Nigeria 2019

Berichtszeitraum: 1. Januar bis 31. Dezember 2019

Die bewaffnete Gruppe Boko Haram verübte auch 2019 Angriffe, bei denen Hunderte Menschen getötet wurden, weil die Sicherheitskräfte nicht die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung trafen. Die nigerianischen Streitkräfte, die Polizei und der Inlandsgeheimdienst folterten Häftlinge weiterhin und misshandelten sie auf andere Weise. In einigen Teilen Nigerias gelang es auch im Jahr 2019 nicht, die Spirale der zum Teil ethnisch motivierten Gewalt zu durchbrechen. Die Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit waren gefährdet, da der Handlungsspielraum für gesellschaftliches Engagement immer weiter eingeschränkt wurde. Die Regierung missachtete mehrere Gerichtsentscheidungen.

Bewaffneter Konflikt

Die bewaffnete Gruppe Boko Haram war auch 2019 für Angriffe auf die Zivilbevölkerung sowie für Entführungen und Tötungen von Zivilpersonen im Nordosten Nigerias verantwortlich. Boko Haram verübte mindestens 31 bewaffnete Angriffe, bei denen mindestens 378 Zivilpersonen starben. Außerdem tötete die Gruppe mindestens 16 entführte Zivilpersonen. 

Im Januar 2019 griffen Mitglieder von Boko Haram die Stadt Rann an und töteten mindestens 60 Menschen. Schätzungsweise 9.000 wurden vertrieben. Dies war im Berichtszeitraum einer der verheerendsten Angriffe der bewaffneten Gruppe. Die Tatsache, dass sich die Sicherheitskräfte kurz vor dem Angriff zurückgezogen hatten, trug zur massiven Flucht der Zivilbevölkerung aus Rann bei.

Im Juli 2019 rissen Selbstmordattentäter_innen bei einem Anschlag auf einen Treffpunkt für die öffentliche Übertragung von Fußballspielen in Mandarari mindestens 30 Menschen mit sich in den Tod. 

Am 18. Juli 2019 entführte Boko Haram eine Krankenschwester und fünf humanitäre Helfer, die für die Organisation Action Against Hunger tätig waren. Am 25. September wurde einer der fünf humanitären Helfer von der bewaffneten Gruppe getötet. Die Gruppe behauptete, die Regierung habe sie nach monatelangen geheimen Verhandlungen getäuscht. Die verbleibenden vier humanitären Helfer wurden am 13. Dezember getötet. Die Krankenschwester befindet sich immer noch in der Gewalt der Gruppe. Am 25. Dezember 2019 tötete Boko Haram elf männliche Gefangene, die im November auf der Straße von Damaturu nach Maiduguri entführt worden waren.

Im Zusammenhang mit der Boko Haram-Krise sperrten die nigerianischen Behörden Kinder nach wie vor in Zellen zusammen mit Erwachsenen. Am 29. April 2019 brachten die Recherchen von Amnesty International an den Tag, dass in den Gefängnissen von Maiduguri mindestens 68 Jungen ohne Anklageerhebung festgehalten wurden. Im Oktober 2019 ließ die Armee 25 inhaftierte Kinder frei, weitere 86 im November. 

Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen

Bei bewaffneten Zusammenstößen zwischen Bäuer_innen und Viehhirt_innen – ausgelöst durch die aufgrund des Klimawandels immer knapper werdenden Ressourcen – starben mindestens 96 Menschen. Insgesamt wurden 2019 in fünf nordwestlichen Bundesstaaten mindestens 570 Menschen getötet. Am 8. März starben bei ethnisch motivierten Zusammenstößen zwischen den Gemeinschaften der Igburra und den Bassa Kwomu (Bundesstaat Kogi) mindestens 20 Menschen.

Straflosigkeit

Es gab 2019 kaum Fortschritte in Richtung einer strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen und –verstöße. Dies betraf die Sicherheitskräfte, Boko Haram und andere mutmaßliche Täter_innen, die sich an den bewaffneten Zusammenstößen zwischen Viehhirt_innen und Bäuer_innen beteiligt hatten. Niemand musste sich für die Tötung von Anhänger_innen der Islamischen Bewegung von Nigeria (Islamic Movement of Nigeria – IMN) verantworten, die in mehreren Bundesstaaten bei Protesten ums Leben kamen.

Die UN-Sonderberichterstatterin über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen, Agnes Callamard, stellte am Ende ihres Besuchs in Nigeria im September 2019 fest, dass das Fehlen eines funktionierenden Rechenschaftssystems in Nigeria einer der Gründe für die Menschenrechtsverletzungen und die Krise im Lande sei.

Im Dezember 2019 legte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag einen vorläufigen Bericht vor, in den sie zwei weitere Verbrechen im Zusammenhang mit Angriffen von Boko Haram auf Mitarbeiter_innen humanitärer Hilfsorganisationen sowie der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die nigerianischen Streitkräfte aufgenommen hatte. Zudem bestätigte das Büro der Chefanklägerin, dass 2020 eine endgültige Entscheidung über eine vollständige Untersuchung getroffen werde, sollten die nigerianischen Behörden keine erkennbaren Schritte zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen unter dem Römischen Statut unternehmen.

Recht auf Versammlungsfreiheit

In einigen Bundesstaaten, so in Lagos und Rivers, verboten die Sicherheitskräfte gesetzlich erlaubte Versammlungen und lösten in einigen Fällen friedliche Proteste, darunter auch die Proteste der IMN, unter Einsatz von Gewalt auf.

Der Brunnen Unity Fountain in Abuja, an dem bei Demonstrationen die meisten Kundgebungen stattfinden, wurde das ganze Jahr über von Polizeikräften streng bewacht. Am 17. Juli 2019 gab die nigerianische Polizei bekannt, dass für alle Demonstrationen im Hauptstadtterritorium Abuja mit dem Kundgebungsziel Unity Fountain Einschränkungen gelten würden. Im Oktober sperrte die Verwaltung des Hauptsttadterritoriums den Brunnen wegen Renovierungsarbeiten und der Errichtung eines Zaunes für drei Monate ab. Im Juli erließ die Leitung der Polizei des Bundesstaats Plateau ein Totalverbot für öffentliche Kundgebungen jeglicher Art.

Am 5. August 2019 nahmen Sicherheitskräfte in ganz Nigeria mehrere Personen fest, unter ihnen auch Journalist_innen, weil diese an der Protestaktion von #RevolutionNow teilgenommen hatten, und inhaftierten sie.

Am 12. November 2019 schlugen Beamt_innen des Inlandgeheimdienstes während einer Demonstration einen Journalisten zusammen. Des Weiteren schossen sie mit Tränengas und scharfer Munition, um die Menschenrechtsverteidiger_innen auseinanderzutreiben, die mit der Demonstration die Freilassung der gewaltlosen politischen Gefangenen Olawale Bakare und Omoyele Sowore forderten. Bei der Demonstration wurde auch Yemi Adamolekun, Geschäftsführerin der Organisation Enough is Enough Nigeria, tätlich angegriffen.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Der Vorsitzende der IMN, Ibrahim El-Zakzaky, und seine Frau befanden sich immer noch in Haft, obwohl der Bundesgerichtshof bereits 2016 angeordnet hatte, beide freizulassen. Mitglieder der IMN veranstalteten seit Januar 2019 friedliche Protestmärsche in Abuja, in denen sie die Freilassung ihres Vorsitzenden und seiner Frau forderten.

Am 9. Juli 2019 schossen Sicherheitskräfte vor der Nationalversammlung mit scharfer Munition auf Protestierende. Daraufhin schlug der friedliche Protest in Gewalt um. Mindestens zwei Anhänger_innen der IMN wurden getötet, schätzungsweise 60 Protestierende wurden festgenommen. Die meisten Festgenommen waren Ende 2019 nach wie vor ohne Kontakt zur Außenwelt in Hafteinrichtungen in den Bundesstaaten Abuja, Kaduna und Niger inhaftiert. 

Am 22. Juli 2019 wurden elf Demonstrierende, ein stellvertretender Polizeichef und ein Reporter des Fernsehsenders Channels Television getötet, als die Polizei in Abuja das Feuer auf einen Protestmarsch der IMN eröffnete. Die Polizeikräfte schlugen die Demonstration, die im Wesentlichen friedlich verlaufen war, unter Einsatz von Gewalt nieder. Dabei wurden zahlreiche Personen verletzt oder festgenommen.

Am 27. Juli 2019 verbot ein Hohes Gericht in Abuja der IMN jegliche Betätigung in Nigeria. Das Gericht erklärte, dass sich "ab jetzt keine Personen oder Personengruppen mit den Schiiten zusammentun" sollten, gleichgültig aus welchem Grund.
Die Sicherheitskräfte nahmen im Verlauf des Jahres mindestens 200 Mitglieder und Unterstützer_innen der Organisation Indigenous People of Biafra (IPOB) fest und töteten mindestens zehn weitere.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde immer stärker eingeschränkt. Journalist_innen, Blogger_innen und und Internetaktivist_innen, die den Behörden des Bundes und der Bundesstaaten unbequeme Fragen stellten, wurden nach dem Gesetz zur Internetkriminalität von 2015 oder dem geänderten Antiterrorgesetz von 2013 wegen Internetkriminalität oder Terrorismus angeklagt. Amnesty International dokumentierte 19 Fälle von Journalist_innen, die tätlichen Angriffen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen ausgesetzt waren.

Am 6. Januar 2019 stürmten bewaffnete Sicherheitskräfte in der nigerianischen Hauptstadt Abuja das Büro der Zeitung Daily Trust Newspaper und nahmen Computer, Laptops und Handys mit. Zwei Büros der Zeitung in Maiduguri und Lagos wurden am selben Tag ebenfalls von Sicherheitskräften gestürmt.

Am 1. März 2019 nahmen Polizist_innen Obinna Don Norman, Journalist und Eigentümer der Onlinezeitung The Realm News, wegen der Veröffentlichung von Korruptionsvorwürfen fest, die den Bundesstaat Abia betrafen. Ihm drohten Ende 2019 Anklagen nach dem Gesetz zur Internetkriminalität wegen Cyberstalking.

Am 20. Mai 2019 wurde der Journalist Jones Abiri, als er sich zusammen mit Freund_innen in seinem Büro in Yenagoa (Bundesstaat Bayelsa) aufhielt, festgenommen. Es wurde vermutet, dass die Männer, die ihn festnahmen, Angehörige des Inlandgeheimdienstes waren. Nach fünf Monaten Haft wurde er am 25. Oktober freigelassen. Er war aber Ende 2019 immer noch u. a. wegen Terrorismus und Internetkriminalität angeklagt. Jones Abiri war schon einmal zwei Jahre lang inhaftiert, ohne vor Gericht gestellt zu werden.

Angehörige der Spezialeinheit für Raub (Special Anti-Robbery Squad – SARS) griffen am 4. Juni 2019 den Journalisten Kofi Bartels tätlich an, der für den Radiosender Nigeria Info 92.3 FM mit Sitz in Port-Harcourt im Süden Nigerias arbeitete. Anschließend wurde er festgenommen, inhaftiert und gefoltert, weil er versucht hatte, in Port Harcourt Polizisten zu filmen, die einen Jugendlichen zusammenschlugen. 

Am 16. September 2019 griffen Beamt_innen der Behörde für Umweltschutz und Abfallmanagement des Bundesstaats Akwa Ibom die Journalistin Mary Ekere tätlich an, weil sie das brutale Verhalten der Beamt_innen gegen Straßenhändler_innen mit ihrem Handy gefilmt hatte. Ekere arbeitet für die Zeitung The Post Newspaper in Uyo im Bundesstaat Akwa Ibom im Süden Nigerias.

Im November 2019 beriet die nigerianische Nationalversammlung über zwei Gesetzentwürfe, den Entwurf eines Gesetzes zum Schutz vor Falschnachrichten und Manipulationen im Internet und damit in Verbindung stehender Straftaten in der Fassung von 2019 sowie ein Gesetz zur Einsetzung einer Nationalen Kommission für das Verbot von Hassrede. Sollten die Gesetzentwürfe in Kraft treten, könnten die Behörden das Internet nach Belieben abschalten und Kritik an der Regierung mit bis zu lebenslangen Freiheitsstrafen oder gar der Todesstrafe ahnden.

Am 24. Dezember 2019 setzen die nigerianischen Behörden Omoyele Sowore gegen Kaution auf freien Fuß. Omoyele Sowore war ein gewaltloser politischer Gefangener und Herausgeber des Online-Nachrichtendienstes Sahara Reporters. Amnesty International hatte Omoyele Sowore, Agba Jalingo and Olawale Bakare (genannt Mandate) zu gewaltlosen politischen Gefangenen erklärt und die Behörden Nigerias aufgefordert, die drei Männer unverzüglich ohne Auflagen auf freien Fuß zu setzen und alle Anklagen gegen sie fallenzulassen. Omoyele Sowore und Olawale Bakare wurden aus dem Gefängnis entlassen, Agba Jalingo, Journalist und Herausgeber der Nachrichten-Website Cross River Watch blieb jedoch über 2019 hinaus in Haft. Er wurde am 13. Februar 2020 gegen Kaution aus dem Gefängnis entlassen. Er war am 22. August 2019 festgenommen worden und wegen Terrorismus, Störung des öffentlichen Friedens und der Verschwörung zu terroristischen Straftaten angeklagt worden. Er war zunächst wegen seiner Beiträge und Posts in den Sozialen Medien über mutmaßliche Korruptionsfälle im Bundesstaat Cross River festgenommen worden.

Frauenrechte

Obwohl das Gesetz gegen Gewalt (Violence Against Persons Prohibition Act – VAPP) verabschiedet worden war, war Gewalt gegen Frauen in Nigeria nach wie vor weitverbreitet. Bis Ende 2019 war das Gesetz, das Handlungen unter Strafe stellt, die Frauen schädigen und diskriminieren, lediglich in Abuja und nicht einmal zehn weiteren Bundesstaaten in einzelstaatliches Recht übernommen worden.

Im Jahr 2019 trafen Berichte ein, denen zufolge die nigerianische Polizei und Angehörige der Gemeinsamen Arbeitsgruppe im Hauptstadtterritorium – bestehend aus der Behörde für Entwicklungskontrolle (Department of Development Control), der Umweltschutzbehörde (Environmental Protection Board) und dem Sekretariat für Sozialentwicklung (Social Development Secretariat) – im Hauptstadtterritorium Abuja mehr als 100 Frauen mit rechtswidrigen Festnahmen, körperlichen und verbalen Übergriffen, sexualisierter Gewalt und finanzieller Erpressung drangsalierten. Die Frauen, die verdächtigt wurden, Sexarbeiterinnen zu sein, wurden ohne rechtliche Grundlage unter anderem auf der Straße, in Bars, Restaurants und Nachtclubs festgenommen. Ein mobiles Gericht sprach viele der Frauen in unfairen Gerichtsverfahren schuldig. Einige erhielten Haftstrafen oder wurden wegen "Vagabundierens" zu Geldstrafen verurteilt. Dieser Straftatbestand ist jedoch landesweit abgeschafft. Die Frauen durften keine Rechtsbeistände hinzuziehen. Nachdem mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen, unter ihnen auch Amnesty International, über diese Gewalt gegen Frauen berichtet hatten und dagegen aktiv geworden waren, setzte die Nationale Menschenrechtskommission einen Untersuchungsausschuss für sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt (Special Investigative Panel on Sexual and Gender Based Violence) in Nigeria ein. Der Ausschuss hat den Auftrag, bestehende Gesetze und Verordnungen zu überprüfen, Beschwerden anzuhören, mutmaßliche Rechtsverletzungen zu untersuchen, Empfehlungen über Entschädigungen für Opfer abzugeben und sicherzustellen, dass die Verletzung von Frauenrechten strafrechtlich verfolgt wird. Der Ausschuss trat im November 2019 zum ersten Mal zusammen. Die nigerianische Bundesregierung richtete am 26. November 2019 in Abuja das in Artikel 1(4) VAPP vorgesehene Nationale Register für Sexualstraftäter ein. 

Kinderrechte

Obwohl es seit dem Jahr 2003 ein Gesetz über die Rechte von Kindern gibt, hielt die Gewalt gegen Kinder an. Allerdings hatten bis Ende 2019 erst wenig mehr als 20 der 36 Bundesstaaten das Gesetz in ihr einzelstaatliches Recht übernommen. Die meisten Bundesstaaten im Norden des Landes haben diesen Schritt noch nicht getan.

Kinder mit Behinderungen wurden weiterhin diskriminiert und hatten mit vielen Hindernissen zu kämpfen, obschon das Recht auf Bildung in Nigeria gesetzlich verankert ist. Amnesty International Nigeria hat die Fälle einiger Kinder, die wegen ihrer Behinderung diskriminiert und missbraucht worden sind, dokumentiert. Der siebenjährige Imran Kanun Muhammad soll in der Schule für Gehörlose in Kufe (Hauptstadtterritorium Abuja) sexualisierte Gewalt und unmenschliche Behandlung erfahren haben. Sein Fall wird gerade vor Gericht verhandelt. Amnesty International Nigeria tritt dabei als Prozessbeobachterin auf. Im Juli 2019 wurden Vorwürfe erhoben, denen zufolge Schülerinnen an der Blindenschule im Hauptstadtterritorium sexuell missbraucht worden waren. Die Verwaltung des Hauptstadtterritoriums suspendierte zwei Lehrer der Schule. Außerdem machte im Juli der Gouverneur des Bundesstaates Kwara den schlechten Bauzustand der Schule für Menschen mit Behinderungen in Ilora publik und sicherte Maßnahmen für die Verbesserung der Zustände an der Schule zu.

Im April 2019 kamen Recherchen von Amnesty International zu dem Schluss, dass im Hochsicherheitsgefängnis in Maiduguri Kinder durch Sicherheitskräfte und Mithäftlinge Opfer sexualisierter Gewalt wurden.

Rechte auf Wohnen - Zwangsräumungen

In einigen Bundestaaten führten die Behörden auch im Jahr 2019 rechtswidrige Zwangsräumungen durch. Die Behörden ließen Wohnungen und Geschäftslokale ohne angemessene Ankündigung und ohne den Bewohner_innen die Möglichkeit zu wirklichen Konsultationen und Zugang zu Rechtsmitteln zu geben, abreißen. Die Regierung Nigerias ließ im Berichtszeitraum im Bundesstaat Lagos mehr als 20 Siedlungen räumen. Dazu gehörten unter anderem Abagbo, Abule Elepa, Abule Glass, Ajakoji, Akaraba, Bobukoji, Ebute Oko, Fashola, Idi Mango, Ilaje, Inangbe / Ilado, Kopiamy, Ogunfemi, Oko-Kate, Okun Alfa, Okun Babakati, Second Badagry, Okun Gbogba, Okun Ilase, Okun Kobena, Sankin, Sapo Okun und Tokunbo. Die Bevölkerung zahlreicher weiterer Orte im Bundesstaat Lagos lebt unter der ständigen Angst vor Zwangsräumungen. Die nigerianischen Behörden rechtfertigten die Verletzung des Rechts der Menschen auf Wohnen damit, dass sie die mutwillige Beschädigung von Pipelines und andere Straftaten befürchteten. 

Drei Jahre nach der rechtswidrigen Zwangsräumung in Otodo-Gbame haben die meisten Betroffenen immer noch keine Wohnung und leben in bitterster Armut. Das Hohe Gericht des Bundesstaates Lagos hatte bereits am 21. Juni 2017 entschieden, dass Zwangsräumungen ohne Wiederansiedlung der Betroffenen an einem andere Ort verfassungswidrig seien, und hatte verfügt, dass die Regierung keine weiteren Zwangsräumungen in Lagos durchführen dürfe. Die Zwangsräumungen gingen dennoch unvermindert weiter. Das Gericht hatte die Regierung des Bundesstaats Lagos angewiesen, mit den betroffenen Einwohner_innen Konsultationen über eine Umsiedlung innerhalb des Bundestaats abzuhalten. Diese Verfügung sowie weitere vom Gericht garantierte Rechtsmittel wurden von der Regierung bis Ende 2019 ignoriert. Die Behörden des Bundestaats Lagos strengten vielmehr ein Rechtsmittelverfahren an, das über das Jahresende hinaus immer noch beim Berufungsgericht anhängig war.

Im September 2019 hielt sich die UN-Sonderberichterstatterin über angemessenes Wohnen, Leilani Farha, zu einem Besuch in Nigeria auf. Sie erklärte, die Wohnraumsituation in Nigeria sei eine Menschenrechtskrise, die sofortiges Handeln erfordere. Sie forderte die nigerianischen Behörden auf, Sofortmaßnahmen zur Entkriminalisierung der Wohnungslosigkeit zu ergreifen und ein landesweites Moratorium für Zwangsräumungen zu erlassen.

Folter und andere Misshandlungen

Folter und andere Misshandlungen waren 2019 im nigerianischen Strafjustizsystem immer noch an der Tagesordnung. Folter und andere Misshandlungen sowie rechtswidrige Inhaftierungen durch die Polizei – vor allem durch die Spezialeinheit SARS – und den Inlandsgeheimdienst hielten an.

Im März 2019 wies ein Hohes Gericht im Bundesstaat Anambra die nigerianische Polizei an, eine Entschädigung an Ugochukwu Oraefo zu zahlen, weil er rechtswidrig inhaftiert und gefoltert worden war. Die Polizei zahlte ihm bis Ende 2019 jedoch weder eine Entschädigung noch trug sie dafür Sorge, dass die verantwortlichen Polizist_innen vor Gericht gestellt wurden.

Verschwindenlassen

Amnesty International erhielt glaubhafte Berichte, denen zufolge die Sicherheitsbehörden, unter ihnen Polizist_innen und der Inlandsgeheimdienst, Menschen willkürlich inhaftierten und Personen ohne Kontakt zur Außenwelt in Gewahrsam hielten.

Die Sicherheitsbehörden machten auch 2019 keine Angaben zum Schicksal der rund 600 IMN Mitglieder, deren Aufenthaltsort seit Dezember 2015 unbekannt ist. Damals waren im Bundesstaat Kaduna mindestens 60 IMN Mitglieder getötet worden.

Der Influencer Abubakar Idris (besser bekannt als Abu Hanifa Dadiyata) wurde am 2. August 2019 von bewaffneten Männern aus seiner Wohnung in Barnawa im Bundesstat Kaduna verschleppt. Seitdem fehlt von ihm jede Spur.

Haftbedingungen

Die Gefängnisse Nigerias waren 2019 nach wie vor überbelegt. Rund 70 Prozent der Gefangenen befanden sich in Untersuchungshaft. Einige warteten bereits seit fünf Jahren auf ihren Prozess.

Am 14. August 2019 trat mit der Unterschrift von Präsident Muhammadu Buhari das Bundesgesetz über den Justizvollzug in Kraft. Der Präsident erklärte, das neue Gesetz ziele darauf ab, grundlegende Auslassungen im Gefängnisgesetz zu beheben.

Am 2. Dezember 2019 starben im Gefängnis von Ikoyi, einem Stadtteil von Lagos, fünf Gefangene durch einen Stromschlag. Sieben weitere wurden bei dem Vorfall verletzt. Die Gefängnisbehörden gaben an, dass sie dabei seien, den Vorfall zu untersuchen. Das Jahr verging, ohne dass die Behörden einen Untersuchungsbericht veröffentlichten.

Justizsystem

Nach wie vor missachteten die Behörden Nigerias Gerichtsentscheidungen und untergruben die Rechtsstaatlichkeit. Dank des anhaltenden Drucks auf lokaler und internationaler Ebene kamen die beiden prominenten gewaltlosen politischen Gefangenen Omoyele Sowore und Sambo Dasuki am 24. Dezember 2019 aus dem Gefängnis frei. Die Regierung hatte sich zunächst geweigert, mehrere Gerichtsentscheidungen zu befolgen und die beiden Männer gegen Kaution zu entlassen. Der Generalstaatsanwalt und Justizminister, Abubakar Malami, gab später bekannt, dass sie aus familiären Gründen freigekommen seien.

Todesstrafe

Die Gerichte verhängten nach wie vor die Todesstrafe. Es gab zwar 2019 keine Berichte über Hinrichtungen, doch mussten immer noch mehr als 2.000 Menschen mit einer Vollstreckung ihres Todesurteils rechnen.
In einigen Bundesstaaten wurden rechtliche Schritte zur Ausweitung der Todesstrafe eingeleitet. Der Bundesstaat Rivers verabschiedete im März 2019 das novellierte Gesetz Nr. 6 von 2019 über das Verbot geheimer Kulte und ähnlicher Aktivitäten sowie das Gesetz Nr. 7 von 2019 über das Verbot von Entführungen in der Neufassung Nr. 2; beide Gesetze schreiben die Todesstrafe nun bei Entführungen und Sektiererei vor.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Die Organisationen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI) berichteten von weitverbreiteten Festnahmen von Schwulen, Lesben und Bisexuellen. Schwule wurden zudem zur Zielscheibe von Mobs und Einzelpersonen, die sie erpressten und Schweigegeldforderungen stellten.

Im Dezember wurden in Lagos 47 Männer vor Gericht gestellt, weil sie "öffentlich ihre Zuneigung für Angehörige des gleichen Geschlechts gezeigt hatten". Sie gehörten zu den 57 Männern, die im August 2018 in einem Hotel in Lagos festgenommen worden waren. Damals waren sie öffentlich gedemütigt und beschuldigt worden, homosexuell zu sein.

Nigeria hat das Gesetz über das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen von 2013, das gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen mit Freiheitsstrafen bis zu 14 Jahren belegt, noch nicht abgeschafft.

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