder sich dort aufhielten, ohne gültige Papiere vorweisen zu können, und inhaftierten sie in Polizeistationen.

Im November lösten die Sicherheitskräfte zwei friedliche Proteste sudanesischer Geflüchteter und Migrant_innen gewaltsam auf, die auf die Straße gegangen waren, nachdem ein sudanesischer Junge getötet worden war. Die Sicherheitskräfte nahmen zahlreiche Protestierende fest, schlugen sie, überzogen sie mit rassistischen Beleidigungen und misshandelten sie in anderer Weise.

Verknüpfte Dokumente