Ungarn 2019

Die Regierung weitete ihre Kontrolle über die Justiz aus. Restriktive Gesetze für Nichtregierungsorganisationen blieben in Kraft und behinderten zivilgesellschaftliche Aktivitäten. Für Flüchtlinge und Asylsuchende war der Zugang zu dem Land nach wie vor stark eingeschränkt.

Gesetzliche, verfassungsrechtliche und institutionelle Entwicklungen

Zunehmende Einschränkungen der Menschenrechte durch die Regierung und Verstöße gegen EU-Recht führten auch 2019 zu Gegenwehr im Inland und zu verschärfter internationaler Beobachtung.

Nachdem das Parlament im Dezember 2018 ein umstrittenes Gesetz zum Arbeitsrecht gebilligt hatte, kam es zu Protesten, die im Januar 2019 andauerten. Das Gesetz ermöglicht es Arbeitgeber_innen, mehr Überstunden von ihren Mitarbeiter_innen zu verlangen und die Bezahlung von Überstunden drei Jahre lang aufzuschieben. Protestierende und Medien bezeichneten es als "Sklavengesetz".

Im Mai 2019 äußerten sich die Europäische Richtervereinigung und die Europäische Kommission besorgt darüber, dass durch die Schwächung interner Kontrollmechanismen der Gerichtsbarkeit die Unabhängigkeit der Gerichte weiter ausgehöhlt wurde. Im Juni verschob das Parlament die Einführung einer neuen Verwaltungsgerichtsbarkeit auf unbestimmte Zeit. Das ungarische Verfassungsgericht hatte das Vorhaben zwar als verfassungskonform eingestuft, doch gab es daran auch heftige Kritik, unter anderem von der Venedig-Kommission des Europarats, wegen des potenziellen Risikos politischer Einflussnahme. Im Dezember 2019 verabschiedete das Parlament ein "Sammelgesetz", das neben verschiedenen Gesetzesänderungen vorsieht, dass Behörden Entscheidungen ordentlicher Gerichte in politisch brisanten Fällen anfechten können, indem sie beim Verfassungsgericht, dessen Mitglieder von der Regierungsmehrheit im Parlament ernannt werden, Beschwerde einreichen.

Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn nach Artikel 7(1) des EU-Vertrags war Ende 2019 noch nicht abgeschlossen. Das Europäische Parlament hatte den Rat der EU-Mitgliedstaaten 2018 aufgefordert, das Verfahren einzuleiten, da nach Ansicht des EU-Parlaments die "eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der EU-Grundwerte" bestand.

Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit

Die Regierung setzte ihre Angriffe und Verleumdungskampagnen gegen Menschenrechtsverteidiger_innen und zivilgesellschaftliche Organisationen 2019 fort. 

Es waren weiterhin restriktive Gesetze in Kraft, die zivilgesellschaftliches Engagement behinderten und sich gezielt gegen Nichtregierungsorganisationen und Aktivist_innen richteten, die sich für die Rechte von Flüchtlingen, Migrant_innen und Asylsuchenden einsetzten. Im Februar 2019 entschied das Verfassungsgericht, das sogenannte Stop-Soros-Gesetz, das den Straftatbestand der "Beihilfe zur illegalen Migration" enthält, stehe im Einklang mit der Verfassung.

Im Juli beschloss die Europäische Kommission, gegen Ungarn wegen des Stop-Soros-Gesetzes beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) Klage einzureichen, weil das Gesetz ihrer Ansicht nach gegen mehrere EU-Richtlinien verstößt. Ein weiteres Verfahren, das die EU-Kommission im Dezember 2017 vor dem EuGH gegen Ungarn angestrengt hatte, war Ende 2019 noch nicht abgeschlossen. Anlass war ein Gesetz, das Nichtregierungsorganisationen stigmatisiert, die Finanzmittel aus dem Ausland erhalten. 

Die ungarische Regierung schränkte die Freiheit der Wissenschaft weiter ein. Im Juli 2019 verabschiedete das Parlament ein Gesetz zum Umbau der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, das der Regierung stärkeren Einfluss auf die Forschungseinrichtungen der Akademie ermöglicht. Das Gesetz löste Befürchtungen aus, die wissenschaftliche Forschung könnte in Zukunft nicht mehr unabhängig sein. Ende 2019 stand noch die Entscheidung des Verfassungsgerichts über ein Rechtsmittel aus, das der Präsident der Akademie gegen das Gesetz eingelegt hatte. 

Nachdem im November 2018 die regierungsnahe Medienstiftung KESMA (Közep-Europai Sajto es Media Alapitvany) gegründet worden war, die –gemessen am Umsatz – etwa 80 % des Medienmarktes kontrolliert, konnten sich regierungskritische Stimmen kaum noch Gehör verschaffen. In den staatlichen Medienkanälen wurden Personen, die der Regierung nahestanden oder deren Ansichten vertraten, weitaus stärker berücksichtigt als die politische Opposition.
 

Diskriminierung - Roma

Im Mai 2019 stellte der UN-Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung (CERD) fest, das Ausmaß rassistisch motivierter Hassreden seitens hochrangiger Personen des öffentlichen Lebens gegen Roma, Migrant_innen, Flüchtlinge, Asylsuchende und andere Minderheiten sei alarmierend. Der CERD-Ausschuss zeigte sich zudem besorgt angesichts der hohen Anzahl rassistischer Straftaten gegen Roma und bemängelte, dass die Ordnungskräfte diese Angriffe weder angemessen untersuchten noch die betroffenen Gemeinschaften ausreichend schützten.

Außerdem befand der Ausschuss, Roma würden unter anderem bezüglich Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnen und Beschäftigung nach wie vor systematisch diskriminiert. Viele Roma lebten auch 2019 in extremer Armut und in separaten Siedlungen, in denen es an Infrastruktur und öffentlichen Leistungen mangelte.

Als im Juli 2019 das ungarische Bildungsgesetz reformiert wurde, vergab die Regierung die Chance, gegen die Segregation von Roma-Kindern im Bildungswesen vorzugehen. Ein von der Europäischen Kommission 2016 gegen Ungarn eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren wegen Diskriminierung von Roma im Bildungsbereich war Ende 2019 noch nicht abgeschlossen. 

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Der Parlamentspräsident und andere Personen des öffentlichen Lebens griffen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI) immer häufiger durch homosexuellenfeindliche und diskriminierende Äußerungen an.

Ab Juli 2019 wurden Personen, die an Veranstaltungen des Budapester Pride-Monats oder an von LGBTI-Organisationen durchgeführten Workshops teilnahmen oder bei der Organisation mithalfen, mehrfach von rechtsextremen Gruppen verbal und tätlich angegriffen. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen und Medien unternahm die Polizei in einigen Fällen nicht genug, um die Betroffenen vor den Angriffen zu schützen.

Recht auf Wohnraum - Rechtswidrige Zwangsräumungen

Es wurden weitere Maßnahmen zur Kriminalisierung von Obdachlosigkeit ergriffen. Trotz heftiger Kritik aus dem In- und Ausland urteilte das Verfassungsgericht im Juni 2019, dass eine 2018 vorgenommene Änderung des Grundgesetzes, die das Leben auf der Straße verbietet, verfassungskonform sei.
Ebenfalls im Juni lehnte das Parlament einen Gesetzentwurf ab, der Kommunen verpflichtet hätte, angemessene Alternativunterkünfte für Familien mit Kindern bereitzustellen, die Opfer von Zwangsräumungen geworden sind – obwohl dies völkerrechtlich vorgeschrieben ist.
 

Frauenrechte

Nach einem Besuch Ungarns im Februar 2019 stellte die Menschenrechtskommissarin des Europarats fest, dass bezüglich Geschlechtergleichstellung und Frauenrechten Rückschritte zu verzeichnen waren. So hatte es die Regierung beispielsweise versäumt, eine neue nationale Strategie zur Geschlechtergleichstellung auszuarbeiten. Politische Vorhaben zielten ausschließlich auf die Rolle von Frauen in der Familie ab.
Die Regierung legte im Februar 2019 einen "Aktionsplan für Familienschutz" vor. Er sieht zwar Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie eine bessere Unterstützung von Familien vor, Frauenrechtsgruppen sowie die UN-Arbeitsgruppe für die Frage der Diskriminierung von Frauen im Recht und in der Praxis kritisierten jedoch, dass der Aktionsplan Eltern mit mittlerem bis hohem Einkommen stärker begünstige als Familien mit niedrigem Einkommen.

Die Behörden ergriffen weiterhin keine ausreichenden Maßnahmen, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern und zu bekämpfen. Entsprechende Fälle wurden nur selten strafrechtlich verfolgt, und die Opfer wurden von Polizei und Justiz häufig unsensibel behandelt und stigmatisiert, was dazu führte, dass man ihnen die Schuld gab und parteiische Urteile fällte. Die Regierung ignorierte weiterhin Forderungen aus der Zivilgesellschaft, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) zu ratifizieren, und bezeichnete die Konvention als "politisches Gejammer".

Flüchtlinge und Asylsuchende

Für Flüchtlinge und Asylsuchende war der Zugang zum Land 2019 nach wie vor massiv eingeschränkt und nur in zwei "Transitzonen" an der Grenze zu Serbien möglich. Nachdem 2018 neue Ausschlusskriterien festgelegt worden waren, wurden praktisch alle Asylanträge von Personen, die aus einem "sicheren Transitland", wie Serbien einreisten, abgelehnt. 

Asylsuchende, über deren Antrag noch nicht entschieden worden war, wurden in einer der beiden "Transitzonen" festgehalten. Personen, deren Antrag abgelehnt worden war und denen die Abschiebung drohte, wurden von den Behörden nicht ausreichend mit Lebensmitteln versorgt. Ende 2019 hatten 27 Personen mit Hilfe des Ungarischen Helsinki-Komitees beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorläufige Maßnahmen beantragt, um wieder mit Nahrungsmitteln versorgt zu werden. Im Juli 2019 begann die EU-Kommission ein neues Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen unterlassener Nahrungsmittelbereitstellung für abgelehnte Asylbewerber_innen.

Einige Organisationen äußerten sich besorgt angesichts von Meldungen, wonach Ordnungskräfte bei Zurückweisungen (Push-Backs) an der Grenze zu Serbien unverhältnismäßige Gewalt gegen minderjährige und erwachsene Asylsuchende, Flüchtlinge und Migrant_innen angewendet haben sollen, die körperliche Verletzungen zur Folge hatte.

Der CERD-Ausschuss zeigte sich äußerst beunruhigt über Berichte, dass Ungarn den internationalen Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement-Prinzip), wonach niemand in ein Land abgeschoben werden darf, in dem ihm Menschenrechtsverletzungen drohen, in seiner Gesetzgebung und in der Praxis nicht vollumfänglich einhält.

Im November 2019 bestätigte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Ungarn im Fall Ilias und Ahmed gegen Ungarn die Risiken für die Asylsuchenden bei einer Abschiebung nach Serbien nicht berücksichtigt habe. Der Gerichtshof bestätigte allerdings seine vorherige Entscheidung nicht, dass es sich bei der Zwangsunterbringung der Betroffenen in "Transitzonen" ohne Schutzmaßnahmen oder eine formelle Entscheidung de facto um einen willkürlichen Freiheitsentzug gehandelt habe.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Die Regierung verlängerte im September 2019 den "durch die Masseneinwanderung entstandenen Notstand" um weitere sechs Monate. Er war 2015 erstmals ausgerufen worden und verleiht Polizei und Militär außerordentliche Befugnisse. Der UN-Sonderberichterstatter über die Menschenrechte von Migranten forderte die Regierung nach seinem Besuch des Landes Juli 2019 auf, "die Erklärung des 'Migrationsnotstandes' umgehend zurückzunehmen" und die Rechte Asylsuchender zu schützen.

Die Installation Tausender öffentlicher Überwachungskameras in ganz Budapest, die mit privat installierten Systemen vernetzt und mit einer staatlichen Datenbank verbunden wurden, ließ Bedenken aufkommen, was das Recht auf Privatsphäre und den Schutz vor Massenüberwachung betraf. Im Dezember 2019 verabschiedete das ungarische Parlament ein Gesetz, das der Polizei den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware bei Personenkontrollen erlaubt.

Der Syrer Ahmed H., der aufgrund haltloser terrorismusbezogener Anklagen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, kam im Januar 2019 unter Auflagen frei und konnte im September zu seiner Familie nach Zypern zurückkehren. Die ungarische Regierung hatte ihn gezielt in den Medien verunglimpft. Dann war er auf Grundlage des drakonischen Antiterrorgesetzes schuldig gesprochen worden und hatte dreieinhalb Jahre in Haft verbracht.

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