Äthiopien 2019

Berichtszeitraum: 1. Januar bis 31. Dezember 2019

Im Rahmen ihres Reformprogramms hob die Regierung im Februar 2019 die Gesetze über zivilgesellschaftliches Engagement auf, durch die die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt worden waren. Die Regierung brachte außerdem einen Entwurf für ein Gesetz ins Parlament ein, das die drakonischen Antiterrorgesetze ablösen soll. Gleichzeitig waren zahlreiche Journalist_innen und andere Kritiker_innen der Regierung weiterhin von willkürlichen Festnahmen, rechtswidrigen Inhaftierungen über längere Zeiträume hinweg sowie von unfairen Gerichtsverfahren bedroht. Es kam zu einer Welle von Gewalt zwischen ethnischen Gruppen, bei dem Hunderte Menschen zu Tode kamen. Die Streitkräfte töteten mindestens neun Protestierende, unter ihnen auch Kinder.

Hintergrund

2019 erhielt Ministerpräsident Abiy Ahmed Ali den Friedensnobelpreis für seine innenpolitischen Reformen, die u. a. die Freilassung Tausender führender Vertreter_innen und Mitglieder von Oppositionsparteien, die Aufhebung des Verbots von Oppositionsparteien beinhalteten, und für seine Rolle bei dem Friedensabkommen, in dessen Folge wieder Bewegung in den festgefahrenen Grenzkonflikt mit dem Nachbarland Eritrea kam (siehe Kapitel über Eritrea). Seit dem Amtsantritt von Abiy Ahmed Ali im April 2018 hatte die Regierung zahlreiche willkürlich in Haft gehaltene Journalist_innen und Blogger_innen freigelassen.

Gewalt zwischen ethnischen Gruppen

Amnesty International dokumentierte 2019 eine Welle von Gewalt zwischen ethnischen Gruppen, bei der im ganzen Land Tausende Menschen getötet wurden, weil die Sicherheitskräfte ihrer Pflicht, die Menschen zu schützen, nicht nachkamen. Vielmehr verhielt es sich so, dass die Sicherheitskräfte, vor allem die Angehörigen regionaler Polizeieinheiten und Angehörige von Milizen der Kommunalverwaltung, aktiv Partei für die ethnischen Gruppen ergriffen, zu denen sie selbst gehörten und sich dabei aktiv an Gewalttaten beteiligten.

Am 10. und 11. Januar 2019 wurden in der Kleinstadt Metema in dem Gebiet Nord-Gondar (Region Amhara) bei koordinierten Angriffen auf die Qimant etwa 60 Frauen und Männer getötet. Die Qimant sind eine ethnische Minderheit, die sich für Autonomie innerhalb der Region Amhara eingesetzt hatte. Die Angriffe wurden von einer amharischen Bürgerwehr und von Sicherheitskräften der Regionalregierung verübt. Im September forderte die Gewalt zwischen ethnischen Gruppen in der Stadt Gondar sowie in der Umgebung von Gondar, wie z. B. in Fenter, Weleqa und Azezo mindestens 30 Tote.

Außerdem starben im September 2019 in den hauptsächlich von Qimant bewohnten Bezirken Chilga und Arbaba mindestens 30 Menschen bei Kämpfen zwischen bewaffneten Angehörigen der Qimant und den regionalen Sicherheitskräften. Zwischen dem 28. September und dem 15. Oktober wurden bei Vergeltungsangriffen auf Angehörige der Qimant und ihre Geschäfte in der Stadt Gondar und in den Städten im Umland mindestens 405 Menschen getötet.

Angehörige der ethnischen Gruppe der Gumuz töteten im April 2019 in der Region Benishangul 21 amharische Einwohner_innen. Im Mai töteten Bewaffnete in der Awi–Zone in der Nachbarregion Amhara mindestens 100 Einwohner_innen der ethnischen Gruppen Gumuz und Shinasha.
Nachdem föderale Sicherheitskräfte im Juli 2019 in der Stadt Hawassa eine Versammlung von Menschenrechtsverteidiger_innen und Ältesten der Sidama gewaltsam aufgelöst hatten, kam es in zahlreichen Orten in dem gesamten Gebiet von Sidama zu ethnisch motivierten Angriffen auf dort lebende Menschen. Mindestens 50 Menschen kamen durch ethnisch motivierte Gewalt sowie durch exzessive Gewaltanwendung seitens der Sicherheitskräfte, die zur Bekämpfung der Unruhen eingriffen, ums Leben. Eine vollständige Untersuchung der Tötungen durch die Regierung stand bei Jahresende noch aus.

Im Oktober starben in mehreren Städten der Regionen Oromia und Harari mindestens 74 Menschen durch Gewalt zwischen ethnischen Gruppen. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen waren bei Protesten gegen die Entscheidung der Regierung, den Personenschutz für einen politischen Aktivisten der Oromo einzustellen, ausgebrochen. 

Bei ethnisch motivierten Zusammenstößen an mehreren Universitäten kamen in den Monaten November und Dezember 2019 in den Regionen Amhara und Oromia mindestens zwölf Studierende ums Leben. Nachdem an der Universität der Stadt Weldia (Region Amhara) ein_e zur Ethnie der Oromo gehörende_r Studierende_r getötet worden war, kam es unter anderem an den Universitäten von Dire Dawa, Dembi Dolo und Gondar zu einer Serie von Rachemorden. Etwa 35.000 Studierende verließen die Universitäten, um der Gewalt zu entgehen, und kehrten nach Hause zurück. Im Dezember entführte eine unbekannte bewaffnete Gruppe rund 20 amharische Studierende, als diese die Universität in Dembi Dolo verließen, um in ihre Heimatorte zurückzukehren.

Rechtswidrige Tötungen

Im Januar 2019 töteten Angehörige der äthiopischen Streitkräfte in den Städten Genda-Wuha und Kokit in der Region Amhara rechtswidrig mindestens neun Demonstrierende, unter ihnen drei Kinder. Die Streitkräfte eskortierten eine Fahrzeugkolonne, die vermeintlich Baumaschinen transportierte. Nach Ansicht der Demonstrierenden wurden mit den Fahrzeugen jedoch Waffen und Munition geschmuggelt. Als die Bewohner_innen die durch beide Städte führende Straße blockierten, um die Fahrzeuge zu durchsuchen, gaben die Angehörigen der Streitkräfte Schüsse auf sie ab. Augenzeug_innen berichteten Amnesty International, dass die Protestierenden, während sich beide Parteien gegenüberstanden, keine gewaltsamen Mittel eingesetzt hatten. Obwohl der Stellvertretende Generalstabschef eine Untersuchung des Vorfalls bereits im Januar 2019 zugesichert hatte, verging das Jahr, ohne dass Ergebnisse bekannt gegeben wurden. 

Im Oktober 2019 töteten Sicherheitskräfte bei Protesten in den Städten Ambo und Adama mindestens zwölf Menschen. Ursache der Proteste war die Entscheidung der Regierung, den Personenschutz für einen politischen Aktivisten der Oromo einzustellen.
 

Rechte auf freie Meinungsäußerung

Ungeachtet erheblicher Fortschritte im Rahmen des 2018 eingeleiteten Reformprozesses, gab es 2019 zahlreiche willkürliche Festnahmen, vor allem von Journalist_innen und Autor_innen, die sich kritisch über die Regierung äußerten. Im August nahm die Bundespolizei in der Hauptstadt Addis Abeba acht Personen fest, weil sie die Veröffentlichung und den Vertrieb eines Buchs mit dem Titel The Hijacked Revolution (Die entführte Revolution) möglich gemacht hatten, das unter einen Pseudonym erschienen war. Die Polizei befragte sie zur Identität des Verfassers bzw. der Verfasserin und setzte einige der Festgenommenen nach einigen Wochen auf freien Fuß. Der Herausgeber kam jedoch erst Ende November frei, nachdem die Polizei den Anklagevorwurf des Terrorismus fallengelassen hatte.

Im September nahm die Polizei fünf Journalist_innen der auf Oromo erscheinenden Online-Zeitung Segele Qerro Bilisuma fest. Sie wurden nach den Bestimmungen des repressiven Antiterrorgesetzes von 2009 angeklagt und länger als zwei Monate auf dem Polizeipräsidium in Addis Abeba in Gewahrsam gehalten, bevor sie ohne Auflagen freigelassen wurden.

Als Reaktion auf die zahlreichen Vorfälle von Gewalt zwischen ethnischen Gruppen legte die Regierung dem Parlament im November 2019 einen Gesetzentwurf vor. Er sah vor, Gewalt befürwortende Äußerungen und die Verbreitung "irreführender Informationen" unter Strafe zu stellen. Der Entwurf enthielt weit gefasste und vage formulierte Bestimmungen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung aushöhlen würden.

Die Sicherheitskräfte der Region Tigray gingen 2019 im Verbund mit der Regionalpolizei und Milizen der Kommunalverwaltung gegen vermeintliche oder tatsächliche Unterstützer_innen der Organisation Wolkait Amhara Identity Committee vor, die in einer bei der Regionalregierung von Tigray und der Bundesregierung eingereichten Petition um die Eingliederung des Bezirks Wolkait in den Bundesstaat Amhara gebeten hatten. Betroffene und andere Zeug_innen berichteten, dass die Menschen, die aufgrund ihrer amharischen Identität, weil sie Amharisch sprachen oder amharische Musik hörten, zur Zielscheibe der Übergriffe wurden, und dann willkürlichen Festnahmen, Inhaftierungen, Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt waren.

Unfaire Gerichtsverfahren

Hunderten Mitgliedern der politischen Opposition, Journalist_innen und anderen Personen, die der Regierung kritisch gegenüber standen, drohten 2019 unfaire Gerichtsverfahren aufgrund von Anklagen nach dem Antiterrorgesetz. Rechtswidrige, lange Untersuchungshaft, unzulässige Verfahrensverzögerungen sowie immer wiederkehrende Beschwerden über Folter und andere Misshandlungen waren bei den Prozessen die Regel.
Der Ausschuss für Rechtsfragen (Legal Advisory Committee), der federführend mit der Gestaltung rechtlicher Reformen beauftragt worden war, brachte 2019 einen Entwurf für ein Terrorismusgesetz ins Parlament ein. Es war zu erwarten, dass der Entwurf das geltende Antiterrorgesetz im Lauf des Jahres 2020 ersetzen würde.

Im Februar 2019 nahm die Polizei Oberst Gemechu Ayana – ein prominentes Mitglied der Oromo-Breiungsfront (Oromo Liberation Front) – fest und hielt ihn aufgrund von Terrorismusanklagen acht Monate lang in Haft. Damit verstieß die Polizei gegen die Bestimmungen des Antiterrorgesetzes, das eine Untersuchungshaft von maximal vier Monaten vorsah. Im Dezember 2019 ließen die zuständigen Behörden die Vorwürfe gegen ihn fallen und setzten ihn auf freien Fuß. 

Nach der Ermordung des Präsidenten der Region Amhara und des Generalstabschefs in Addis Abeba im Juni 2019 wurden Hunderte Frauen und Männer willkürlich festgenommen. Unter denen, die ins Visier der Behörden gerieten, waren führende Mitglieder der Partei Nationale Amhara-Bewegung (Amhara Nationalist Movement), Regierungsvertreter_innen, Journalist_innen und Mitglieder des Übergangskomitees von Addis Abeba (Addis Ababa Care Taker Council), einer Organisation, die sich für die administrative Eigenständigkeit der Einwohner_innen von Addis Abeba einsetzt. Bevor im November der Prozess gegen sie eröffnet wurde, waren mindestens zehn Straftatverdächtige unter dem Vorwurf der terroristischen Betätigung vier Monate lang in Untersuchungshaft. Die Polizei nahm außerdem einen Journalisten fest, der die Vorverhandlungen besuchte und klagte ihn zusammen mit den anderen Straftatverdächtigen wegen Terrorismus an. 

Im Juli 2019 wurden zahlreiche Menschenrechtsverteidiger_innen der Sidama wegen des Verdachts, im selben Monat in dem Gebiet der Sidama zur Gewalt zwischen ethnischen Gruppen angestiftet zu haben, festgenommen. Unter ihnen waren auch Angestellte und Führungskräfte der Medienorganisation Sidama Media Network. Die Festgenommenen blieben bis Jahresende in einem Gefängnis in der Stadt Halaba ohne Anklagerhebung in Haft, 100 Kilometer von ihren Familien entfernt.
 

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Im März 2019 stimmte das Parlament dem Gesetz Nr. 1113/19 über zivilgesellschaftliche Organisationen zu, mit dem das Gesetz Nr. 621/09 über gemeinnützige Organisationen und Verbände außer Kraft gesetzt wurde. Das neue Gesetz lockerte die Einschränkungen für die Finanzierung von Gruppen aus dem Ausland sowie die Durchführung von Menschenrechtsarbeit und -aktivitäten. Es erleichterte auch die Möglichkeiten von Ausländer_innen und Personen mit Auslandswohnsitz, sich in den Bereichen Beobachtung und Förderung der Menschenrechte, Konfliktlösung und Korruptionsbekämpfung zu engagieren.

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