Anfragebeantwortung zum Irak: Gesellschaftliche Wahrnehmung von psychisch Erkrankten; Stigmatisierung, schädigende Praktiken, religiöse Aspekte, Wunderheilung; Umgang von staatlichen Stellen/Institutionen mit psychisch Erkrankten, Diskriminierung [a-11250]

30. April 2020

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Allgemeiner Überblick: psychische Gesundheit im Irak, gesellschaftliche Wahrnehmung und Deutungsmuster von psychischen Erkrankungen

In einem im medizinischen Journal Qatar Medical Journal erschienenen Studienbericht vom November 2019 (AutorInnen: Maha S. Younis, Riyadh K. Lafta, et al.) finden sich Informationen zur Verbreitung von Wunderheil-Praktiken. Zu den geschichtlichen Hintergründen hält der Bericht fest, dass es im altertümlichen Irak den Glauben gegeben habe, dass Feendämonen und Zauberei die alleinige Erklärung für Geisteskrankheiten sei. Nach der Verbreitung des Islam ab 646 nach Christus sei dieser Glaube durch den Glauben der Muslime an die sogenannte Dschinn-Besessenheit (Dschinn: übernatürliche Wesen, Anm. ACCORD) ersetzt worden und es sei das arabische Vokabular zum Thema Wahnsinn („Dschinun“), das aus dem Heiligen Koran zitiert worden sei, verwendet worden, um die als "Dschinn" bekannte Besessenheit von übernatürlichen Geistern zu bezeichnen. Zur gegenwärtigen Situation schreiben die AutorInnen, dass der Irak über einen langen Zeitraum hinweg ständig von Kriegen, bewaffneten Konflikten, Terrorismus und religiösem Fundamentalismus betroffen gewesen sei, die viele Verhaltens- und psychischen Störungen hervorgerufen und gleichzeitig zu einer hohen Analphabetenrate geführt hätten, die solche traditionelle Praktiken befördere. Verschärft worden sei das Phänomen der Verbreitung solcher Praktiken in den letzten 15 Jahren möglicherweise aber auch durch eine unzureichende Gesundheitsversorgung im Allgemeinen, sowie auch speziell im Bereich der psychischen Gesundheit. Diese sei auf viele Faktoren zurückzuführen, von denen der wichtigste der spürbare Mangel an PsychiaterInnen infolge der Flucht von ÄrztInnen ins Ausland aufgrund von Krieg und Terrorismus sei. Ein Mangel an Psychopharmaka, modernen Einrichtungen für Psychotherapie und klinische Psychologie seien weitere Faktoren:

„The ancient belief that fairy demons and sorcery were the solo explanation of insanity was replaced by Muslims' beliefs in jinn possession. After the inception of Islam 646 A.C., the Arabic vocabulary of insanity (Jinoon) quoted from the Holy Quran was used to refer to the possession of supernatural spirits known as ‘jinn.’ […] Iraq has been exposed to a long period of continual wars, armed conflict, terrorism, and sectarian fundamentalism, which paved the way for many behavioural and mental disorders and precipitated illiteracy that encouraged such practices.” (Younis/Lafta/et al., November 2019, S. 2)

„The exacerbation of this phenomenon in the last 15 years might also be linked to inadequate health services in general, including mental health services, attributed to many factors, the main one of which is the noticeable shortage of psychiatrists as a result of the flight of doctors from the country due to repeated waves of wars and terrorism. A shortage of psychiatric medications, advanced facilities for psychotherapy and clinical psychology are additional factors.” (Younis/Lafta/et al., November 2019, S. 6)

Das Unterstützungsbüro für Asylfragen der Europäischen Union (European Asylum Support Office, EASO) fasst in seinen Richtlinien zum Irak vom Juni 2019 die Situation bezüglich psychische Gesundheit im Irak und deren Versorgung folgendermaßen zusammen: In Bezug auf die psychische Gesundheit sei berichtet worden, dass ein enormer Bedarf bestehe und die verfügbaren Dienste der bestehenden Nachfrage nicht gerecht würden. Zu den Herausforderungen für das psychosoziale Gesundheitssystem im Irak würden der Mangel an finanziellen Mitteln und Infrastruktur, die begrenzte Anzahl psychosozialer Fachkräfte, die Standorte der Angebote, die für viele Menschen zu weit entfernt seien, sowie die Stigmatisierung zählen:

„With regard to mental health, it has been reported that there are huge needs and the available services do not meet the demand. Challenges to the mental health system in Iraq include the lack of funding and infrastructure, limited number of mental health professionals, location of services, as they are often too far away for people to travel, as well as stigma.” (EASO, Juni 2019, S. 90)

Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) hält in einem kurzen Überblick zu psychischer Gesundheitsversorgung aus dem Jahr 2018 fest, dass im Irak auf 100.000 Einwohner 0,34 Psychiater, 0,11 Psychologen und 1,22 Krankenpfleger, sowie 0,09 Sozialarbeiter kommen würden. Es gebe 34 ambulante Einrichtungen für psychische Gesundheit, die zu einem Krankenhaus gehören würden, und 575 gemeindenahe/nicht zu Krankenhäusern gehörende Einrichtungen für psychische Gesundheit. Darüber hinaus gebe es im Irak zwei Nervenheilanstalten und 22 psychiatrische Abteilungen in allgemeinen Krankenhäusern. (WHO, 2018)

In einer Pressemitteilung vom September 2019 berichtet die WHO über von ihr in der Provinz Anbar durchgeführte Schulungen im Bereich psychische Gesundheit für medizinisches Personal. In der Pressemitteilung wird Dr. Adham Ismail, der für den Irak zuständige Repräsentant der WHO, zitiert. Laut Ismail bestehe im Irak ein erheblicher Mangel an PsychiaterInnen und psychiatrischen Fachkräften, der dringend behoben werden müsse. (WHO, 16. September 2019)

Zum Thema psychische Gesundheit und sexuelle Gewalt in Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt („conflict-related sexual violence“, CRSV) hält der Bevölkerungsfond der Vereinten Nationen (United Nations Population Fund, UNFPA) in einem Bericht aus dem Jahr 2019 Folgendes fest: Dienstleistungen für Opfer von CRSV, insbesondere im Bereich psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung, seien aufgrund des Mangels an ausgebildeten Fachkräften und aufgrund des Stigmas, von dem das Thema psychische Gesundheit umgeben sei, begrenzt. Zwar seien bisher nur wenige Daten über die Verbreitung psychischer Erkrankungen im Irak gesammelt worden, doch würden Anhaltspunkte aus anderen humanitären Krisen auf die langfristigen Auswirkungen von Krieg und CRSV auf die psychische Gesundheit und das psychosoziale Wohlergehen hinweisen. Zwar habe das irakische Gesundheitsministerium vor dem Krieg gegen die Gruppe Islamischer Staat (IS) in 57 Gesundheitszentren Bagdads CRSV-Unterstützungsleistungen geleitet, darunter auch Angebote im Bereich psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung (mental health and psychosocial support, MHPSS), doch eine Begutachtung dieser Unterstützungsleistungen durch UNFPA im Jahr 2016 habe ergeben, dass diese extrem mangelhaft seien. Der Bericht aus dem Jahr 2019 kommt weiters zu folgenden Schlussfolgerungen betreffend MHPSS im Irak: Es herrsche unter den Gemeindeführern ein Mangel an Bewusstsein gegenüber der enormen Bedeutung von MHPSS. Es herrsche in den Gemeinden ein Mangel an Bewusstsein sowie ein Stigma gegenüber geschlechtsspezifischer Gewalt und MHPSS. Es gebe nur eine eingeschränkte Anzahl qualifizierter lokaler MHPSS-Fachleute, MHPSS-Mitarbeiter oder in diesem Bereich freiwillig Tätige, was zur Überlastung der Einrichtungen und zu Burnouts unter den MitarbeiterInnen beitrage. Außerdem gebe es einen Mangel an Begutachtungen und Evaluierungen von MHPSS-Projekten durch messbare Indikatoren:

„Services for survivors of conflict-related sexual violence (CRSV), especially mental health and psychosocial support, are limited due to a shortage of trained professionals and the stigma surrounding these situations. While little data has been gathered on the prevalence of mental health conditions in Iraq, evidence from other humanitarian crises points to the long-term impact of war and CRSV on mental health and psychosocial wellbeing. While the Ministry of Health of Iraq had piloted CRSV support services, including MHPSS [mental health and psychosocial support], in 57 health centres in Baghdad prior to the war against ISIS, the rapid assessment of these services carried out by UNFPA in 2016 revealed that they were, and remain, extremely weak.” (UNFPA, 2019, S. 2)

„Lessons and Conclusions

• Lack of awareness among community leaders of the critical importance of MHPSS • Lack of awareness and high degree of stigma in the community surrounding GBV [gender-based violence] and MHPSS • Limited number of qualified local MHPSS specialists, staff or volunteers, which contributes to overburdened facilities and burnout among care providers • Lack of monitoring and evaluation of MHPSS projects through measurable indicators” (UNFPA, 2019, S. 4)

Stigmatisierung durch die Gesellschaft, "Sanktionen", schädigende Praktiken, Selbstmorde, Wunderheiler, religiöse Aspekte, Unterlassung von Hilfeleistung

Laut einem Artikel von The National, einer englischsprachigen Tageszeitung aus Abu Dhabi, vom November 2019 gebe es laut ExpertInnen im Irak, einem Land, in dem Entführungen, Verschwindenlassen, unerklärte Verhaftungen und Gewalt seit Jahrzehnten üblich seien, tausende Männer, die dringend Zugang zu psychologischer Betreuung benötigen würden. Aber die meisten würden nicht über ihre Probleme sprechen. Laut Ahmed Hussein, Psychologe und Gesundheitsreferent des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), der für das IKRK-Programm für MHPSS im Irak tätig sei, würden die Menschen im Irak im Allgemeinen nur wenig über psychische Gesundheit wissen. Das Thema sei stark stigmatisiert und die Vorstellung sei verbreitet, dass 'nur Verrückte' psychische Unterstützung benötigen würden, so Hussein.

Hussein meint, dass Menschen mit psychischen Problemen aufgrund des mangelnden Bewusstseins gegenüber diesem Thema dazu neigen würden, einen Arzt aufzusuchen, um bestimmte Zustände wie Depressionen oder Schlaflosigkeit zu behandeln, anstatt einen Psychologen aufzusuchen, der bei der Behandlung der dahinterliegenden Ursachen helfe. In der irakischen Gesellschaft würden die Menschen bei der Behandlung solcher Beschwerden stark auf den Einsatz von Medikamenten setzen. Das erste, was uns Patienten fragen würden, wenn sie zu einer Konsultation kommen würden, sei: "Haben Sie Medikamente?", so Hussein. Männer würden dazu neigen, nicht über ihre Sorgen oder das, was sie beunruhige, zu sprechen, weil von ihrer Gemeinschaft erwartet werde, dass sie Verantwortung zu tragen und stark zu bleiben hätten. Jemand, der um psychische Unterstützung bitten würde, würde als eine schwache Persönlichkeit angesehen werden. Während die Forschung zeige, dass viele psychische Erkrankungen Männer und Frauen in fast gleichem Maße betreffen würden, sei zu beobachten, dass etwas mehr als 90 Prozent jener Personen, die die vom IKRK unterstützten Gesundheitszentren in Mosul besuchen würden, Frauen seien. Obwohl auch Frauen vom Stigma betroffen seien, scheine sich dieses laut Hussein bei den Männern stärker auf deren Einstellung auszuwirken, und sie davon abzuhalten, Hilfe zu suchen:

„Iraq is a country all too familiar with conflict. Disappearances, kidnappings, unexplained arrests and violence have been all too common for decades, first under former dictator Saddam Hussein and then in the chaos after the 2003 US-led invasion. There are thousands of men like Ibrahim in Iraq who desperately need access to mental health support, experts say. But most won’t come forward. ‘Generally, people [in Iraq] have little knowledge of mental health, so there is a strong stigma surrounding mental health conditions, and a common idea that ‘only crazy people’ need mental health support,’ says Ahmed Hussein, a psychologist and health field officer for International Committee of the Red Cross [ICRC]. ‘This requires raising awareness on what is mental health and how to take care of one’s mental health,’ Mr Hussein, who works with the ICRC’s Mental Health and Psychosocial Support (MHPSS) programme in Iraq, told The National.” (The National, 22. November 2019)

„Mr Hussein says that due to this lack of awareness around mental health, people [with mental health issues] tend to go to see a doctor to treat specific conditions such as depression or insomnia, rather than seeking a psychologist to help treat the causes. ‘In the Iraqi society, people rely heavily on the use of drugs for treatment. The first thing that patients ask us when they come for a consultation is, ‘do you have drugs?’,’ Mr Hussein says. ‘Men have a tendency not to speak about their concerns or what is worrying them, because they are expected by their community to bear responsibilities and stay strong, and someone who would request mental health support would be considered as having a weak personality.’ While research shows many mental health conditions affect men and women in near equal measure, just over 90 per cent of those attending the ICRC-supported health centres in Mosul are women, Mr Hussein says. Although the stigma affects women too, it appears to have a more marked effect on mens’ approach to mental health and stops them from seeking help, he says.” (The National, 22. November 2019)

Middle East Monitor (MEMO), eine nichtprofitorientierte Organisation zur Analyse und Übersetzung von Medienprodukten sowie zur Medienbeobachtung in Bezug auf Berichterstattung zum Nahen Osten, schreibt in einem Artikel vom Mai 2019, dass psychisch Kranke als stigmatisierter Teil der Gesellschaft zu unkonventionellen Behandlungsmethoden greifen würden. Unter Verweis auf die Angaben von Nesif Al-Hemiary, einem Professor für Psychiatrie an der Universität von Bagdad, hält der Artikel fest, dass sich die meisten Menschen mit Psychosen an Wunderheiler anstatt an Psychiater wenden würden. Diese würden ihnen dann mitteilen, dass sie von Dschinn oder bösen Geistern besessen seien oder dass sie unter dem Einfluss von Zauberei oder des „bösen Blicks“ stehen würden, obwohl es sich in Wahrheit um sehr kranke Menschen handle, so Al-Hemiary. Al-Hemiary habe zu einem Team gehört, das im ersten Quartal 2019 die irakischen Selbstmordraten erforscht habe, und er habe auch umfangreiche psychiatrische Forschungen über die irakische Bevölkerung und über Studenten an der Universität Bagdad durchgeführt. Von den 132 Menschen, die im Jahr 2019 bis dato (Artikel vom 14. Mai 2019, Anm. ACCORD) bereits Selbstmord begangen hätten, habe die Mehrheit vor ihrem Tod nicht um psychologische Hilfe angesucht. Dies deute darauf hin, dass die bestehenden Systeme zur Erkennung von Risikopersonen nicht funktionieren würden. In der wissenschaftlichen Arbeit zum Thema Selbstmord werde auch beschrieben, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen sich das Leben nehmen, genauso groß sei wie bei Männern, was schockierend sei, wenn man bedenke, dass laut des weltweiten Berichts über Selbstmord der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für 2016 auf einen Selbstmord einer Frau acht Selbstmorde von Männern kommen würden. MEMO merkt weiters an, dass psychische Erkrankungen zu einem höheren Selbstmordrisiko führen würden:

„As we mark Mental Health Awareness Week, MEMO highlights a stigmatised section of Iraqi society turning to unconventional methods of treatment. ‘Most of the psychotic patients go to the faith healers rather than the psychiatrist,’ says Dr Nesif Al-Hemiary, professor of psychiatry at the University of Baghdad. ‘They tell them they are possessed by Jinns or bad spirits or that they are under the influence of sorcery or the evil eye.’ ‘In reality, these are very ill people,’ he adds. Al-Hemiary was part of the team to research Iraqi suicide rates in the first quarter of this year and has also conducted extensive psychiatric research on the Iraqi population and students at the University of Baghdad. He says that of the 132 people who have committed suicide already this year, the majority had not sought help for a mental health condition before their death. This suggests that the systems in place to flag at risk individuals are not working. The paper also detailed how women were just as likely to kill themselves as men – a shocking statistic considering that the World Health Organisation (WHO)’s 2016 global suicide report reported a rate of eight male suicides to every one female. These illnesses create a greater risk of suicide in those who suffer from them.” (MEMO, 14. Mai 2019)

Zu traditionellen Heilungspraktiken hält der Artikel von MEMO fest, dass sich Wunderheiler im Irak häufig als „Scheichs“ oder „Imame“ bezeichnen würden. Al-Hemiary zweifle trotz des „islamischen Anstrichs“, den die Rituale dieser Heiler hätten, an ihrer religiösen Legitimation. Eine Studie, die 2014 von Studenten der Universität Erbil im Kurdengebiet im Norden des Landes durchgeführt worden sei, zeige die Beliebtheit der traditionellen Medizin unter den an Schizophrenie Erkrankten in der Stadt Nadschaf im südlichen Zentralirak. Von den 70 PatientInnen, die in der ambulanten Einrichtung des Al-Hakeem-Krankenhauses befragt worden seien, hätten 80 Prozent vor ihrem Besuch einen Wunderheiler konsultiert. Die meisten der Personen hätten angegeben, dass sie an einer Zeremonie teilgenommen hätten, bei der der Heiler den Koran rezitiert, gebetet und Beschwörungen aufgesagt habe. Beunruhigender seien jedoch die Anwendung von Methoden wie Schlagen, Aushungern und das Durchlöchern der Daumen, mit Hilfe derer die Dschinn vertrieben werden sollen. Die Heiler würden nicht einmal wissen, was dem Patienten fehle. Diese könnten unter Umständen ein anderes Gesundheitsproblem haben, etwa ein gefährliches körperliches Gesundheitsproblem. Einige Menschen seien bereits an solchen Behandlungen gestorben, so Al-Hemiary. Oder sie seien der Gefahr ausgesetzt, missbraucht zu werden, was insbesondere Frauen betreffe. Manche würden sogar von diesen Wunderheilern sexuell missbraucht. Die PatientInnen würden erhebliche Summen für diese obskuren Praktiken bezahlen, die ihnen enormen psychischen Schaden zufügen könnten. Heiler würden für ihre Dienste über Satellitenfernsehen Werbung machen, was ihnen Ruhm und Wertschätzung einbringen würde. Die Behandlungen seien nicht billig, bis zu 500 Dollar (etwa 459 Euro, Anm. ACCORD) würden die Heiler laut Al-Hemiary verlangen:

„’Faith healer’ is a loose term for people using these traditional methods. In Iraq, they often refer to themselves as ‘Sheikh’, or ‘Imam’. Al-Hemiary says that though their rituals have ‘Islamic colour,’ he doubts their religious credentials. A study conducted in 2014 by students at the University of Erbil, in the northern Kurdish region, revealed the popularity of ‘traditional medicine’ among those suffering from schizophrenia in the city of Najaf in south central Iraq. Of the 70 patients surveyed at the outpatient facility at Al-Hakeem Teaching hospitals, 80 per cent had consulted a faith healer before their visit. […] The majority said they attended a ceremony where ‘healers’ recited the Qur’an, prayed and made invocations. More worrying, however, was the use of methods such as hitting, starvation and puncturing thumbs to remove the Jinn (spirits). ‘The healers don’t even know what’s wrong with the patient. They could have another health issue; a physical health issue which is put at risk. Some people have died because of that,’ Al-Hemiary tells MEMO from Baghdad. ‘Or they are at risk of abuse, especially women. Some are even sexually abused by those faith healers.’ Patients are paying a significant premium for these suspect practices which could cause significant damage to their psychological wellbeing. ‘Healers’ advertise their services through satellite TV, earning them fame and esteem. However, the cures they are selling aren’t cheap. ‘For a visit to my practice, I charge $20,’ Al-Hemiary says. ‘The faith healers will charge anything up to $500.’ (MEMO, 14. Mai 2019)

Der Artikel enthält weitere relevante Informationen und kann unter dem folgenden Link abgerufen werden:

·      MEMO - Middle East Monitor: Fear of isolation drives mentally ill in Iraq away from doctors, 14. Mai 2019
https://www.middleeastmonitor.com/20190514-fear-of-isolation-drives-mentally-ill-in-iraq-away-from-doctors/

 

Der bereits erwähnte Studienbericht vom November 2019 (AutorInnen: Maha S. Younis, Riyadh K. Lafta, et al.) beschreibt insbesondere die Ergebnisse der in einem Krankenhaus in Bagdad zwischen August 2018 und Jänner 2019 durchgeführten Befragung von 482 psychisch erkrankten Personen. 57,9 Prozent der befragten PatientInnen hätten demnach angegeben, zu Wunderheilern („faith helaers“) zu gehen. Dies sei vergleichbar mit den Ergebnissen einiger anderer Studien, die in anderen arabischen und muslimischen Ländern durchgeführt worden seien, wobei der in dieser Studie zum Irak eruierte Prozentsatz höher sei, als die in diesen anderen Studien eruierten Prozentsätze. Dieser hohe Wert sei alarmierend, da er darauf hinweise, dass die Wunderheiler dabei seien, die PsychiaterInnen in Bezug auf die Behandlung psychischer Erkrankungen in ihrer Wichtigkeit zu überholen. Dies würde die irakische Gesellschaft in alte Zeiten zurückführen, als Wunderheiler und Hexentherapeuten in diesem Bereich die Oberhand gehabt hätten. Der erwähnte Prozentsatz von 57,9 Prozent könne sogar leicht unterschätzt sein, da einige Patienten sich möglicherweise schämen würden, zuzugeben, dass sie Wunderheiler aufsuchen würden:

„The results revealed that more than half of the patients (57.9%) reported going to FHs [faith healers]; this is comparable to some studies conducted in other Arab and Muslim countries but is obviously higher than what was found in those studies. This high percentage is alarming as it indicates that FHs have started to overwhelm the role of psychiatrists in treating mental illnesses, which takes us back to ancient times when FHs and witchcraft therapists had the upper hand in this field. There might even be a slight underestimation here as some patients may feel ashamed to reveal that they are visiting FHs so as not to be judged.” (Younis/Lafta/et al., November 2019, S. 4)

Der Bericht hält weiters fest, dass viele Menschen der Meinung seien, dass der Besuch von Wunderheilern weniger stigmatisierend sei, als der Besuch von psychiatrischen Kliniken und die Einnahme von Medikamenten. Dies sei ein wahrscheinlicher Grund dafür, dass sich immer mehr PatientInnen zunächst für traditionelle Heiler entscheiden würden, bevor sie einen Psychiater aufsuchen würden. Die Wahl von Wunderheilern als erste Behandlungsstation sei laut Ergebnissen der aktuellen Studie von mehr als 70 Prozent der PatientInnen in Betracht gezogen worden. 73,1 Prozent der Personen, die Wunderheiler besucht hätten, hätten dies vor dem Besuch der psychiatrischen Klinik getan, 23 Prozent würden auch noch während ihrer medizinischen Behandlung zu Wunderheilern gehen. 84,6 Prozent hätten angegeben, seltener als zehnmal einen Wunderheiler aufgesucht zu haben, während 15,4 Prozent dies zehnmal oder öfter getan hätten. Was die Behandlungsmethode angehe, so sei in 55,2 Prozent der Fälle ein Talisman (Amulett) verwendet worden, eine Erwähnung des Koran habe im Zuge der Behandlung in 49,8 Prozent der Fälle stattgefunden. 3,6 Prozent der PatientInnen seien als „Behandlungsmethode" verschiedenen Formen sexueller Belästigung ausgesetzt gewesen. 77 Prozent hätten angegeben, die Wunderheiler bezahlt zu haben, davon hätten 11,6 Prozent angegeben, mehr als 1.000 US-Dollar (etwa 920 Euro, Anm. ACCORD) bezahlt zu haben.

Die drei am häufigsten bei den befragten PatientInnen festgestellten psychischen Störungen seien laut dem Bericht Depressionen (33,2 Prozent), Psychosen (23,2 Prozent) und Angststörungen (22,3 Prozent) gewesen:

„Many people think that visiting FHs [faith healers] is not as stigmatizing as going to psychiatric clinics and receiving medications, which is a likely reason for increasing numbers of patients who choose traditional healers as their first treatment choice prior to seeing a psychiatrist. Choosing FHs as the first station of treatment was considered by more than 70% of the patients in the current study;” (Younis/Lafta/et al., November 2019, S. 5)

„Table 2 reveals that 73.1% of those who went to FHs did so before visiting the psychiatric clinic, and 23% were still going to FHs while receiving their medical treatment. 84.6% reported visiting FHs less than ten times, while 15.4% went 10 times or more. In respect to the method of treatment, in 55.2% of the cases, a mascot (amulet) was used, while the Quran (the holy book of Muslims) was mentioned by 49.8%. Some of the patients (3.6%) were subjected to different forms of sexual harassment as a "method of treatment." Most of the patients (77%) mentioned paying money to FHs; of those, 11.6% paid more than $1000. The top three mental disorders seen were depression (33.2%), psychosis (23.2%) and anxiety disorders (22.3%).” (Younis/Lafta/et al., November 2019, S. 3)

Der Großteil der PatientInnen (89,9 Prozent) habe sich laut dem Bericht für die Behandlung an schiitische oder sunnitische Kleriker gewandt, von denen man annehme, dass sie Nachkommen einer heiligen Dynastie oder gesegnete religiöse Führer seien, die die Fähigkeit zur Ausübung mystischer Therapien besitzen würden. Die folgenden Behandlungsmethoden seien die am häufigsten angewandten gewesen: das Lesen bestimmter Verse aus dem Koran, mündliche und schriftliche Gebete, Trinken von und Baden in Wasser, in das zuvor Beschwörungsformeln gesprochen worden seien, Räuchern mit gesegnetem Weihrauch sowie das erneute Tragen der eigenen Kleidung nach Aufbewahrung desselben am Ort des Wunderheilers über Nacht. Es seien jedoch auch viele andere traditionelle Heilmittel verwendet worden, die nicht mit dem islamischen Glauben in Verbindung gebracht würden, wie die Einnahme von unbekannten Kräutern als Pulver, Flüssigkeit, allein oder mit Honig gemischt, oder als Paste zum Einmassieren am Körper. Diese Methoden seien in arabischen Gemeinschaften weit verbreitet. Etwa ein Viertel der PatientInnen sei mit schädigenden Exorzismus-Methoden behandelt worden, wie häufiges Stoßen mit einem Stock, harte Stöße oder grausame Schläge auf den ganzen Körper, Ohrfeigen bzw. Stöße mit dem Kopf des Patienten gegen die Wand, um die Dschinn auszutreiben. Seltener seien Messerstiche oder Brenneisen benutzt worden. Einige junge Patientinnen hätten über sexuelle Ausbeutung durch Wunderheiler in ihren Häusern oder in Wohnheimen in der Nähe von Schreinen berichtet:

„Most of the patients (89.9%) reported going to a Shiite cleric (Sayed) or Sunni cleric (Sheikh), both of whom were believed to be either a descendant of holy dynasty or a blessed religious guide who have the capability to practice mystic therapy. FHs [faith healers] in this study utilized methods to protect from or to exorcise evil eyes, the devil, and jinn possession. The most common methods used were reading certain verses of the Holy Quran; they also performed oral and written prayers in the form of sealed amulets, incantations read-in-water for drinking and/or bathing, steaming by blessed incense, and re-wearing the patient’s own gown after storing it in the FH’s place for one night. However, many other traditional remedies not linked to Islamic beliefs were also used, such as ingestion of uncharted herbs as powder, liquid, alone or mixed with honey, or as a paste to massage onto the body. These methods are commonly used in Arab communities. About one quarter of the patients were treated with harmful methods for exorcism like frequent jabbing by the healer’s baton, harsh thrusting or cruel beating all over the body, beating with a stick or slapping or hitting the patient’s head against the wall to get the ‘jinn’ out. More rarely, stabbing or cautery was used. Some young female patients reported sexual exploitation by FHs at their houses or at secure hostels near shrines.” (Younis/Lafta/et al., November 2019, S. 5)

Laut dem Bericht beeinträchtige die Inanspruchnahme von Hilfe durch traditionelle Heiler oder Wunderheiler die effiziente psychiatrische Versorgung von PatientInnen negativ und führe zu einer Verzögerung beim Zugang zu psychiatrischer Beratung betreffend die Behandlung schwerer psychischer Störungen. Dies könne zu Mord oder Selbstmord, medizinischen Komplikationen, sozialen Problemen und/oder finanzieller Ausbeutung sowie zu physischem, verbalem und sexuellem Missbrauch der PatientInnen führen:

„Seeking help from traditional or FHs negatively interferes with providing efficient mental healthcare to patients, causing a delay in accessing psychiatric consultation for treatment of serious mental disorders. It may lead to homicide or suicide, medical complications, social problems, and/or financial exploitation in addition to physical, verbal, and sexual abuse of the patients.” (Younis/Lafta/et al., November 2019, S. 2)

Die Studie, die noch weitere Informationen zu diesem Thema beinhaltet, kann unter dem folgenden Link abgerufen werden:

·      Younis, Maha S.; Lafta, Riyadh K., et al.: Faith healers are taking over the role of psychiatrists in Iraq, 29. November 2019
https://www.qscience.com/docserver/fulltext/qmj/2019/3/qmj.2019.13.pdf?expires=1588078303&id=id&accname=guest&checksum=0F7206AFEF1D620E7B09ED3B5CF23B7C

Umgang von Institutionen/staatlichen Stellen, Diskriminierung bis hin zu Stigmatisierung im Gesundheitswesen und durch staatliche Akteure

Laut dem USDOS-Bericht zur Menschenrechtslage vom März 2020 (Berichtszeitraum 2019) sehe die Verfassung vor, dass die Regierung durch Gesetze und Verordnungen die soziale und gesundheitliche Sicherheit von Menschen mit Beeinträchtigungen garantiere, unter anderem durch den Schutz vor Diskriminierung und die Bereitstellung von Wohnraum und speziellen Pflege- und Rehabilitationsprogrammen. Trotz der Verfassungsgarantien würde es jedoch kein Gesetz geben, dass die Diskriminierung von Menschen mit körperlichen, sensorischen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen verhindere. Menschen mit Beeinträchtigungen hätten nur begrenzt Zugang zu Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsdiensten, Informationen, Kommunikation, Gebäuden, Transport, dem Justizsystem oder anderen staatlichen Diensten. Weiters hält das USDOS fest, dass es im Irak im Berichtszeitraum keine psychische Unterstützung für Gefangene mit psychischen Beeinträchtigungen gegeben habe:

The constitution states the government, through law and regulations, guarantees the social and health security of persons with disabilities, including through protection against discrimination and provision of housing and special programs of care and rehabilitation. Despite constitutional guarantees, no laws prohibit discrimination against persons with physical, sensory, intellectual, or mental disabilities. Persons with disabilities had limited access to education, employment, health services, information, communications, buildings, transportation, the judicial system, or other state services.” (USDOS, 11. März 2019, Section 6)

„Mental health support for prisoners with mental disabilities did not exist.” (USDOS, 11. März 2019, Section 6)

MEMO zitiert im Bericht vom Mai 2019 den bereits erwähnten Professor für Psychiatrie an der Universität von Bagdad, Nesif Al-Hemiary, der angebe, dass in einem der Krankenhäuser im Irak etwa 40 Prozent der PatientInnen bereit seien, entlassen zu werden, sie aber nirgendwo hingehen könnten, da sie dann auf der Straße landen würden und letztlich wieder zurückkehren würden. Damit psychotische und schizophrene PatienInnen außerhalb solcher Einrichtungen leben könnten, sei einerseits die Unterstützung der Regierung gefordert, die Betreuung liege jedoch in solchen Fällen in den Händen der Familie. Aufgrund der Unzulänglichkeit der Krankenhäuser habe die Regierung nun versucht, die Betroffenen mit monatlichen Zahlungen zu unterstützen. Für Staatsbedienstete gebe es voll bezahlten Krankenstand für die Dauer der Erkrankung. Für jemanden, der arbeitslos sei, sei der Betrag jedoch mit etwa 150 Dollar (etwa 138 Euro, Anm. ACCORD) gering, so Al-Hemiary:

„With the country in ruins, developing social and community services is paramount to help patients begin to live normal lives. Al-Hemiary says that at one of the hospitals in Iraq, around 40 per cent of the patients are ready to be discharged but have nowhere to go. ‘If they discharge them, they will end up in the street, and they will come back again,’ he says. ‘We need the support from the government so that those people can go out into society and can live like human beings.’ In these cases, the responsibility largely falls on the family to take care of the psychotic or schizophrenic patient. Though family values are important in Iraq, the burden is difficult, and possibly inappropriate, for the family to take responsibility for. ‘Of course the psychotic patient is a burden. Because the hospitals are inadequate, the government has tried to give some support for them by providing a monthly salary,’ he explains. ‘For those who are working in a government position, they provide them with fully paid leave while they are sick. However, for someone who is unemployed, the amount is low, like $150.’” (MEMO, 14. Mai 2019)

Der bereits erwähnte Studienbericht vom November 2019 (AutorInnen: Maha S. Younis, Riyadh K. Lafta, et al.) hält fest, dass einige berühmte Wunderheiler ihren Beruf offen und ohne jegliche Kontrolle „vor den Augen des Staates“ ausüben würden:

„Interestingly, some famous healers are practicing their job frankly under the eyes of the state without any control.” (Younis/Lafta/et al., November 2019, S. 4) 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 30. April 2020)

·      EASO – European Asylum Support Office: Country Guidance: Iraq; Guidance note and common analysis, Juni 2019
https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Iraq_2019.pdf
 

·      MEMO - Middle East Monitor: Fear of isolation drives mentally ill in Iraq away from doctors, 14. Mai 2019
https://www.middleeastmonitor.com/20190514-fear-of-isolation-drives-mentally-ill-in-iraq-away-from-doctors/

·      The National: ‘The life we’re living is nothing more than hell’: Iraq’s mental health crisis, 22. November 2019
https://www.thenational.ae/world/mena/the-life-we-re-living-is-nothing-more-than-hell-iraq-s-mental-health-crisis-1.940388

·      UNFPA – United Nations Population Fund: Humanitarian Crisis Persists in ‘Post-Conflict’ Iraq, 2019
https://iraq.unfpa.org/sites/default/files/resource-pdf/19-255-MHPSS-Case-IRAQ-2019-10-04-1308_0.pdf

·      WHO – World Health Organization: Mental Health Atlas 2017 Member State Profile; Iraq, 2018
https://www.ecoi.net/en/file/local/2002780/IRQ.pdf

·      WHO – World Health Organization: WHO and Ministry of Health conduct mental health training for non-specialist health care professionals in Al-Anbar governorate, 16. September 2019
http://www.emro.who.int/irq/iraq-news/who-and-ministry-of-health-conduct-mental-health-training-for-non-specialist-health-care-professionals-in-al-anbar-governorate.html

·      USDOS – US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2019 - Iraq, 11. März 2020
https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html
 

·      Younis, Maha S.; Lafta, Riyadh K., et al.: Faith healers are taking over the role of psychiatrists in Iraq, 29. November 2019
https://www.qscience.com/docserver/fulltext/qmj/2019/3/qmj.2019.13.pdf?expires=1588078303&id=id&accname=guest&checksum=0F7206AFEF1D620E7B09ED3B5CF23B7C