Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Obsorge: Reihenfolge nach Tod der Eltern, Kriterien, Verfahren zur Klärung, Sorgerecht und Vormundschaft in der rechtlichen und informellen Praxis [a-11457]

21.01.2021

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Inhaltsverzeichnis

Familienrecht in Afghanistan 

Sorgerecht     

Vormundschaft          

Sorgerecht und Vormundschaft in der rechtlichen und informellen Praxis  

Quellen:          

 

Familienrecht in Afghanistan

Die umfassendsten Regelungen zum afghanischen Familienrecht für die sunnitische Mehrheit sind im afghanischen Zivilgesetzbuch von 1977 festgelegt (Bergmann/Ferid/Heinrich, Stand: 31. Oktober 1990; Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Juli 2012, S. 13; Musawah, 2020, S. 2[1]; Qaane, 19. Jänner 2021[2]). Für die schiitische Minderheit in Afghanistan gilt seit 2009 das schiitische Personenstandsrecht (Musawah, 2020, S. 2). In der vorliegenden Anfragebeantwortung wird ausschließlich auf das afghanische Zivilgesetzbuch Bezug genommen.

Das afghanische Zivilgesetzbuch legt in Artikel 1 fest, dass in Fällen, in denen es keine gesetzlichen Regelungen gibt, die Gerichte nach den allgemeinen Grundsätzen der Hanafi-Jurisprudenz der islamischen Scharia entscheiden, um auf bestmögliche Weise Gerechtigkeit zu erreichen:

„In cases no provision of law exists, courts shall decide in accordance with general principles of Hanafi Jurisprudence of Islamic Sharia in order to secure justice in the best possible way.” (Zivilgesetzbuch der Republik Afghanistan, 5. Jänner 1977, inoffizielle englische Übersetzung von 2004, Artikel 1)

Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht führt in einem Handbuch zum afghanischen Familienrecht vom Juli 2012 an, dass die elterliche Obsorge ein Schutzverhältnis sei, das den Interessen des minderjährigen Kindes diene. Sie stelle ein Recht dar, an das sich Verpflichtungen knüpfen und das für alle gelte. Das Hauptaugenmerk liege auf der elterlichen Verantwortung und damit auf dem verpflichtenden Aspekt. Im islamischen Recht sei das elterliche Sorgerecht in drei Kategorien eingeteilt:

1. Sorgerecht (hedānat) beziehe sich auf die Betreuung eines Kleinkindes in seinen frühen Lebensjahren, wenn es von einer Frau betreut werden müsse. Diese Pflege werde von der Mutter oder einer anderen zu diesem Zweck beauftragten Frau übernommen;

2. Die Vormundschaft der Person (velāyat-e nafs) oder Vormundschaft der Erziehung (velāyat e tarbiyat) beziehe sich auf die Verpflichtung des gesetzlichen Vertreters, für Bildung, Erziehung, Entwicklung, Gesundheit und Sicherheit des Kindes zu sorgen. Der Vater des Kindes werde vor allen anderen als sein gesetzlicher Vertreter zum Vormund der Person ernannt;

3. Die Vormundschaft des Eigentums (velāyat-e amvāl) beziehe sich auf die Verpflichtung des gesetzlichen Vertreters, das Eigentum des Kindes zu verwalten. Auch hier sei zunächst der Vater als gesetzlicher Vertreter verpflichtet, das Vermögen des Kindes zu verwalten:

„Parental custody is a protective relationship serving the interests of the minor child and constitutes a right bound by obligations, which is valid with respect to everyone. The main focus is on parental responsibility and thus the obligatory aspect. In Islamic law, parental custody is divided into three categories:

1. Custody (hedānat) refers to the care for an infant in his/her early years of life when it needs to be looked after by a woman. This care is provided by the mother or by another woman assigned for this purpose;

2. Guardianship of person (velāyat-e nafs) or guardianship of education (velāyat-e tarbiyat) refers to the obligation of the legal guardian to provide for education, upbringing, development, health and security of the child. The father of the child as his/her legal guardian is appointed as the guardian of person prior to others;

3. Guardianship of property (velāyat-e amvāl) refers to the obligation of the legal guardian to administer the property of the child. Here, too, it is first of all the father as the legal guardian who is obliged to administer the property of the child.” (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Juli 2012, S. 103)

Sorgerecht

Artikel 236 des afghanischen Zivilgesetzbuchs definiert Sorgerecht („custody“) als die Pflege und Erziehung des Kindes während der Zeit, in der das Kind die Pflege und Erziehung einer Frau brauche:

„Custody is caring and nurturing of child during the period in which child needs care and nurture of woman.” (Zivilgesetzbuch der Republik Afghanistan, 5. Jänner 1977, inoffizielle englische Übersetzung von 2004, Artikel 236)

Dieses Sorgerecht gilt laut afghanischem Zivilgesetzbuch für Söhne bis zum Alter von sieben Jahren und für Töchter bis zum Alter von neun Jahren. Ein zuständiges Gericht kann die Dauer des Sorgerechts um maximal zwei Jahre verlängern (Zivilgesetzbuch der Republik Afghanistan, 5. Jänner 1977, inoffizielle englische Übersetzung von 2004, 5. Jänner 1977, Artikel 249-250). Aufgrund des vorrangigen Sorgerechts der Mutter hätten bei deren Tod oder wenn die Mutter nicht in der Lage sei, für das Kind zu sorgen, ihre Verwandten Vorrang vor den Verwandten des Ehemanns im Hinblick auf das Sorgerecht (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Juli 2012, S. 104). Artikel 239 des afghanischen Zivilgesetzbuchs legt die Reihenfolge des Grades der Berechtigung zum Sorgerecht wie folgt fest:

1.      Mutter, Mutter der Mutter oder höher in dieser Reihe

2.      Mutter des Vaters

3.      Schwester

4.      Halbschwester des Kindes, die dieselbe Mutter aber einen anderen Vater hat

5.      Halbschwester des Kindes, die denselben Vater aber eine andere Mutter hat

6.      Tochter der Schwester

7.      Tochter der Halbschwester des Kindes, die dieselbe Mutter aber einen anderen Vater hat

8.      Tochter der Halbschwester des Kindes, die denselben Vater aber eine andere Mutter hat

9.      Schwester der Mutter

10.  Halbschwester der Mutter, die dieselbe Mutter aber einen anderen Vater hat

11.  Halbschwester der Mutter, die denselben Vater aber eine andere Mutter hat

12.  Schwester der Mutter des Vaters

13.  Halbschwester der Mutter des Vaters, die dieselbe Mutter aber einen anderen Vater als die Mutter des Vaters hat

14.  Halbschwester der Mutter des Vaters, die denselben Vater aber eine andere Mutter als die Mutter des Vaters hat

15.  Schwester des Vaters der Mutter

16.  Schwester des Vaters des Vaters

 (Zivilgesetzbuch der Republik Afghanistan, 5. Jänner 1977, inoffizielle englische Übersetzung von 2004, Artikel 239)

Wenn es keine weiblichen Verwandten aus dieser Aufzählung gibt oder diese nicht den Voraussetzungen für das Sorgerecht entsprechen, werden in den Artikeln 240 – 241 weitere Sorgeberechtigte geregelt (Zivilgesetzbuch der Republik Afghanistan, 5. Jänner 1977, inoffizielle englische Übersetzung von 2004, Artikel 240 – 241).

Die Voraussetzungen, die eine Frau vorweisen muss, um das Sorgerecht übernehmen zu können werden in Artikel 238 angeführt: eine Frau, die das Sorgerecht für ein Kind übernimmt muss zurechnungsfähig („sane“), reif und vertrauenswürdig sein, so dass keine Angst besteht, das Kind durch ihre Unvorsichtigkeit zu verlieren. Sie muss die Fähigkeit haben, das Kind zu pflegen und zu erziehen:

„Woman who takes custody of child must be sane, mature, and trustworthy so that no fear of losing the child due to her recklessness exists. She must have the ability to care and nurture the child.“ (Zivilgesetzbuch der Republik Afghanistan, 5. Jänner 1977, inoffizielle englische Übersetzung von 2004, Artikel 238).

Ehsan Qaane, Jurist und Referent für Recht und Politik des Afghanistan Analysts Network, einer regierungsunabhängigen, gemeinnützigen Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, erteilte ACCORD am 19. Jänner 2021 in einem Email Auskunft zu Fragestellungen des Sorgerechts und der Vormundschaft in Afghanistan, wofür er sich laut seinen Angaben auch mit einem Anwalt beraten habe. In dieser Email-Auskunft beschreibt Ehsan Qaane die Voraussetzungen, die für das Sorgerecht bestehen müssen: das Sorgerecht gehe an weibliche Verwandte. Die das Sorgerecht übernehmende Frau solle mental dafür geeignet, über 18 Jahre alt und moralisch einwandfrei seien, und außerdem über die physischen und ökonomischen Voraussetzungen verfügen, sich um das Kind zu kümmern:

„The right of guardianship goes to female relatives. However, the guardian should be mentally fine and legally over 18, and morally be trusted, and economically and physically be able to take care of the child.” (Qaane, 19. Jänner 2021)

Die Kosten für die Obsorge (remuneration of custody”) hat der Vater des Kindes zu tragen, außer das Kind besitzt Eigentum, dann werden die Kosten für die Obsorge davon bezahlt, außer wenn der Vater sie trotzdem übernimmt (Zivilgesetzbuch der Republik Afghanistan, 5. Jänner 1977, inoffizielle englische Übersetzung von 2004, Artikel 244).

Vormundschaft

Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht gibt weiters an, dass die Vormundschaft einer Person im afghanischen Zivilgesetzbuch nicht ausdrücklich geregelt sei. Allerdings seien sich alle islamischen Rechtsschulen einig, dass der Vater verpflichtet sei, für Bildung, Erziehung, Entwicklung, Gesundheit und Sicherheit des minderjährigen Kindes zu sorgen. Diese Betreuung durch den Vater werde als Vormundschaft der Person bezeichnet. Wenn das Sorgerecht der Mutter ende, beginne die Phase der Vormundschaft der Person durch den gesetzlichen Vormund.

Das Recht des Vaters auf Vormundschaft sei im afghanischen Recht nicht verankert. Dieser Vorrang könne aus Artikel 71 Absatz 1 ZGB, der die Vormundschaft bei der Eheschließung eines Mädchens zwischen 15 und 16 Jahren betreffe, geschlossen werden. Außerdem seien im Abschnitt über die Verwaltung des Vermögens eines Kindes mit eingeschränkter Rechtsfähigkeit die Personen angeführt, die für die Vormundschaft des Vermögens in Frage kämen. Es sei umstritten, ob diese Bestimmungen auch auf die Vormundschaft einer Person angewendet werden können und ob die Hierarchie der Personen, die befugt seien, das Vermögen eines Kindes mit eingeschränkter Rechtsfähigkeit zu verwalten, auch auf die Vormundschaft eines Kindes angewandt werden könne. Da das Gesetz jedoch die Vormundschaft für das Vermögen eines Kindes mit eingeschränkter Rechtsfähigkeit ausdrücklich regle und zur Frage der Vormundschaft der Person schweige, erscheine es sinnvoller, von einer Gesetzeslücke zu sprechen. Mangels einer Rechtsvorschrift könnten nach Artikel 1 Absatz 2 ZGB die allgemeinen Grundsätze der hanafitischen Rechtsschule als Auslegungsmittel herangezogen werden, nach denen der Vater als Vormund eines Kindes mit eingeschränkter Rechtsfähigkeit noch vor allen anderen Personen bestimmt werde. Wenn der Vater tot oder für die Vormundschaft der Person ungeeignet sei, stelle sich die Frage, wer sonst noch das Recht habe, die Vormundschaft der Person an seiner Stelle auszuüben. Nach den allgemeinen Grundsätzen der hanafitischen Rechtsschule werde die Vormundschaft einer Person nach dem Tod des Vaters auf ihren väterlichen Großvater übertragen. Sei auch der Großvater nicht mehr am Leben, werde die Vormundschaft der Person dem nächsten väterlichen männlichen Verwandten nach der gesetzlichen Erbfolge übertragen. Die Hierarchie dieser so genannten agnatischen (d.h. in väterlicher Linie verwandten) Erben, die nach den allgemeinen Grundsätzen der hanafitischen Rechtsschule nach dem Tod des Vaters und des Großvaters väterlicherseits zur Ausübung der Vormundschaft berechtigt seien, ist bereits im Abschnitt über die sorgeberechtigten Personen beschrieben worden. Wenn es keine agnatischen Erben gebe, die für die Vormundschaft der Person geeignet seien, werde die Vormundschaft auf die weiblichen Verwandten übertragen, die zu den im Koran erwähnten Erben („quranic heirs“) gehören. Zu diesen Personen würden die Mutter gefolgt von der Großmutter väterlicherseits und schließlich der Großmutter mütterlicherseits gehören. Falls diese Personen nicht zur Vormundschaft berechtigt seien, werde sie dem Großvater mütterlicherseits erteilt. Wenn der Großvater mütterlicherseits tot sei, würden die Schwester und ihre Kinder und schließlich die Tanten väterlicherseits und mütterlicherseits und ihre Kinder für die Vormundschaft in Betracht gezogen. Für Personen, die keinen gesetzlichen Vormund hätten, sehe Artikel 78 ZGB vor, dass der Richter der gesetzliche Vormund sei.

Gemäß Artikel 42 ZGB ende die Vormundschaft der Person mit dem Erreichen der Volljährigkeit. Dieser Artikel befasse sich mit der Vormundschaft von nicht rechtsfähigen Personen oder Personen mit eingeschränkter Rechtsfähigkeit. Die volle Rechtsfähigkeit beginne mit Vollendung des 18. Lebensjahres nach Artikel 39 ZGB, sofern die Person zurechnungsfähig („sane“) sei:

„[G]uardianship of person is not specifically regulated in the Civil Code of Afghanistan. However, all schools of Islamic law agree that the father is obliged to provide for education, upbringing, development, health and security of the minor child. This care by the father is called guardianship of person. When the custody of the mother ends, the phase of guardianship of person by the legal guardian begins.

The father’s right to exercise guardianship of person is not laid down in Afghan law. This priority can be concluded from the Article 71(1) CC regarding guardianship in marriage of a girl aged between 15 and 16. Moreover, in the section on the administration of property of a child of limited capacity of execution, the persons eligible for guardianship of property are listed. It is debatable whether these provisions can also be applied to the guardianship of person and whether the hierarchy of the persons authorised to administer the property of a child of limited capacity of execution can be applied to a child’s guardianship of person as well. However, as the law explicitly regulates the guardianship of property of a child of limited capacity of execution and is silent on the issue of guardianship of person, it seems more reasonable to speak of a legal loophole. In the absence of a legal provision, according to Article 1(2) CC the general principles of Hanafi law can be referred to as a means of interpretation, under which the father will be assigned as the guardian of person of a child with limited capacity of execution prior to anyone else. If the father is dead or unapt for guardianship of person, the question arises as to who else will be entitled to exercise guardianship of person in his place. According to the general principles of Hanafi law, after the death of the father the guardianship of a person is transferred to his paternal grandfather. If the grandfather is dead as well, the guardianship of person will be granted to the next paternal male relative according to the legal order of succession. The hierarchy of those so-called agnatic heirs, who, in accordance with the general principles of Hanafi law, are entitled to exercise the guardianship of person after the demise of the father and the paternal grandfather, has already been described in the section on the persons entitled to custody. If there are no agnatic heirs suitable for guardianship of person, the guardianship will be transferred to those female relatives who are classed among the quranic heirs. These persons include the mother, followed by the paternal grandmother and finally the maternal grandmother. In case these people fail to be eligible for guardianship, it will be granted to the maternal grandfather. If the maternal grandfather is dead, the sister and her children and finally the paternal and maternal aunts and their children will be considered for the guardianship. With regard to those persons who do not have any legal guardian of person, Article 78 CC provides that the judge will be the legal guardian. […]

Under Article 42 CC, the guardianship of a person ends when the child reaches the age of majority. This article deals with the guardianship of legally incapable persons or those with limited capacity of execution. Full capacity of execution begins with the completion of 18 years of age under Article 39 CC, provided the person is sane.” (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Juli 2012, S. 106‑107)

Sorgerecht und Vormundschaft in der rechtlichen und informellen Praxis

In der bereits oben zitierten Email-Auskunft von Ehsan Qaane vom Jänner 2021 schreibt dieser, dass die Verantwortlichkeit für das Sorgerecht in entsprechender Reihenfolge – erst die Mutter, gefolgt von der Mutter der Mutter (und weiter entsprechend der oben angegebenen Reihenfolge) – ein sehr gut etablierter Grundsatz der hanafitischen Jurisprudenz und des afghanischen Zivilrechts sei. Es sei daher nicht notwendig, dass ein Gericht darüber entscheide. Natürlich könne es aber zu Konflikten über die Verantwortlichkeiten kommen, wenn beispielsweise die Rechte der Mutter angefochten würden. Der Anspruch auf das Sorgerecht („guardianship“) erfordere aber keinen formalen Akt. Wenn es zu Konflikten komme, könne es sein, dass ein Gericht oder ein Ältestenrat interveniere. Eine Intervention durch einen Ältestenrat sei aber nicht gesetzlich legitimiert:

Based on article 237 and 239 mother has the right to take custody over her child (if the child is a girl up to complete end of 9-year, if the child is a boy up to complete end of 7-year. […] If mother is not alive, mother of mother has the right. If she is not alive, mother of father has the right. If she is not alive, sister has the right (The row is lengthy. You may find the others in article 239 and 241 of Civil Code). […] This is a very well established principle in Hanafi Jurisprudence of Islam and Afghan civil law, therefore there is no need a court decide on it. Of course, in emerging of conflict, in particular if for example mother believes she has all the legal conditions said in law but others in queue challenge her. […] In cases, mentioned [above], claiming guardianship does not require formal procedure. Respectively, female close relatives as listed in article 239 and 241 has the right of custody over a child. Only in case of solving dispute between candidates, a civil court may intervene. A council of elders may also solve the dispute, though it is not support by laws.” (Qaane, 19. Jänner 2021)

Qaane schildert in der schriftlichen Auskunft vom Jänner 2021 weiters, dass ein Kind, das älter als sieben (Bub) oder neun (Mädchen) Jahre sei, das Recht habe zu entscheiden, wo es leben möchte. Wenn es zu Konflikten mit einem selbsternannten Vormund komme, würde das Gericht die finale Entscheidung basierend auf der Bereitschaft des Kindes und den Voraussetzungen der KandidatInnen auf eine Weise treffen, die den Interessen des Kindes am besten entspreche:

„A child older than the aforementioned ages, has the right to decide with whom s/he wants to stay. If there is any disputes between self-claimed guardian, then a court will make the final decision based on willingness of the child and conditions of candidates in a way that the interest of the child be secured the best.” (Qaane, 19. Jänner 2021)

Auf die Frage, ob es in der Praxis üblich oder möglich sei, dass ein Familienmitglied, zum Beispiel die ältere, verheiratete Schwester, die Vormundschaft für einen verwaisten Teenager übernehme, ohne dass dies formell geklärt werde, antwortet Qaane, dass dies so sei. Auf die weitere Frage ob es aus rechtlicher oder religiöser Sicht für eine erwachsene, verheiratete Schwester möglich sei die Vormundschaft für einen Teenager zu übernehmen, auch wenn es andere Verwandte gebe, die in der Reihenfolge der Zuständigkeit vor ihr stünden, antwortete Qaane, dass es in diesem Fall aus rechtlicher Sicht die Zustimmung derer, die in der Reihenfolge davor stünden, brauche. Ansonsten könne dies rechtlich vor Gericht beeinsprucht werden. Auch solle die Schwester in diesem Fall in der Lage sein darzulegen, dass sie und ihr Mann die Interessen des Kindes besser wahrnehmen könnten, als die, welche in der Reihenfolge vor ihnen stehen:

Is it - in practice - common or possible for a family member (e.g. the adult married sister) to take over custody of an orphaned teenager without this being formally determined (e.g. by a court)?

Yes.

Would it be possible from a legal and/or religious perspective for an adult married sister to take over custody of her teenage brother even if another relative exists, who would legally or according to Islamic tradition be first in line to take over this responsibility? Would this be generally accepted?

Legally talking, this required to take the consent of those who are first in line, or their ability being legally challenged in front of court. The sister should also prove that she and her husband can provide the interests of the child better than others first in line.” (Qaane, 19. Jänner 2021)

Die Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl bezieht sich in einer Anfragebeantwortung zur gesetzlichen Vertretung von Minderjährigen und der Übertragung der Sorgepflicht vom Juli 2018 auf die englischsprachige Email-Auskunft eines Anwalts in Kabul vom 15. Juli 2018. In Bezug auf die formelle Regelung vor Gericht bzw. die gängige Praxis lautet die Auskunft des Anwalts in der Übersetzung wie folgt:

„Wenn eine Person von Vormundschaft oder Unterhaltspflicht aus verschiedenen Gründen entbunden wird (Tod, Abwesenheit oder Unfähigkeit), wird die nächstrangige Person, die für die Vormundschaft bzw. Unterhaltspflicht qualifiziert ist, nominiert.

In der Praxis werden formelle Regelungen zur Übertragung der Vormundschaft oder Sorgepflicht selten eingehalten. Falls es Streitigkeiten gibt und der Fall einem Gericht übertragen wird, ist es verpflichtet, die formellen Regelungen zur Übertragung der Vormundschaft oder Sorgepflicht einzuhalten.

Es ist möglich, die Sorgepflicht oder die Vormundschaft von den Eltern auf andere Verwandte gemäß […] Rangordnung zu übertragen, jedoch verbleibt in allen Fällen die Unterhaltsverpflichtung beim Vater, unabhängig davon, ob er emigriert ist oder die Familie verlässt.

Formalitäten, um die Vormundschaft zu übertragen, sind die Antragstellung an das Civil Department des Justizministeriums. Der Fall wird einem Gericht übertragen, das daraufhin eine Entscheidung fällt.

In der Praxis erfolgt die Übertragung der Vormundschaft in vielen Fällen informell und ohne Rücksicht auf die o.a. Rangordnung. In den meisten Fällen übernimmt ein großzügiger Angehöriger – unabhängig seines Standes in der Rangordnung – die Fürsorge für das Kind. Nur wenn es zu formellen Disputen oder Rechtsstreitigkeiten kommt, geht die Sache an ein Gericht.“ (BFA, 18. Juli 2018, S. 4)

Der von der BFA Staatendokumentation befragte Anwalt aus Kabul merkt in seiner Email-Auskunft vom Juli 2018 zudem an, dass das afghanische Zivilgesetzbuch das Thema Vormundschaft von Kindern als rechtliches Konzept und nicht bezogen auf den Verantwortungsaspekt verstehe. Deshalb könne die Vormundschaft leicht von den Eltern auf andere Personen in der obengenannten Abfolge übertragen werden. Auch das Gericht könne die Vormundschaft auf Personen in der obengenannten Abfolge übertragen, selbst wenn die Eltern noch am Leben seien, aber aufgrund von oben genannten Gründen nicht berechtigt seien, die Vormundschaft zu übernehmen. In jedem Fall sei der Vater aber für den Unterhalt verantwortlich:

„Note: The Afghanistan Civil Code has a ‘right approach’ to the guardianship of the child, and don’t have a ‘responsibility approach’ to it, so it can be easily transferred from parents to other people in the row, and court can transfer the guardianship to other people in the row as well, even if they are alive, off course if the parents are not entitled to have the guardianship due to some reasons which are mentioned above, but in all circumstance child support (covering financial costs) are responsibility of father.” (BFA, 18. Juli 2018, S. 8)

Die schwedische Einwanderungsbehörde (Migrationsverket) schreibt in der englischen Zusammenfassung ihres Berichts zum Sorgerecht in Afghanistan im Juni 2018, dass das Familienrecht in Afghanistan auf einer Vielzahl an Rechtsquellen wie dem Zivilgesetzbuch (1977), dem schiitischen Personenstandsgesetz (2009), dem islamischen Recht sowie dem lokalen Gewohnheitsrecht basiere. Die Gerichte seien verpflichtet, zunächst das gesatzte Recht anzuwenden, und wenn keine Bestimmungen in diesen Gesetzen gefunden würden, könnten sie den Prinzipien des islamischen Rechts folgen. In Fällen, in denen nach wie vor ein Rechtsvakuum bestehe, könnten die Gerichte auf die Anwendung des örtlichen Gewohnheitsrechts zurückgreifen. Trotz dieser Bestimmungen würden afghanische JuristInnen in Familienangelegenheiten häufig von Beginn an dem Gewohnheitsrecht folgen. Angelegenheiten, die die Vormundschaft von Kindern betreffen, seien sowohl im Zivilgesetzbuch als auch im schiitischen Personenstandsgesetz geregelt. Die Regelungen in den Gesetzbüchern würden in erster Linie auf dem islamischen Recht basieren, wobei der Vater als natürlicher Vormund eines Kindes angegeben sei, während die Mutter das Recht und die Verantwortung für das Sorgerecht und damit die tägliche Betreuung von Kleinkindern (Töchter bis zum Alter von neun Jahren und Söhne bis zum Alter von sieben Jahren) habe. Es sei jedoch üblich, dass die gesetzlichen Rechte von Frauen in Familienangelegenheiten in der afghanischen Gesellschaft aufgrund der anhaltenden kulturellen Anschauung und der stark patriarchalen Gesellschaftsordnung nicht beachtet würden:

„Family Law in Afghanistan is derived from a plurality of legal sources such as the Civil Code (1977); the Shiite Personal Status Law - SPSL (2009); Islamic law as well as local customary law. The courts are required to first apply statutory laws, and when no provisions are found in these laws they may follow the principles of Islamic law. If there is still a legal vacuum, courts may resort to the application of local customary law. Despite this, Afghan legal practitioners often follow customary law at first hand in family matters. Matters regarding guardianship of children are regulated in the Civil Code as well as in the SPSL. The regulations in the codes are primarily based on Islamic law with the father stated as the natural legal guardian of a child, while the mother has the right and responsibility of custody, and thus daily care of small children (daughters until the age of nine and sons until the age of seven). It is however common that the legal rights of women in family matters are not observed in the Afghan society due to persistent cultural views and the strong patriarchal order of society.” (Migrationsverket, 1. Juni 2018, S. 4)

 


Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 21.01.2021)

·      Bergmann/Ferid/Henrich: Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht mit Staatsangehörigkeitsrecht: Länderbericht Afghanistan (Hg: Verlag für Standesamtswesen), Stand: 31. Oktober 1990 (Login erforderlich)
https://www.vfst.de/apps/elbib/IEK_AFG_EUKRECHT

·      BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan: Gesetzliche Vertretung von Minderjährigen, Übertragung der Sorgepflicht, 18. Juli 2018 (verfügbar auf ecoi.net, Login der BFA-Staatendokumentation erforderlich)
https://www.ecoi.net/en/file/local/1438945/5209_1532337401_afgh-ra-gesetzliche-vertretung-von-minderjaehrigen-uebertragung-der-sorgepflicht-2018-07-18-ke.odt

·      Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht: Max Plack Manual on Family Law in Afghanistan, Juli 2012
https://www.mpipriv.de/files/pdf3/max_planck_manual_on_afghan_family_law_english.pdf

·      Migrationsverket – Schwedische Einwanderungsbehörde: Afghanistan – vårdnad av barn, 1. Juni 2018
https://www.ecoi.net/en/file/local/1438277/1226_1531738709_180601552.pdf

·      Musawah: Thematic Report on Article 16, Muslim Family Law and Muslim Women's Rights in Afghanistan, 2020
https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CEDAW/Shared Documents/AFG/INT_CEDAW_CSS_AFG_41112_E.docx

·      Qaane, Ehsan: Email-Auskunft vom 19. Jänner 2021

·      Qaane, Ehsan: Email-Auskunft vom 20. Jänner 2021

·      Zivilgesetzbuch der Republik Afghanistan, 5. Jänner 1977, inoffizielle englische Übersetzung von 2004
https://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain?page=search&docid=5a6f2bce4&skip=0&query=civil%20law&coi=AFG

 



[1] Eine Publikation von Musawah, die globale Bewegung für Gleichheit und Gerechtigkeit in der muslimischen Famlie, bestehend aus NGOs, AktivistInnen und anderen, bezieht sich in einer Einreichung an den UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW) ebenfalls auf das Zivilgesetzbuch von 1977 (Musawah, 2020).  

[2] Ehsan Qaane, Jurist und Referent für Recht und Politik des Afghanistan Analysts Network, bestätigt in einer Email-Auskunft vom 20. Jänner 2021, dass das Zivilgesetz von 1977 auch heute noch gültig sei.