Anfragebeantwortung zum Irak: Sulaimaniya: Überwachung der Einhaltung religiöser Vorschriften durch Familie und Gesellschaft, religiöse Prägung des Alltagslebens, Einstellung gegenüber Musik und Kultur [a-11287-2 (11288)]

 

31. Juli 2020

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Es konnten keine Informationen zur Überwachung der Einhaltung religiöser Vorschriften durch Familie oder Gesellschaft gefunden werden. Dies lässt nicht notwendigerweise Rückschlüsse auf die Lage von Personen zu, die religiöse Vorschriften nicht einhalten. Gesucht wurde mittels ecoi.net, Refworld, Factiva und Google nach einer Kombination aus folgenden Suchbegriffen: sulaimaniya, kurdistan, family, salafi, religious rites, prayer, fasting, pressure, السليمانية, كردستان, سلفي, عادات دينية, الصوم, الصلاة, فرض

 

Im Folgenden finden sich Quellen mit Informationen zur allgemeinen Rolle von Religion und von Musik im Alltagsleben in Sulaimaniya:

 

Die offizielle Webseite des „General Board of Tourism“ (BOT) der Autonomieregion Kurdistan beschreibt Sulaimaniya als die Hauptstadt der kurdischen Kultur und nennt als Teil der Beschreibung der Stadt den Aufbau von Hotels, Motels, Supermärkten, Einkaufszentren, Theatern, Restaurants und Parks:

„Today Sulaimani has developed in most modern life aspects, hotels, motels, supermarkets & Malls, theatres, restaurants & Parks. From the cultural perspective, Sulaimani is considered to be the capital of Kurdish culture, the famous old Saray situates at the center of the city, while many museums are distributed. Sulaimani Embrace several universities & Educational Institutions both Public & Private, in addition to the American University.” (BOT, ohne Datum)

Auch das in San Francisco ansässige „Kurdish Project“, eine kulturelle Bildungsinitiative mit dem Ziel, dem Westen die Kurden und die kurdische Kultur näher zu bringen, beschreibt Sulaimaniya als ein wichtiges Zentrum kurdischer Kultur und erwähnt, dass die Stadt für ihre Newroz-Festivitäten bekannt sei, zu denen auch viele IranerInnen kommen würden, die aufgrund strenger Gesetze im Iran das Fest nicht feiern könnten:

„A Creative Hub: Slemani is also an important center of Kurdish culture, and is recognized for producing numerous Kurdish poets and writers. […]

Sulaymaniyah is also known for its Newroz celebrations. Many Iranians come to Sulaymaniyah to celebrate the holiday, because of strict laws at home in Iran.” (The Kurdish Project, ohne Datum)

In einer telefonischen Auskunft an ACCORD vom Juli 2020 äußert sich der Politologe und Nahost-Experte Dr. Thomas Schmidinger wie folgt über das Alltagsleben in Sulaimaniya:

„Das Alltagsleben in Sulaimaniya ist sehr areligiös geprägt, zumindest verglichen mit allen anderen Städten des Irak und auch der Autonomieregion Kurdistan selbst. Es gibt im Irak sicher keine säkularere Stadt als Sulaimaniya. Es gibt dort zwar einzelne salafistische Gruppen, aber es gibt auch dezidiert Atheisten, Menschen, die überhaupt nichts mit Religion zu tun haben, und auch die können in Sulaimaniya besser leben als in anderen irakischen Städten, auch was politischen Dissens betrifft, sowie sexuelle Devianz. Auch Homosexualität und ähnliches ist in Sulaimaniya noch eher lebbar als in anderen kurdischen Städten. Um zu unterstreichen, wie säkular Sulaimaniya im Vergleich zu anderen Städten ist: In Sulaimaniya gibt es zum Beispiel auch eine legale und registrierte Community von Zoroastriern. Und zwar sind das keine traditionellen Zoroastrier, sondern Konvertiten, die vom Islam zum Zoroastrismus konvertiert sind, oder zu einer eigenen Form des Zoroastrismus, wenn man so will, und auch das war in Sulaimaniya, im Gegensatz zu Erbil, wo es große Schwierigkeiten mit dieser Community gegeben hat, kein Problem. Insofern kann man wirklich nicht sagen, dass das öffentliche und gesellschaftliche Leben dort religiös geprägt ist. Eine kleine Einschränkung sind die guten Beziehungen zum Iran. Das heißt es gibt zum Beispiel eine schiitische Moschee, obwohl es kaum schiitische Gläubige in Sulaimaniya gibt, und die Beziehungen zum Iran sind sicher sensibel, weil es das wichtigste Nachbarland ist, aber abgesehen davon spielt Religion in Sulaimaniya eigentlich keine bedeutende Rolle.“ (Schmidinger, 24. Juli 2020)

Al Masalla News, das sich selbst als Tourismusportal für den Nahen Osten mit Sitz in Libyen bezeichnet, berichtet im November 2016 von der Entscheidung der Tourismusbehörde Sulaimaniyas, Musik und Gesang in Hotels und Restaurants zu verbieten, mit der Ausnahme von 5-Sterne-Hotels, die laut der Behörde den notwendigen Platz und die notwendige Einrichtung zur Verfügung hätten, um Konzerte abzuhalten, ohne die Anrainer zu stören. Hotel- und Cafébesitzer hätten die Zurücknahme dieser Entscheidung gefordert. Laut dem Artikel hätten bis zu diesem Zeitpunkt die etwa 200 Kaffees und Restaurants im Zentrum Sulaimaniyas einmal pro Woche Konzerte organisiert, um Kunden anzulocken. (Al Masalla News, 20. November 2016)

 

Hatha al-Youm, eine Plattform, die Nachrichten verschiedener irakischer Medien aggregiert, veröffentlicht im August 2018 einen Beitrag des irakischen Fernsehsenders Dijlah TV, in dem zwei iranische Musiker interviewt werden, die auf den Straßen Sulaymaniyas musizieren. Sie geben an, von der Bevölkerung positiv aufgenommen worden zu sein. Die Stadt, so der Sender, interessiere sich im Allgemeinen für Kunst und Musik. (Hatha al-Youm, 20. August 2018)

 

Die kurdische Nachrichtenwebseite Shafaq News berichtet im August 2019 vom Fall der aus Sulaimaniya stammenden Sängerin Maria Hawrami, die ein Musikvideo veröffentlicht habe, in dem sie in der Stadt Sulaimaniya auf der Straße singe und Menschen um sie zum Tanzen bringe. Ein salafistischer Prediger aus Kurdistan habe daraufhin eine Sprachnachricht an einen Freund gesendet, in der er Hawrami als „Hündin“ und „Prostituierte“ sowie die in dem Video tanzenden Personen als „Affen“ beschimpft habe. Daraufhin habe es Reaktionen auf sozialen Medien sowie vonseiten anderer Künstler und der Zivilgesellschaft in Kurdistan, darunter insbesondere in Sulaimaniya, gegeben, die Hawrami verteidigt hätten. Nutzer sozialer Medien hätten ihr Video zusammen mit Solidaritätsbekundungen geteilt. Eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie Hawramis Familie hätten angekündigt, rechtliche Schritte gegen den salafistischen Prediger einzuleiten. Dieser habe jedoch eingewendet, dass er diese Worte nicht an die Öffentlichkeit gerichtet habe, sondern an einen anderen Religionsgelehrten, der das Singen und das Beisammensein von Männern und Frauen als erlaubt eingestuft habe. Er habe sich bei der Sängerin und ihrer Familie für seine Wortwahl entschuldigt und einen beratenden Besuch bei der Familie angekündigt, da Singen aus religiöser Sicht verboten („haram“) sei. (Shafaq News, 16. August 2019)

 

Sectarianism, Proxies and De-sectarianisation (SEPAD), ein an der Universität Lancaster angesiedeltes Projekt zur Erforschung konfessioneller Gewalt, veröffentlicht im Juli 2019 einen Artikel zur salafistischen Strömung in der Autonomen Region Kurdistan. Drei Faktoren würden zur Ausbreitung des Salafismus in der Region führen. Erstens habe Geld aus den Golfländern die Mobilisierung und Öffentlichkeitsarbeit finanziert, zweitens habe das Internet den Zugang zu salafistischen Büchern, Blogs und sozialen Medien ermöglicht und es der kurdischen Jugend leichter gemacht, sich über die verschiedenen Schulen und Lager des Salafismus zu informieren und drittens habe die kurdische Regionalregierung bei der Ausbreitung des Salafismus ein Auge zugedrückt und salafistische Treffen und Missionsaktivitäten erlaubt, in der Hoffnung, dass der Salafismus den gesellschaftlichen Druck auf die Regierung abschwächen könne.

Salafisten würden in Kurdistan Moscheen exklusiv für sich bauen. Viele von ihnen würden nicht an Gruppengebeten mit Muslimen teilnehmen, die keine Salafisten seien, sondern sich von den übrigen Muslimen absondern. Sie würden sich auch weigern, an religiösen Zeremonien teilzunehmen, die sie als unislamisch einstufen würden, darunter Mawlid, das Fest zum Geburtstag des Propheten Mohammed.

Trotz Gerüchten über eine Kooperation zwischen kurdischer Regionalregierung und Salafisten hätten von Salafisten ausgehende Gefahren kürzlich kurdische Beamte aufgerüttelt. Viele kurdische Politiker hätten die Ausbreitung des Salafismus in Kurdistan verurteilt. Vor kurzem habe die Regionalregierung strenge Maßnahmen gegen radikale Formen des Salafismus umgesetzt. 2015 habe das Ministerium für religiöse Angelegenheiten angefangen, salafistische Imame und deren Moscheen zu überwachen und hätten diejenigen bestraft, die die von der Regierung vorgegebene moderate Rhetorik verletzt hätten. Seitdem seien zehn Imame aufgrund ihrer extremistischen Freitagspredigten ausgewiesen worden. Daneben seien die Bücher von zehn salafistischen Religionsgelehrten verboten worden:

„Many factors catalysed the spread of Salafism in Kurdistan. First and foremost, Arab Gulf resources funded its mobilisation and publicity. […] Secondly, the internet – and easy access to Salafi books, blogs and social media accounts of Salafi figures – have all made it easier for Kurdish youth to learn about the different schools and camps of Salafism. […] Thirdly, the KRG [Kurdistan Regional Government] turned a blind eye to the spread of Salafism in Kurdistan, hoping that Salafism can diffuse the social pressure against the government. They allowed Salafi gatherings and social and missionary activities, while restricting other Islamist groups’ activities. […]

Salafists in Kurdistan build mosques exclusively to themselves. Most of them do not partake in group prayers with Muslims who are not Salafists. They distinguish themselves from the ‘other’ Muslims. They refuse to participate in group religious ceremonies that are considered un-Islamic, such as the Mawlid (the observance of the birthday of Islam’s prophet Muhammad).

Despite rumours of KRG-Salafi cooperation, recent threats posed by Salafists served as a wake-up call for Kurdish officials. Many Kurdish politicians have condemned the spread of Salafism in Kurdistan. Recently, the KRG has taken strict measures against radical forms of Salafism. In 2015, MERA [Ministry of Endowment and Religious Affairs] began monitoring Salafi imams and their mosques, punishing those who violate the moderate rhetoric outlined by the government. So far, it has expelled ten imams due to their extremist Friday speeches. The KRG also banned the books of 10 Salafi ‘ulamas, including prominent Salafi imams – such as Albani, Ibn Baz and Utheimin.” (SEPAD, 19. Juli 2019)

 

 


Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 31. Juli 2020)

·      Al Masalla News: Der Tourismus in Sulaymaniyah verbietet Musik und Gesang in Hotels und Cafés in der Provinz

[سياحة السليمانية تمنع الموسيقى والغناء في فنادق و مقاهي المحافظة], 20. November 2016
https://almasalla.travel/205944/

·      BOT – General Board of Tourism of Kurdistan-Iraq: Sulaimaniya, not dated http://bot.gov.krd/sulaimaniya-province/sulaimaniya?&&&&page=2

·      Hatha al-Youm: Sie dir das Video an. Sulaimaniyah - Musik auf Straßen und Gehwegen [شاهد بالفيديو.. السليمانية .. الموسيقى تعم الشوارع والارصفة], 20. August 2018
https://hathalyoum.net/articles/2089986-%D8%B4%D8%A7%D9%87%D8%AF-%D8%A8%D8%A7%D9%84%D9%81%D9%8A%D8%AF%D9%8A%D9%88-%D8%A7%D9%84%D8%B3%D9%84%D9%8A%D9%85%D8%A7%D9%86%D9%8A%D8%A9%D8%A7%D9%84%D9%85%D9%88%D8%B3%D9%8A%D9%82%D9%89-%D8%AA%D8%B9%D9%85-%D8%A7%D9%84%D8%B4%D9%88%D8%A7%D8%B1%D8%B9-

·      Schmidinger, Thomas: telefonische Auskunft, 24. Juli 2020

·      SEPAD – Sectarianism, Proxies and De-sectarianisation : Salafism in Iraqi Kurdistan (Autor: Pishtiwan Jalal), 19 Juli 2019
https://www.sepad.org.uk/post/salafism-in-iraqi-kurdistan

·      Shafaq News: Die ganze Geschichte über Maria Hawrami und den salafistischen Scheich – von seiner Sprachnachricht bis hin zu seiner schnellen Entschuldigung

[القصة الكاملة لماريا هورامي والشيخ السلفي.. من رسالته الصوتية الى اعتذاره السريع], 16. August 2019
https://www.shafaaq.com/ar/%D8%AA%D9%82%D8%A7%D8%B1%D9%8A%D8%B1-%D9%88%D8%AA%D8%AD%D9%84%D9%8A%D9%84%D8%A7%D8%AA/%D8%A7%D9%84%D9%82%D8%B5%D8%A9-%D8%A7%D9%84%D9%83%D8%A7%D9%85%D9%84%D8%A9-%D9%84%D9%85%D8%A7%D8%B1%D9%8A%D8%A7-%D9%87%D9%88%D8%B1%D8%A7%D9%85%D9%8A-%D9%88%D8%A7%D9%84%D8%B4%D9%8A%D8%AE-%D8%A7%D9%84%D8%B3%D9%84%D9%81%D9%8A-%D9%85%D9%86-%D8%B1%D8%B3%D8%A7%D9%84%D8%AA%D9%87-%D8%A7%D9%84%D8%B5%D9%88%D8%AA%D9%8A%D8%A9-%D8%A7%D9%84%D9%89-%D8%A7%D8%B9%D8%AA%D8%B0%D8%A7%D8%B1%D9%87-%D8%A7%D9%84%D8%B3%D8%B1%D9%8A%D8%B9/

·      The Kurdish Project: Sulaymaniyah (Slemani), ohne Datum
https://thekurdishproject.org/kurdistan-map/iraqi-kurdistan/sulaymaniyah-slemani/