Amnesty International Report 2020/21; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Turkei 2020

Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020

Amtliche Bezeichnung

Republik Türkei

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF_IN

Recep Tayyip Erdoğan

Stand:

1/2021

Die türkische Justiz missachtete auch 2020 internationale Standards für faire Gerichtsverfahren und nutzte weit gefasste Antiterrorgesetze, um Handlungen zu bestrafen, die durch internationale Menschenrechtsnormen geschützt sind. Mehrere Richter_innen und Anwält_innen wurden sanktioniert, obwohl sie lediglich ihre legitimen beruflichen Pflichten ausübten. Wie in den Vorjahren schikanierten die Justizbehörden zahlreiche Journalist_innen, Politiker_innen, Aktivist_innen, Nutzer_innen sozialer Medien und Menschenrechtsverteidiger_innen wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen oppositionellen Haltung. Der Amnesty-Ehrenvorsitzende Taner Kılıç und drei weitere Menschenrechtsverteidiger_innen wurden im sogenannten Büyükada-Prozess schuldig gesprochen. Der Kulturförderer Osman Kavala blieb in Haft, obwohl er im sogenannten Gezi-Prozess freigesprochen wurde und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seine sofortige Freilassung angeordnet hatte. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und mehrere Regierungsmitglieder bekräftigten homofeindlichen Aussagen eines hochrangigen Staatsbeamten. Die Regierungspartei drohte mit einem Austritt aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). Gesetzliche Änderungen, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie eingeführt wurden, schlossen die vorzeitige Haftentlassung von Personen aus, die auf der Grundlage von Antiterrorgesetzen ungerechtfertigt verurteilt worden waren oder in Untersuchungshaft saßen. Es gab erneut glaubwürdige Berichte über Folter und andere Misshandlungen.

Hintergrund

Im Februar 2020 startete die Türkei die Militäroffensive "Frühlingsschild" gegen syrische Regierungstruppen, nachdem in der nordsyrischen Provinz Idlib 33 türkische Soldaten bei syrischen Luftangriffen getötet worden waren (siehe Länderbericht Syrien). Zeitgleich erklärte die türkische Regierung, sie habe ihre Grenzen zur Europäischen Union geöffnet, und förderte und unterstützte den Transport Tausender Asylsuchender und Migrant_innen an die Landgrenze zu Griechenland. Die griechische Seite reagierte darauf mit gewaltsamen Push-Backs, bei denen mindestens drei Menschen ums Leben kamen. Im April nutzte die türkische Regierung die Corona-Krise, um noch stärker gegen die Opposition vorzugehen. Sie verbot mehrere kommunale Spendenkampagnen der Opposition und leitete Ermittlungen gegen die Bürgermeister von Istanbul und Ankara ein, die Spenden für Pandemie-Opfer sammeln wollten.

Aufgrund der Pandemie verhängte das Gesundheitsministerium im März und Oktober 2020 ein Kündigungsverbot für Beschäftigte im Gesundheitswesen. Die Maßnahme galt zunächst für drei Monate, wurde dann aber auf unbestimmte Zeit verlängert.

Im November und Dezember 2020 wurden Facebook, Twitter, Instagram und andere Internetunternehmen zu Geldstrafen von jeweils 40 Mio. Türkischen Lira (mehr als 4 Mio. Euro) verurteilt, weil sie gegen das geänderte Gesetz über Soziale Medien verstoßen hatten. Es verpflichtet die Unternehmen, sich in der Türkei durch eine Person mit türkischer Staatsbürgerschaft oder durch eine juristische Person vertreten zu lassen. Unternehmen, die den gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachkamen, mussten mit weiteren Sanktionen rechnen, unter anderem mit einer Bandbreitenreduzierung, was bedeuten würde, dass ihre Dienste nicht mehr verfügbar wären. Im Dezember kündigte YouTube an, eine juristische Person in der Türkei zu installieren.

Staatliche Einflussnahme – Justiz und Anwaltschaft

Gegen drei Richter, die am 18. Februar 2020 im Gezi-Prozess den Bürgerrechtler Osman Kavala und weitere Angeklagte freisprachen, leitete der Rat der Richter und Staatsanwälte eine Disziplinaruntersuchung ein. Die Untersuchung, die Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen war, erfolgte, nachdem Präsident Erdoğan den Freispruch öffentlich kritisiert hatte.

Im Juli 2020 verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Neuregelung der Anwaltskammern. Tausende Anwält_innen protestierten dagegen, und 78 von 80 Anwaltskammern unterzeichneten eine Erklärung gegen die Reform. Das neue Gesetz schwächt die Autorität und die Unabhängigkeit der Kammern.

Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Rechtsbeistände, deren Mandant_innen wegen "terroristischer" Straftaten angeklagt waren, gingen weiter.

Im September 2020 nahm die Polizei 47 Rechtsbeistände fest, denen sie allein wegen ihrer beruflichen Tätigkeit "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" zur Last legte. Mindestens 15 von ihnen kamen in Untersuchungshaft. Ebenfalls im September bestätigte das Oberste Berufungsgericht die Haftstrafen, die gegen 14 Anwält_innen der Progressiven Anwaltsvereinigung auf der Grundlage von Antiterrorgesetzen verhängt worden waren.

Unterdrückung Andersdenkender

Auch 2020 wurden strafrechtliche Ermittlungen und Verfolgungsmaßnahmen auf der Grundlage von Antiterrorgesetzen sowie Untersuchungshaft, die den Charakter einer vorgezogenen Strafe hatte, eingesetzt, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen, gegen die kein Nachweis für strafbare Handlungen vorlag.

Unter dem Vorwand, "Falschmeldungen", "Aufwiegelung" oder "Verbreitung von Angst und Panik" zu bekämpfen, gingen die Behörden strafrechtlich gegen Personen vor, die im Internet über die Corona-Pandemie diskutierten. Die für Internetkriminalität zuständige Abteilung des Innenministeriums erklärte, 1.105 Nutzer_innen Sozialer Medien hätten vom 11. März bis zum 21. Mai "Propaganda für eine terroristische Organisation" betrieben, unter anderem dadurch, dass sie "provokative Kommentare zu Corona" weitergeleitet hätten. Berichten zufolge wurden 510 von ihnen festgenommen, um sie zu verhören.

Im Oktober 2020 griff Präsident Erdoğan den türkischen Ärzteverband (Türk Tabipleri Birliği –TTB) an und nannte dessen neue Vorsitzende eine "Terroristin", nachdem der TTB die Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie wiederholt kritisiert hatte.

Als sich die Pandemie im April im Land ausbreitete, änderte die Regierung das Gesetz über den Strafvollzug und ermöglichte die vorzeitige Entlassung von bis zu 90.000 Gefangenen. Ausdrücklich ausgenommen waren Untersuchungshäftlinge und Gefangene, die nach den Antiterrorgesetzen verurteilt worden waren.

Die Behörden missbrauchten weiterhin Ermittlungsverfahren und Strafverfolgungsmaßnahmen, um gezielt gegen Abgeordnete und Mitglieder von Oppositionsparteien vorzugehen. Im Juni bestätigte ein Istanbuler Berufungsgericht die Verurteilung von Canan Kaftancıoğlu, der Istanbuler Vorsitzenden der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zu neun Jahren und acht Monaten Haft wegen Präsidentenbeleidigung, Beamtenbeleidigung, Volksverhetzung und Terrorpropaganda. Das Urteil bezog sich auf Tweets, die sie sieben Jahre zuvor geteilt hatte. Der Fall war Ende des Jahres vor dem Obersten Berufungsgericht anhängig.

Im September wurden 20 ehemalige und derzeitige Mitglieder der pro-kurdischen Partei HDP (Demokratische Partei der Völker), darunter der Bürgermeister der Stadt Kars, Ayhan Bilgen, wegen ihrer angeblichen Rolle bei gewaltsamen Protesten im Oktober 2014 in Untersuchungshaft genommen. Die Anschuldigungen bezogen sich größtenteils auf Tweets des offiziellen Twitter-Kontos der HDP aus dieser Zeit. Nachdem Ayhan Bilgen in Untersuchungshaft genommen worden war, setzte das Innenministerium am 2. Oktober den Gouverneur der Provinz Kars treuhänderisch als Bürgermeister von Kars ein. Die ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, befinden sich seit 2016 in Haft. Ende des Jahres wurde beim erstinstanzlichen Gericht eine neue Anklageschrift eingereicht, nur wenige Tage nachdem die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die sofortige Freilassung von Selahattin Demirtaş gefordert hatte, da seine Rechte auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Sicherheit, freie Wahlen und darauf, nicht missbräuchlich in seinen Rechten beschnitten zu werden, verletzt worden seien.

Im Dezember 2020 verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz, das vermeintlich dazu dient, die Finanzierung und Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu unterbinden, jedoch schwerwiegende Folgen für zivilgesellschaftliche Organisationen mit sich bringt. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass Personen, die auf der Grundlage von Antiterrorgesetzen strafrechtlich verfolgt werden, aus den Vorständen von NGOs entfernt und durch Treuhänder ersetzt werden können, die von der Regierung bestimmt werden.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Noch immer saßen zahlreiche Journalist_innen und andere Medienschaffende in Untersuchungshaft oder verbüßten Gefängnisstrafen. In einigen Fällen wurde ihre legitime journalistische Arbeit als "Beweis" für eine Straftat herangezogen, um auf der Grundlage von Antiterrorgesetzen Strafverfahren gegen sie einzuleiten oder sie zu langjährigen Haftstrafen zu verurteilen.

Im März 2020 inhaftierte die Polizei mindestens zwölf Journalist_innen wegen ihrer Berichterstattung über die Corona-Pandemie, darunter die Journalistin und Menschenrechtsverteidigerin Nurcan Baysal, der man wegen ihren Kommentaren in den Sozialen Medien "Anstiftung zu Feindschaft und Hass" zur Last legte. Sechs Journalisten wurden inhaftiert, weil sie über die Beerdigung zweier mutmaßlicher Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes (MIT) berichtet hatten, die in Libyen getötet worden waren. Im Mai wurden die sechs Inhaftierten und ein weiterer Journalist wegen "Enthüllung der Identität von Geheimdienstmitarbeitern" angeklagt. Im September wurden fünf von ihnen wegen "Veröffentlichung von Geheimdienstinformationen" zu Haftstrafen verurteilt.

Die Journalisten Alptekin Dursunoğlu und Rawin Sterk Yıldız wurden im März wegen Beiträgen in den Sozialen Medien festgenommen. Nach ihrer ersten Gerichtsverhandlung im März bzw. September wurden sie auf freien Fuß gesetzt. Ihre Verfahren waren Ende 2020 noch anhängig.

Menschenrechtsverteidiger_innen

Dutzende Menschenrechtsverteidiger_innen waren wegen ihrer Arbeit strafrechtlichen Ermittlungen und Verfolgung ausgesetzt.

Im Juli 2020 endete der Büyükada-Prozess gegen elf Menschenrechtsverteidiger_innen mit der Verurteilung von Taner Kılıç zu sechs Jahren und drei Monaten Haft wegen "Mitgliedschaft in der Terrororganisation Fethullah Gülen". İdil Eser, Günal Kurşun und Özlem Dalkıran wurden wegen "wissentlicher und willentlicher Unterstützung der Terrororganisation Fethullah Gülen" zu zwei Jahren und einem Monat Haft verurteilt. Die übrigen sieben Angeklagten wurden freigesprochen. Am 1. Dezember bestätigte ein regionales Berufungsgericht die Urteile gegen die vier Menschenrechtsverteidiger_innen, die beim Obersten Berufungsgericht Rechtsmittel einlegten.

Im Gezi-Prozess wurden im Februar Osman Kavala und acht weitere Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft in allen Punkten freigesprochen. Ihnen war unter anderem vorgeworfen worden, sie hätten die Proteste im Gezi-Park 2013 angeführt und versucht, die Regierung zu stürzen. Nur wenige Stunden nach seiner Freilassung wurde Kavala jedoch unter anderen Anschuldigungen erneut festgenommen. Im Mai bestätigte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ihre Entscheidung vom Dezember 2019 und forderte die sofortige Freilassung Kavalas, da seine lange Untersuchungshaft unrechtmäßig sei und einen "anderen Zweck" verfolge, nämlich ihn zum Schweigen zu bringen und andere Menschenrechtsaktivist_innen abzuschrecken. Das Ministerkomitee des Europarats forderte die Türkei nach seinen Sitzungen im September und Oktober sowie in einer Zwischenresolution im Dezember auf, das Urteil des EGMR umzusetzen.

Im Oktober 2020 akzeptierte ein Istanbuler Gericht eine neue Anklageschrift gegen Osman Kavala und den US-Akademiker Henri Barkey, in der den beiden Männern trotz fehlender Beweise "versuchter Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung" und "Spionage" vorgeworfen wird. Im Dezember stellte die Generalversammlung des türkischen Verfassungsgerichts fest, Kavalas fortwährende Untersuchungshaft stelle keine Verletzung seiner Rechte dar. Ende 2020 war er immer noch im Gefängnis.

Im Januar 2020 beantragte die Istanbuler Staatsanwaltschaft im Hauptverfahren gegen die kurdische Tageszeitung Özgür Gündem die Verurteilung der Menschenrechtsanwältin Eren Keskin und anderer, die sich an einer Solidaritätskampagne beteiligt hatten. Im Februar wurden ihre Mitangeklagten Necmiye Alpay und Aslı Erdoğan in einem Zwischenurteil freigesprochen. Das Verfahren gegen Eren Keskin und drei weitere Angeklagte wurde fortgesetzt.

Im März wurde Raci Bilici, der ehemalige Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins İHD in Diyarbakır, wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Grund dafür war seine Menschenrechtsarbeit. Das Berufungsverfahren war Ende 2020 noch anhängig.

Nachdem die Forschergruppe Forensic Architecture im Jahr 2019 einen Bericht vorgelegt hatte, in der sie die Umstände rekonstruierte, unter denen der Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi im Jahr 2015 in Diyarbakır erschossen worden war, begann im Oktober der Prozess gegen drei Polizisten und ein mutmaßliches Mitglied der bewaffneten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Die Polizisten wurden wegen fahrlässiger Tötung angeklagt.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Im April 2020 machte der Leiter der staatlichen Religionsbehörde Diyanet Homosexualität und Ehebruch für die Ausbreitung von HIV/AIDS verantwortlich. In einer Freitagspredigt, die sich mit der Corona-Pandemie befasste, forderte er die Muslime auf, dieses "Übel" zu bekämpfen. Der türkische Präsident bezeichnete die Aussage des Religionsgelehrten als völlig richtig. Anwaltskammern, die Beschwerde gegen die Predigt einlegten, sahen sich mit strafrechtlichen Ermittlungen nach Paragraf 216/3 des Strafgesetzbuches konfrontiert, der die "Verletzung religiöser Gefühle" unter Strafe stellt.

Rechte von Frauen und Mädchen

Im Juli 2020 löste die Ermordung der 27-jährigen Studentin Pınar Gültekin im ganzen Land Proteste aus. Der Prozess gegen zwei Tatverdächtige dauerte Ende des Jahres noch an.

Im August gab es landesweite Demonstrationen, nachdem Politiker_innen der Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) vorgeschlagen hatten, aus der Istanbul-Konvention auszutreten. Frauenrechtsorganisationen kritisierten, das Übereinkommen werde nicht umgesetzt. So habe die häusliche Gewalt infolge der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zugenommen, ohne dass die Behörden darauf angemessen reagiert hätten. Nach Angaben des Innenministeriums wurden 2020 insgesamt 266 Frauen durch geschlechtsspezifische Gewalt getötet. Frauenorganisationen legten jedoch weitaus höhere Zahlen vor.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im März 2020 untersagten die Behörden zum zweiten Mal in Folge Demonstrationen zum Internationalen Frauentag in Istanbul. Eine Versammlung friedlich Demonstrierender, die sich dem Verbot widersetzt hatten, löste die Polizei mit Tränengas und Plastikgeschossen auf.

Im November 2020 begann der Prozess gegen sechs Frauen, die im Dezember 2019 an einem friedlichen Protest gegen Frauenmorde teilgenommen hatten, der auf einer Choreografie der chilenischen Frauengruppe Las Tesis beruhte. Ihnen wurde nach Artikel 32 des Gesetzes über Versammlungen und Demonstrationen zur Last gelegt, die Kundgebung nicht aufgelöst zu haben.

Im Juni 2020 entschied ein Verwaltungsgericht in Ankara, dass das Verbot der Pride-Parade von Studierenden auf dem Campus der Technischen Universität des Nahen Ostens (Orta Doğu Teknik Üniversitesi – ODTÜ) in Ankara im Mai 2019 rechtswidrig war. Am 10. Dezember wurde der Prozess gegen 18 Studierende und einen akademischen Mitarbeiter der ODTÜ, die an der Pride-Veranstaltung teilgenommen hatten, auf April 2021 verschoben.

Folter und andere Misshandlungen

Im September 2020 erlitten Osman Şiban und Servet Turgut schwere Verletzungen, als sie in der Provinz Van von einem großen Trupp Soldaten festgenommen und verprügelt wurden, wie Osman Şiban zu Protokoll gab. Servet Turgut starb am 30. September im Krankenhaus. Verlautbarungen des Büros des Gouverneurs von Van und des türkischen Innenministers standen im Widerspruch zu den Angaben von Augenzeug_innen und von Osman Şiban. Eine von der Staatsanwaltschaft in Van eingeleitete strafrechtliche Untersuchung zu den Foltervorwürfen unterlag der Geheimhaltung. Im Oktober nahmen die Sicherheitskräfte in Van vier Journalist_innen fest, die über den Fall berichtet hatten. Wegen der Nachrichtenagenturen, für die sie arbeiteten, bezichtigte man sie der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation", für die sie "gemäß der Perspektive und den Befehlen der PKK/KCK" zum Schaden des Staates über öffentliche Vorfälle berichteten.

Im Dezember verweigerte man dem Untersuchungshäftling Mehmet Sıddık Meşe im Gefängnis von Diyarbakır eine dringend notwendige ärztliche Behandlung und eine Untersuchung durch gerichtsmedizinisches Personal, nachdem er erklärt hatte, von Gefängniswärtern schwer geschlagen worden zu sein. Die Strafverfolgungsbehörden hatten bis zum Jahresende keine unabhängige Untersuchung der Vorwürfe eingeleitet.

Verschwindenlassen

Im Februar 2020 berichtete Gökhan Türkmen, einer von sieben Männern mit vermeintlichen Verbindungen zur Fethullah-Gülen-Bewegung, die 2019 dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren, vor Gericht über Folter und andere Misshandlungen, denen er während der 271 Tage seines Verschwindenlassens ausgesetzt war. Das Gericht forderte die Einleitung einer strafrechtlichen Untersuchung seiner Vorwürfe. Das Schicksal und der Verbleib von Yusuf Bilge Tunç, der im August 2019 verschwunden war, blieben bis zum Jahresende 2020 ungeklärt.

Rechte von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migrant_innen

Die Türkei war 2020 weiterhin das Land, das weltweit am meisten Geflüchteten beherbergte. Von den insgesamt rund 4 Mio. Geflüchteten stammten etwa 3,6 Mio. aus Syrien. Das 2016 abgeschlossene EU-Türkei-Abkommen, das Finanzhilfen der EU zur Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei vorsah und wonach das Land im Gegenzug die Migration kontrollieren und Rücknahmen von Asylsuchenden akzeptieren sollte, war nach wie vor in Kraft.

Nachdem die türkische Regierung am 27. Februar angekündigt hatte, sie werde die Grenzen zur EU öffnen, ermutigte und unterstützte sie Asylsuchende und Migrant_innen in unverantwortlicher Weise, sich zur griechischen Landesgrenze zu begeben, wo gewaltsame Push-Backs zu Toten und Verletzten führten (siehe Länderbericht Griechenland). Ende März holten die türkischen Behörden die Menschen wieder aus dem Grenzgebiet zurück.

Einem NGO-Bericht zufolge, der im Oktober veröffentlicht wurde, schoben die Behörden im Laufe des Jahres 2020 mehr als 16.000 Syrer_innen in ihr Heimatland ab. Eine Gruppe von Syrer_innen berichtete im Mai, man habe sie nach Syrien abgeschoben und genötigt, schriftlich zu bestätigen, dass die Rückkehr freiwillig erfolgt sei.

Bis September 2020 wurden nach UN-Angaben rund 6.000 Menschen aus der Türkei nach Afghanistan abgeschoben, obwohl die dortige Situation weiterhin keine sichere und würdige Rückkehr zuließ.

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