Anfragebeantwortung zu Syrien: Lage von alleinstehenden, geschiedenen Frauen in Gebieten unter Kontrolle der Regierung, die erst vor kurzem von Islamisten befreit wurden: konkrete Gefahren, Konsequenzen für Frau, die selbstständig ihren Alltag bestreiten möchte [a-10644]

 

20. Juli 2018

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

Es konnten keine spezifischen Informationen zur Lage von alleinstehenden, geschiedenen Frauen in Gebieten unter Regierungskontrolle gefunden werden. Dies lässt nicht notwendigerweise Rückschlüsse auf die Lage von solchen Frauen zu. Gesucht wurde mittels ecoi.net, Refworld, Factiva, und Google nach einer Kombination aus folgenden Suchbegriffen: divorced, single, unmarried, women, live, work, housing, female-headed households

Die folgenden Quellen enthalten allgemeine Informationen zur Lage alleinstehender Frauen, insbesondere in Gebieten unter Regierungskontrolle, sowie zur Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt:

Die Fokusgruppe Geschlechtsspezifische Gewalt des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) veröffentlicht im November 2017 einen Bericht zu einer Studie über Gewalt an Frauen in Syrien, im Rahmen derer Fokusgruppendiskussionen in den einzelnen Provinzen durchgeführt wurden. Was die Provinz Rural Damascus (arabisch: Rif Dimashq, in dem auch Ostghouta liegt, Anm. ACCORD) angeht, so wird erwähnt, dass geschlechtsspezifische Gewalt in Unterkünften, in Verkehrsmitteln, an Sicherheits- und Kontrollposten, an stark frequentierten Plätzen sowie an Austeilungsstandorten für Hilfsgüter vorkomme. Es komme zu Schikanen auf der Straße. Frauen und Mädchen seien, um eine Unterkunft oder Hilfsgüter zu erlangen, Berichten zufolge sexueller Ausbeutung durch Personen in Machtpositionen gegen ausgesetzt. Auch erwachsene Frauen seien Gewalt, darunter Schikanen auf der Straße, ausgesetzt. Besonders gefährdet seien diesbezüglich laut Aussagen in den Fokusgruppen unbegleitete Frauen, darunter geschiedene Frauen und Witwen, da sie von der Gesellschaft als „wertlos“ angesehen würden:

„GBV [Gender-based violence] takes place in shelters, camps (which are reported to be increasing in population), modes of transportation, security posts, checkpoints, crowded places, dark or unlit places, schools, households (especially multi-family) and distribution points“ (UNFPA, November 2017, S. 134)

„Most commonly, this took the form of sexual harassment, including street harassment. There were also several mentions of harassment in terms of taking photographs of women without their consent and using this to blackmail or coerce women through fear of causing a scandal. Quantitative data findings also indicate that women and adolescent girls are particularly affected by sexual harassment in Rural Damascus governorate“ (UNFPA, November 2017, S. 136)

“Women and girls experience sexual exploitation from those in positions of power in exchange for housing, aid, or delivery of aid – according to reports. […] Adult women also face violence, including street harassment. Those at most risk according to FGDs [Focus Group Discussion] are women that are unaccompanied, such as divorcees and widows, because they are thought of as ‘valueless’ in society.” (UNFPA, November 2017, S. 137)

Einzelne Zitate der spezifischen Aussagen aus den Fokusgruppendiskussionen finden sich in dem oben zitierten Bericht:

·      UNFPA – United Nations Population Fund: Voices from Syria 2018 – Whole of Syria Gender-Based Violence Area of Responsibility, November 2017
https://www.humanitarianresponse.info/sites/www.humanitarianresponse.info/files/documents/files/2017-12_voices_from_syria_2nd_edition.pdf

 In seinen im November 2017 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Syrien erwähnt das Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) unter Berufung auf verschiedene Quellen, dass geschiedene Frauen und Witwen Berichten zufolge sozialer Stigmatisierung und rechtlicher Diskriminierung ausgesetzt seien. (UNHCR, 3. November 2017, S. 61)

Al-Arab (The Arab Weekly), eine in Großbritannien, den USA und den Vereinigten Arabischen Emiraten erscheinende Wochenzeitung, berichtet im September 2016, dass das Phänomen der Polygamie in Syrien wieder vermehrt auftrete. Gleichzeitig sei auch die Scheidungsrate gestiegen. Gemäß neuer statistischer Daten liege der Anteil unverheirateter Frauen in Syrien bei 70 Prozent, da viele Männer entweder ins Militär eingetreten oder ins Ausland geflohen seien. Eine Frau namens Maha, verwitwet mit zwei Kindern, habe sich aufgrund ihrer schweren Lebensumstände dazu entschlossen, die Zweitfrau ihres Cousins zu werden. Maha lebe im Umkreis von Damaskus und habe nach dem Tod ihres Mannes nur schwer ihr Leben bestreiten können. Muhammad, ihr Cousin, habe zusammen mit vier seiner Freunde beschlossen, jeweils eine verwitwete Zweitfrau zu heiraten, um diesen durch die Heirat Schutz zu gewähren. Polygamie sei in Syrien zwar erlaubt, allerdings zuvor ein eher seltenes Phänomen gewesen. Bei den Gerichten in Damaskus seien im Jahr 2015 Ehen dreißig Prozent der registrierten Ehen Zweitehen gewesen. Der Artikel erwähnt allerdings auch, dass aufgrund der instabilen Lage und des Konflikts Männer vielen Gefahren ausgesetzt seien und man nicht wissen könne, ob sie überleben würden. Daher würden es viele Familien bevorzugen, dass ihre Töchter unverheiratet blieben, sodass sie keine Kinder bekommen und früh verwitwet würden.

Neben dem Anstieg polygamer Ehen sei auch die Anzahl von Scheidungen gestiegen. Im Jahr 2015 seien in Damaskus 7028 Scheidungen gerichtlich registriert worden, im Jahr 2010 seien es noch 5.318 gewesen.“ (Al-Arab, 14. September 2016)

Syria Deeply, ein laut eigenen Angaben unabhängiges digitales Medienprojekt, das Teil des in New York ansässigen journalistischen Unternehmens News Deeply ist, berichtet im Dezember 2017, dass der Konflikt in Syrien die Rolle der Frauen innerhalb der arbeitenden Bevölkerung verändert habe und vormals von Männern dominierte Sektoren auch für Frauen geöffnet habe. Vor dem Krieg sei die Beteiligung der Frauen am formalen Arbeitsmarkt im Jahr 2010 bei 22 Prozent gelegen. Seit 2011 sei dieser Anteil gesunken, jedoch seien offizielle Arbeitsmöglichkeiten für Männer und Frauen gesunken, wobei letztere nun mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Einkommen durch informelle Arbeit und geringfügige Tätigkeiten erhalten könnten. Im Jahr 2015 sei die Erwerbsrate von Frauen bei 14 Prozent gelegen. In manchen Bereichen würden Frauen die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung ausmachen. Laut Angaben einer Frauenrechtlerin gebe es in Damaskus Fabriken, in denen fast ausschließlich Frauen arbeiten würden. Frauen würden auch in Restaurants und anderen Dienstleistungsgewerben arbeiten:

„The conflict in Syria has had a devastating impact on women. It has also shifted their role in the workforce, inadvertently opening the door to previously male-dominated employment sectors. Consequently, women are becoming increasingly influential in the public sphere and in shaping Syria’s future. […]

Before the war, in 2010 women made up 22 percent of the formal labor force. Since 2011 that number has dropped, but formal labor opportunities have decreased for both men and women and the latter are now more likely to be found earning through informal and small-scale work. The female employment rate in 2015 was 14 percent. In some sectors, women make up the overwhelming majority of a workforce. In some areas of Syria 90 percent of the agricultural workforce is female. Necessity has also forced them into roles that were unthinkable before the conflict. Saadeh says there are factories in Damascus almost totally populated by women. ‘They work in restaurants, in services. They go to factories, they do agriculture, they make the handmade things. They are the base today for the future,’ Saadeh said. The conflict has also allowed women to break into the civil society, media and government sectors – something that was consistently prevented prior to the war.“ (Syria Deeply, 22. Dezember 2017)

Die französische Tageszeitung Libération schreibt im Juli 2018, dass sich im Irak und in Syrien, insbesondere in Regionen unter Einfluss iranischer Milizen, das Phänomen der „Zeitehe“ ausgebreitet habe. Hierbei werde eine muslimische Heirat auf Zeit abgeschlossen. Die Mindestzeit betrage hierbei eine Stunde. Aufgrund der zahlreichen jungen, unverheirateten Frauen oder Witwen, die in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen leben würden, sei die Anzahl dieser Arten von Eheschließung seit Beginn des Jahres 2018 angestiegen. Für mittellose Syrerinnen handle es sich hierbei um Summen von 20 bis 50 Euro pro Tag, mit absteigenden Tarifen, je länger die Ehe dauere. Diese Art von Ehe entfalte keine rechtlichen Ansprüche auf Erbe oder Pension. FrauenrechtlerInnen seien über das Phänomen der Zeitehe zunehmend besorgt, da sie als eine Art verschleierte Prostitution angesehen werde, die besonders schutzbedürftige Frauen ausbeute:

„La pratique s’est répandue ces dernières années dans plusieurs pays arabes, notamment en Irak et en Syrie, dans les zones sous l’influence des milices chiites iraniennes. Elle consiste à contracter un mariage musulman pour une durée déterminée convenue entre l’homme et la femme. Une union allant d’une heure minimum, à un jour, une semaine, et jusqu’à 99 ans au maximum, et pouvant être immédiatement consommée. […]

Le marché s’est développé du fait des nombreuses jeunes femmes célibataires ou veuves dans le besoin, favorisant la multiplication de ces contrats depuis le début de l’année. Contre des sommes variant entre l’équivalent de 20 à 50 euros par jour, avec des tarifs dégressifs selon la durée du mariage, les Syriennes démunies acceptent un gain ponctuel. Car ce type de mariage ne donne aucun droit à un héritage ou à une pension. Et si théoriquement les enfants nés d’une telle union doivent être reconnus par le père, il est souvent difficile de retrouver ce dernier. […]

L’institutionnalisation du mariage de plaisir longtemps dénoncé pour des raisons religieuses et morales inquiète de plus en plus les défenseurs des droits des femmes dans les pays concernés. Elle est perçue comme une prostitution déguisée qui profite de la situation des femmes les plus vulnérables.“ (Libération, 14. Juli 2018)

 


Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 20. Juli 2018)