Anfragebeantwortung zum Irak: Zwangsverheiratung/Fasliya gegen den Willen des Vaters; Bedrohung durch den eigenen Stamm bei Verweigerung [a-10995]

20. Mai 2019

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

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Die in saudischem Besitz befindliche, in London herausgegebene Onlinezeitung Elaph berichtet im April 2019 über bestimmte Brauchtümer der Stämme des Südirak, „Fasliya“ und „Nahwa“ genannt, die insbesondere für Frauen verheerende Folgen haben könnten. Bei dem Brauch, der „Nahwa“ heiße, gehe es um eine Zwangsverheiratung der Frau mit einem Cousin der Seite des Onkels väterlicherseits. Der Stammesbrauch sehe vor, dass die Männer des Stammes die Heirat einer Frau, die zum Stamm gehöre, verbieten und sie stattdessen zur Heirat mit einem Mitglied der Familie zwingen könnten. Der Artikel berichtet von einem Fall in Al-Amara in der Provinz Maysan, bei dem ein Mädchen namens Mariam sich einer Nahwa durch Selbstmord entzogen habe. Zuvor habe ein Stammesscheich noch versucht, den Cousin des Mädchens zu einem Verzicht auf die Heirat umzustimmen. Der Cousin habe jedoch darauf bestanden und mit Gewalt gedroht. Der Vater des Mädchens sowie dessen Brüder hätten in diesem Fall nicht das Recht, Einspruch zu erheben und sich der Stammestradition zu widersetzen, selbst wenn sie dies wollten. Diese Stammestradition gebe es in den Städten nicht mehr, sei aber in den ländlichen Gebieten insbesondere im Südirak verbreitet. (Elaph, April 2019)

 

Der irakische Schriftsteller Omar al-Jaffal hält in einem älteren Artikel vom Juni 2015, veröffentlicht auf Al-Monitor, einer auf Berichterstattung zum Nahen Osten spezialisierten Medienplattform, fest, dass Details zu Fasliya aufgrund der Verschlossenheit der Stämme unbekannt bleiben würden. (Al-Monitor, 18. Juni 2018)

 

Es konnten keine weiteren Informationen zum Thema Zwangsverheiratungen gegen den Willen des Vaters der Braut gefunden werden. Auch zum Thema Bedrohung durch den eigenen Stamm bei Verweigerung konnten keine konkreten Informationen gefunden werden. Im Folgenden finden sich einige für diese Themen relevante allgemeine Informationen zu Zwangsverheiratung, Fasliya und Nahwa im Irak:

 

Im Blog der US-amerikanischen Medienagentur Fair Observer behandeln Janan Aljabiri, eine Sozial- und Politikwissenschafterin, die sich mit Frauenrechten im Nahen Osten beschäftigt, und Joanne Payton, eine Expertin im Bereich geschlechtsspezifische Gewalt, in einem Artikel vom Dezember 2015 das Thema Fasliya im Irak. Gemäß der Autorinnen sei es Frauen, die im Rahmen solcher Vereinbarungen verheiratet worden seien, nicht erlaubt, sich scheiden zu lassen. Darüber hinaus seien sie verpflichtet, jeden Kontakt mit ihrer Herkunftsfamilie abzubrechen. Es könne dabei sein, dass die junge Braut (bei der es sich durchaus auch um ein Kind handeln könne) von ihrer neuen Familie als Vergeltung für das an einem Mitglied der Familie begangene Verbrechen misshandelt werde und als regelrechte Sklavin ohne den Status oder die Mittel einer offiziellen Ehefrau („official wife“) leben müsse. Menschen aus ärmlichen Verhältnissen, die kein Blutgeld (An die Angehörigen eines Opfers von Mord oder Totschlag geleistetes Sühnegeld, Anmerkung ACCORD) aufbringen könnten, würden die Aussöhnung mit dem anderen Stamm mit größter Wahrscheinlichkeit in Form einer solchen Verheiratung der eigenen Tochter vornehmen. Für solche Familienangehörige sei es auch besonders unwahrscheinlich, dass sie im Falle von missbräuchlicher Behandlung der Tochter innerhalb einer solchen Ehe die Möglichkeit haben würden, zu intervenieren:

Woman-for-Blood Marriages Persist in Iraq

Women married under such arrangements may not divorce and are required to sever any contact with their natal family. The young bride—who may well be a child for whom no other arrangement has yet been made—may be mistreated by the family in reprisal for the initial crime against their kinsman, and live as a virtual slave with none of the status or recourses of an official wife. Poor people, unable to raise blood money, are most likely to marry off their daughters in such forms of reconciliation. They are also least likely to be able to intercede in cases of marital abuse.” (Aljabiri/Payton, 29. Dezember 2015)

ECPAT International, ein globales Netzwerk von Zivilgesellschaftsorganisationen, die sich für das Ende sexueller Ausbeutung von Kindern einsetzen, schreibt in einem Bericht vom März 2019 unter Verweis auf verschiedene Quellen, dass Zwangsheiraten unter Stämmen im Irak beobachtet würden, bei denen die Tradition Fasliya weit verbreitet sei. Bei dieser Tradition würden Stammesstreitigkeiten durch die „Schenkung" eines weiblichen Familienmitglieds an einen anderen Stamm gelöst. Die Häufigkeit von Fasliya-Ehen sei am größten in ländlichen und ärmlichen Gebieten, insbesondere in den südlichsten Provinzen des Irak. Häufig seien minderjährige Mädchen davon betroffen. Beispielsweise habe es für das Jahr 2015 alleine für die Provinz Basra Berichte über 50 Mädchen und Frauen gegeben, die Opfer von Fasliya-Heiraten geworden seien. Laut einer lokalen Nachrichtenagentur hätten im Irak zwischen 2006 und 2016 fast 3.300 Fasliya-Heiraten stattgefunden.

Bei der Tradition Nehwa, die in ländlichen Gebieten im Nordirak üblich sei, würden Mädchen gezwungen, ihre Cousins väterlicherseits zu heiraten, beziehungsweise würden sie zwischen Familien getauscht werden, um den Brautpreis nicht zahlen zu müssen:

Forced marriage is observed among tribes in Iraq where the tradition of fasliya is widely practiced, in which tribal disputes are resolved by ‘gifting’ a female family member to another tribe. The incidence of fasliya marriages is highest in rural and poor areas, particularly in the southernmost provinces of Iraq, and often involves underage girls. In the single province of Basra for instance, 50 girls and women were reported victims of fasliya marriages in the year 2015 alone. According to a local news agency, nearly 3,300 fasliya marriages had taken place between 2006 and 2016 in the country. In al nehwa marriages, common in rural areas of northern Iraq, girls are forced to marry their cousins on their father’s side, and are exchanged between families to avoid paying bride price.” (ECPAT, März 2019, S. 14)

Das französische Auslandsfernsehen France 24 berichtet auf seiner Webseite in einem Artikel vom April 2019 ebenfalls über den oben beschriebenen Vorfall betreffend die Frau namens Mariam und hält darüber hinaus fest, dass die irakische Gesellschaft nach wie vor weitgehend konservativ geprägt sei. Sie sei an Stammestraditionen und religiöse Bräuche gebunden, die von der Hauptstadt Bagdad bis in die entlegenen ländlichen Provinzen praktiziert würden. Im von fast 40 Millionen Menschen bewohnten Land könne einem Clan-Namen bezüglich der Sicherung von Arbeit, Ehepartnern oder sogar von Wählerstimmen Bedeutung zukommen. Der Einfluss von Clans würde häufig den Einfluss staatlicher Institutionen übertrumpfen, da die Stämme - anstatt auf das offizielle Rechtssystem - auf ihre eigenen Vermittlungsmethoden zurückgreifen würden, um Streitigkeiten beizulegen.

Die Zwangsheirat einer Frau gemäß der Nahwa-Tradition werde per Gesetz mit drei Jahren Gefängnis für einen Cousin und zehn Jahren für einen entfernteren Verwandten bestraft. Allerdings habe die Zentralregierung nach der von den USA geführten Invasion im Jahr 2003 in weiten Teilen des Irak an Einfluss verloren, wodurch Stammesstrukturen gegenüber staatlichen Strukturen einen vorrangigen Stellenwert erhalten hätten. Das oben erwähnte Gesetz werde laut der irakischen Abgeordneten Intissar al-Juburi derzeit nicht angewendet, da keine Frau eine Beschwerde gegen ihre eigene Familie einreiche. Und die Bemühungen um die Einführung strenger Gesetze zum Schutz von Frauen würden durch das Vorherrschen politischer Pattsituationen und die Priorisierung von Sicherheits- und Wirtschaftsfragen behindert. In der Zwischenzeit würden die Stammesbräuche laut Maytham al-Saadi, Professor an der Universität von Maysan, immer weiter gefestigt. Seinen Angaben zufolge sei in der Vergangenheit Fasliya nur in Fällen vorgeschlagen worden, in denen es um Blutgeld ginge, aber in den letzten Jahrzehnten sei diese Praktik auch angewendet worden, um die gewöhnlichsten Streitigkeiten zwischen Stämmen beizulegen. Laut Al-Saadi handle es sich dabei um moderne Sklaverei:

Iraqi society remains largely conservative, bound by tribal traditions and religious customs practised from its sprawling capital Baghdad to far-flung rural provinces. In the country of nearly 40 million, clan names can carry weight in securing work, a spouse and even votes. They often trump government institutions, as tribes look to their own mediation methods to resolve disputes instead of the official court system. […]

Marrying a woman by force under ‘nahwa’ is punishable by three years in jail for a cousin and 10 years for a more distant relative. But as the central government lost influence across swathes of Iraq following the 2003 US-led invasion, tribal power structures took precedence. Now, ‘this law is not applied because no woman would file a complaint against her own family,’ said lawmaker Intissar al-Juburi. And efforts to introduce tough laws to protect women have been hampered by political stalemates and an emphasis on security and economic issues. Meanwhile, tribal customs are becoming further entrenched, according to Maytham al-Saadi, a professor at Misan University. ‘In the past, fasliyas would be proposed only in cases needing blood money, but in recent decades they've been used to end the simplest disputes between tribes,’ he said. ‘It's modern slavery.’” (France24, 18. April 2019)

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) erwähnt in einem Bericht vom Jänner 2018 zur Lösung von Stammeskonflikten, dass es Berichten zufolge seit 2014 insbesondere im Südirak zu einem Wiederaufleben der – gesetzlich verbotenen - Praktik Fasliya gekommen sei. Nach diesem Brauch werde ein Konflikt zwischen Stämmen derart gelöst, dass ein Stamm einem anderen Stamm ein oder mehrere Mädchen oder Frauen zur Heirat überlasse. In dieser Art von Ehe habe die Ehefrau kein Recht auf Scheidung und könne mit hoher Wahrscheinlichkeit Missbrauch ausgesetzt sein:

„Despite being banned by law, the use of women and girls as compensation for injury or death (‘fasliyah’) has reportedly seen a resurgence since 2014, particularly in southern Iraq. Under this custom, an inter-tribal conflict is resolved by one tribe giving one or several girls or women for marriage to another tribe. In this type of marriage, the woman has no right to divorce and is likely to be exposed to abuse.” (UNHCR, 15. Jänner 2018, S. 2)

Wir haben Ihre Anfrage auch an verschiedene Experten weitergeleitet, sollte noch eine Antwort bei uns einlangen, werden wir diese unverzüglich an Sie weiterleiten.

 

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 20. Mai 2019)