Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von ehemaligen IS-Mitgliedern, die im Ausland verurteilt wurden; Risiko der Doppelbestrafung; Hat ehemaliges IS-Mitglied mit Verfolgung oder strafrechtlichen Sanktionen zu rechnen? Droht ihm die Todesstrafe?; Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure [a-10971]

8. Mai 2019

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Lage von ehemaligen IS-Mitgliedern, die im Ausland verurteilt wurden; Risiko der Doppelbestrafung

Artikel 19 Absatz 5 der irakischen Verfassung von 2005 legt fest, dass eine angeklagte Person als unschuldig gilt, bis sie in einem fairen Verfahren schuldig gesprochen wird. Der Angeklagte kann nach seiner Freilassung nicht ein zweites Mal in derselben Angelegenheit strafrechtlich verfolgt werden, es sei denn es treten neue Beweise zu Tage. (Verfassung des Irak, undatiert)

 

Das in der Autonomen Region Kurdistan (Irak) ansässige kurdische Mediennetzwerk Rudaw berichtet im Dezember 2018, dass es aufgrund der mangelnden Kooperation zwischen den Justizsystemen der Autonomen Region Kurdistan (ARK) und der Zentralregierung in Bagdad zu Fällen von Doppelbestrafung von Personen kommen könne, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt worden seien. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) habe mit Jungen im Alter von 15 bis 17 Jahren gesprochen, die in der ARK eine Gefängnisstrafe in Zusammenhang mit Aktivitäten für die Gruppe Islamischer Staat (IS) verbüßt hätten. Nach ihrer Freilassung seien diese aus Angst, festgenommen und wegen derselben Straftat erneut verurteilt zu werden, nicht zu ihren Familien in den Zentralirak zurückgekehrt. Ein Junge, der erneut festgenommen worden sei, habe erzählt, dass er von den irakischen Gefängnisbehörden gefoltert worden sei, um seine Zugehörigkeit zum IS zu gestehen. Zwischen den separaten Justizsystemen der ARK und des Zentralirak sei die Kommunikation über die Jahre hinweg zusammengebrochen. Ein gemeinsames Justizkomitee sei nun eingerichtet worden, um die Koordination zu verbessern:

The parallel judicial systems operating in the Kurdistan Region and Iraq have insufficient coordination, meaning those convicted of terror crimes could face prosecution in both jurisdictions, Human Rights Watch warned in a new report. 'The lack of coordination between Iraq’s two separate judicial systems has led to a risk of repeated prosecutions for the same crime,‘ said Lama Fakih, deputy director for the Middle East and North Africa at Human Rights Watch. […]

Human Rights Watch spoke to boys, aged 15 to 17, who had completed their sentences for ISIS-related crimes in the Kurdistan Region. After their release, they have not returned to their families who live in Iraq, afraid they could be rearrested and charged for the same crimes. 'One boy who was rearrested said that he was then tortured to confess ISIS affiliation by Iraqi prison authorities,‘ said Human Rights Watch. The Kurdistan Region and Iraq have separate judicial systems and communications between them have broken down over the years. A new joint judicial committee has been established to improve coordination between them. It held its first meeting on December 17.“ (Rudaw, 23. Dezember 2018)

Es konnten darüber hinaus keine Informationen dazu gefunden werden, ob das Verbot der Doppelbestrafung eingehalten beziehungsweise umgesetzt wird.

 

Da keine Berichte über Auslieferungen von außerhalb des Irak verurteilten irakischen IS-Mitgliedern an den Irak sowie zur Anrechnung von im Ausland verbüßten Strafen gefunden werden konnten, finden sich im folgenden allgemeine Informationen zur Strafverfolgung von mutmaßlichen IS-Mitgliedern im Irak.

Hat ein ehemaliges IS-Mitglied mit Verfolgung oder strafrechtlichen Sanktionen zu rechnen? Droht ihm die Todesstrafe?; Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure

Die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) berichtet im März 2018, dass im Irak mindestens 19.000 Personen, denen Verbindungen zum IS oder andere terroristische Aktivitäten vorgeworfen würden, festgenommen worden beziehungsweise inhaftiert seien. Mehr als 3.000 von ihnen seien zum Tode verurteilt worden. Aufgrund der massenhaften Inhaftierung und den zügigen Verurteilungen seien Bedenken in Bezug auf möglichen Justizirrtum aufgekommen. Man nehme an, dass tausende weitere Personen von anderen Behörden, der irakischen Bundespolizei, dem Militärgeheimdienst und den kurdischen Truppen, festgehalten würden. Während der Kämpfe gegen den IS habe der Irak tausende IS-Verdächtige in Verfahren vor Antiterrorgerichten verurteilt. Die Verfahren, die Mitarbeiter von AP oder Menschenrechtsgruppen beobachtet hätten, hätten oft nicht länger als 30 Minuten gedauert. Die große Mehrheit der Angeklagten seien auf Basis des irakischen Terrorgesetzes verurteilt worden, das als zu weitreichend kritisiert worden sei. Die größte Anzahl von verurteilten IS-Mitgliedern befinde sich im Zentralgefängnis Nasiriya, etwa 320 Kilometer südöstlich von Bagdad. Dort seien mehr als 6.000 Personen untergebracht, denen man terroristische Straftaten zur Last lege. In Zellen, die eigentlich für zwei Personen gedacht seien, seien nun sechs Personen untergebracht, so ein Gefängniswärter:

„Iraq has detained or imprisoned at least 19,000 people accused of connections to the Islamic State group or other terror-related offenses, and sentenced more than 3,000 of them to death, according to an analysis by The Associated Press. The mass incarceration and speed of guilty verdicts raise concerns over potential miscarriages of justice - and worries that jailed militants are recruiting within the general prison population to build new extremist networks. The AP count is based partially on an analysis of a spreadsheet listing all 27,849 people imprisoned in Iraq as of late January, provided by an official who requested anonymity because he was not authorized to speak to the media. Thousands more also are believed to be held in detention by other bodies, including the Federal Police, military intelligence and Kurdish forces. Those exact figures could not be immediately obtained. […]

Throughout the fighting, Iraq has pushed thousands of IS suspects through trials in counterterrorism courts. Trials witnessed by the AP and human rights groups often took no longer than 30 minutes. The vast majority were convicted under Iraq’s Terrorism Law, which has been criticized as overly broad. Asked about the process, Saad al-Hadithi, a government spokesman, said, 'The government is intent that every criminal and terrorist receive just punishment.‘ The largest concentration of those with IS-related convictions is in Nasiriyah Central Prison, about 200 miles (320 kilometers) southeast of Baghdad, a sprawling maximum-security complex housing more than 6,000 people accused of terrorism-related offenses. Cells designed to hold two prisoners now hold six, according to a prison official who spoke on condition of anonymity in line with regulations. The official said overcrowding makes it difficult to segregate prisoners charged with terrorism and that an inadequate number of guards means IS members are openly promoting their ideology inside the prison.“ (AP, 22. März 2018)

Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) erklärt im März 2019, dass die Antiterrorgesetzgebung im Irak vornehmlich aus dem im Jahr 2005 verabschiedeten Antiterrorismusgesetz bestehe, das den Begriff „Terrorismus“ sehr weit und ungenau fasse. Jede von einer Einzelperson oder einer Organisation begangene Straftat, die „eine Einzelperson, eine Gruppe, eine offizielle oder inoffizielle Organisation ins Visier nehme und Schaden an öffentlichem oder privatem Eigentum verursache“ sowie darauf abziele, „zur Erfüllung terroristischer Zwecke Frieden, Stabilität und nationale Einheit zu stören oder Schrecken und Angst unter den Menschen zu verbreiten, falle somit unter den Straftatbestand einer terroristischen Handlung. Das Gesetz sehe für denjenigen, der eine terroristische Tat verübt, angestiftet, geplant, finanziert oder bei ihrer Durchführung geholfen habe, die Todesstrafe vor. Derjenige, der eine solche Tat verheimliche oder den Straftätern Unterschlupf gewähre, würde zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt:

Iraq’s leading piece of counter-terrorism legislation - the 2005 Anti-Terrorism Law (no. 13/2005) - defines terrorism in sweeping terms to include 'every criminal act committed by an individual or an organized group‘ that targets an individual, group of individuals, or official or unofficial institutions and causes damage to public or private properties 'with the aim to disturb the peace, stability, and national unity or to bring about horror and fear among people and to create chaos to achieve terrorist goals.‘ The law punishes anyone who committed, incited, planned, financed or assisted a terror act with death, and gives a life sentence to anyone who covers up such an act or harbors those who participated.“ (HRW, 6. März 2019, S. 46)

Eine englische Übersetzung des gesamten Antiterrorgesetzes von 2005 ist unter folgendem Link abrufbar:

 

Laut einer Pressemitteilung von HRW vom August 2018 stütze sich das irakische Justizsystem sehr stark auf Geständnisse als einzige Beweismittel in einem Verfahren. Dies sei insbesondere bei den Verfahren von mutmaßlichen IS-Mitgliedern der Fall. Die Richter würden nur selten auf Vorwürfe der Folter, die von Angeklagten im Gerichtssaal erhoben würden, eingehen. Viele würden die Vorwürfe ignorieren oder in manchen Fällen eine Neuverhandlung ansetzen, ohne Ermittlungen gegen den Polizisten anzuordnen, der mutmaßlich in die missbräuchlichen Handlungen involviert gewesen sei:

„However, Iraq’s criminal justice system relies heavily on a confession as the sole evidence in a trial, including in particular the current trials of thousands of ISIS suspects. Judges in Iraq rarely respond to allegations of torture in the courtroom appropriately. Most ignore the allegations, or, in some cases, they order a retrial without investigating the officer implicated in the abuse.“ (HRW, 19. August 2018)

Das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem Bericht zur Menschenrechtslage vom März 2019 (Berichtszeitraum 2018) ebenfalls über Unregelmäßigkeiten bei Gerichtsverfahren im Allgemeinen. Laut dem Bericht sei es bei den meisten Fällen willkürlicher oder rechtswidriger Festnahmen um mutmaßliche Mitglieder oder Unterstützer des IS sowie deren Familienmitglieder und mit ihnen in Verbindung stehende Personen gegangen. Zumeist habe es sich bei diesen Fällen um willkürliche oder rechtswidrige Festnahmen von arabischen Sunniten, darunter auch Binnenvertriebene, gehandelt. Laut einer in der Provinz Ninawa tätigen zivilgesellschaftlichen Organisation sei es bei Verhaftungen aufgrund der verschiedenen vor Ort agierenden Polizeibehörden, Nachrichtendienste und Sicherheitskräfte, darunter auch die Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilisation Forces, PMF), schwierig auszumachen, wo und von wem die inhaftierte Person festgehalten werde. Behörden hätten Berichten zufolge viele Inhaftierte monatelang oder auch jahrelang nach ihrer Verhaftung festgehalten, ohne ein Gerichtsverfahren einzuleiten. Davon seien insbesondere diejenigen betroffen gewesen, die auf Basis des Antiterrorgesetzes verhaftet worden seien. Manchmal seien die Inhaftierten auch ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden. Dabei hätten sie weder Verteidigungsbeistand bekommen noch seien sie einem Richter vorgeführt worden oder hätten innerhalb des gesetzlich festgelegten Zeitraums die gegen sie erhobene Anklage zu Gesicht bekommen. Berichten zufolge hätten die Behörden Familienmitglieder von flüchtigen Terrorverdächtigen, darunter zumeist sunnitische Araber, festgenommen, um die Flüchtigen dazu zu zwingen, sich zu stellen:

„Most reports of arbitrary or unlawful detention involved suspected members or supporters of ISIS and their associates and family members. Individuals arbitrarily or unlawfully detained were predominantly Sunni Arabs, including IDPs. There were reports of Iran-aligned PMF [Popular Mobilisation Forces] groups also arbitrarily or unlawfully detaining Kurds and Turkmen in Kirkuk and Christians and other minorities in western Ninewa and the Ninewa Plain. A Ninewa-based CSO [Civil Society Organisation] reported that the proliferation of intelligence, police, and security agencies, including the PMF, making arrests in Mosul complicated the ability of detainees’ families to determine which agencies held their relatives. […]

Authorities reportedly held numerous detainees without trial for months or years after arrest, particularly those detained under the antiterrorism law. Authorities sometimes held detainees incommunicado, without access to defense counsel, presentation before a judge, or arraignment on formal charges within the legally mandated period. Authorities reportedly detained spouses and other family members of fugitives--mostly Sunni Arabs wanted on terrorism charges--to compel their surrender.“ (USDOS, 13. März 2019, Section 1d)

Angeklagten stehe gesetzlich das Recht zu, bei ihren Verhandlungen präsent zu sein und die Beratung eines Anwalts in Anspruch zu nehmen, so der USDOS-Bericht weiter. Jedoch habe es de facto nicht ausreichend Zugang zu VerteidigungsanwältInnen gegeben. Viele Angeklagte hätten bei der ersten Verhandlung ihren Rechtsanwalt das erste Mal zu Gesicht bekommen und hätten während der Untersuchungshaft nur eingeschränkten bis zu gar keinen Zugang zu rechtlicher Beratung gehabt. Dies habe insbesondere bei Antiterrorgerichten zugetroffen, wo Berichten zufolge Richter danach gestrebt hätten, tausende mutmaßliche IS-Mitglieder schuldig zu sprechen, darunter auch durch Einsatz von Massenverhandlungen. Angeklagten und ihren Verteidigern sei nicht immer der Zugang zu Beweismitteln gewährt worden. In anderen Fällen hätten Staatsbedienstete für die Akteneinsicht ein Bestechungsgeld verlangt. In vielen berichteten Fällen hätten sich Richter auf erzwungene Geständnisse als Hauptbeweis oder einzigen Beweis für ihren Schuldspruch gestützt ohne forensische Beweise oder Zeugenaussagen heranzuziehen:

„Defendants’ rights under law include the right to be present at their trial and the right to a privately retained or court-appointed counsel, at public expense, if needed. Defendants’ insufficient access to defense attorneys was a serious defect in investigative, trial, and appellate proceedings. Many defendants met their lawyers for the first time during the initial hearing and had limited to no access to legal counsel during pretrial detention. This was particularly true in counterterrorism courts, where judicial officials reportedly sought to complete convictions and sentencing for thousands of suspected ISIS members quickly, including through mass trials. […]

Judges assemble evidence and adjudicate guilt or innocence. Defendants and their attorneys have the right, under law, to confront witnesses against them and present witnesses and evidence. They may not be compelled to testify or confess guilt. Nevertheless, defendants and their attorneys were not always granted access to evidence, or government officials demanded a bribe in exchange for access to the case files. In numerous cases judges reportedly relied on forced or coerced confessions as the primary or sole source of evidence in convictions, without the corroboration of forensic evidence or independent witness testimony.“ (USDOS, 13. März 2019, Section 1e)

Human Rights Watch berichtet im Oktober 2018, dass die USA mutmaßliche ausländische IS-Mitglieder aus Nordsyrien in den Irak überstellt hätten, ohne das Risiko der Folter und unfairer Gerichtsverfahren zu beachten, dem diese Überstellten nun ausgesetzt seien. Unabhängige Beobachter von vier Gerichtsverfahren zu Terrorismus in Bagdad hätten über Ausländer berichtet, die unter anderem aufgrund ihrer mutmaßlichen IS-Mitgliedschaft im Irak inhaftiert seien. Laut HRW werde mutmaßlichen IS-Mitgliedern im Irak generell ein faires Gerichtsverfahren verwehrt und sie würden häufig Opfer von Folter. Mehrere Quellen, die die Verhandlungen von vier ausländischen mutmaßlichen IS-Mitgliedern verfolgt hätten, hätten HRW berichtet, dass sie auf Basis des 2005 erlassenen Antiterrorgesetzes und wegen illegaler Einreise verurteilt worden seien. Zwei seien schuldig gesprochen worden, einer davon zum Tode verurteilt worden. In den anderen zwei Fällen sei noch kein Urteil gefallen:

The United States has transferred foreign nationals suspected of Islamic State ties from northern Syria to Iraq without apparent regard for the risk of torture and unfair trials in Iraq, Human Rights Watch said today. Independent observers of four recent terrorism trials in Baghdad reported that several foreign defendants, including from France, Australia, and Lebanon, had been tried in Iraq based, at least in part, on their alleged membership in the Islamic State (also known as ISIS). The defendants reported their capture in and transfer from Syria during the trials. Some alleged due process violations and, in two cases, being tortured in Iraq. A fifth detainee, a Palestinian national from Gaza, was also transferred from northeast Syria to Iraqi custody but Human Rights Watch does not know if he has been charged in Iraq. […]

International human rights and humanitarian law prohibits the transfer of detainees to countries where they are at serious risk of torture and mistreatment. In general, suspects linked to ISIS have been routinely denied fair trials and often face torture in Iraq. […]

Human Rights Watch did not attend the recent trials of the four foreign ISIS suspects but learned about the court proceedings from multiple sources, including independent trial observers. Iraq prosecuted the four under the 2005 Anti-Terrorism Law and for illegally entering the country. Two were convicted and sentenced, one to death. The other two cases are pending. All are believed to be in Counter Terrorism Service custody.“ (HRW, 31. Oktober 2018)

Im März 2019 macht HRW noch einmal auf die Strafverfolgung von mutmaßlichen IS-Mitgliedern im Irak auf Basis des sehr vage formulierten Antiterrorgesetzes aufmerksam. Das Antiterrorgericht der Provinz Ninawa habe in den letzten Monaten in Reaktion auf einen im Dezember 2017 erschienenen HRW-Bericht Verbesserungen durchgesetzt. Richter in der Provinz würden nun einen höheren Beweisstandard verlangen, um Verdächtige zu verhaften und strafrechtlich zu verfolgen. Dies schränke die Möglichkeiten des Gerichts ein, sich lediglich auf Geständnisse, fehlerhafte Fahndungslisten und unbegründete Anschuldigungen zu stützen. Im Oktober 2018 habe HRW jedoch am zweiten Strafgericht in Bagdad beobachtet, dass Richter weiterhin Gerichtsverfahren allein auf Basis des Geständnisses des Angeklagten durchführen würden, obwohl Angeklagte oft angeben würden, dass ihr Geständnis durch Folter erzwungen worden sei. Dies deute darauf hin, dass die höheren Standards nicht in allen Gerichtsverfahren im Irak konsequent umgesetzt würden:

„Prosecutions of Islamic State (ISIS) suspects in Iraq are proceeding based on a deeply flawed and vague counterterrorism law, but the Nineveh governorate’s counterterrorism court has made improvements in recent months, Human Rights Watch said today. In response to a December 2017 Human Rights Watch report, judges in the Nineveh governorate in northern Iraq are requiring a higher evidentiary standard to detain and prosecute suspects, minimizing the court’s reliance on confessions alone, erroneous wanted lists, and unsubstantiated allegations. […]

However, Human Rights Watch researchers observed that in October 2018, in Baghdad’s second criminal court, Risafa, judges continue to process cases solely based on a defendant’s confession, with the defendant frequently alleging torture to extract the statement. This suggests that the heightened requirements are not being used consistently in proceedings across Iraq.“ (HRW, 13. März 2019)

Im März 2019 berichtet der deutsche Auslandsrundfunksender Deutsche Welle (DW) über die Überlastung des irakischen Justizsystems und der Gefängnisse, die sich aus der strafrechtlichen Verfolgung von bis zu 20.000 mutmaßlichen IS-Mitgliedern ergibt, und beruft sich dabei teilweise auf Informationen von HRW:

„Gleichzeitig ist das irakische Justizsystem schon jetzt überlastet, die Gefängnisse überfüllt. Rund 20.000 IS-Kämpfer - Männer und Jungen - sowie etwa 2000 Frauen und Kinder befinden sich im Irak in Haft. Wie viele Ausländer sich darunter befinden, ist unbekannt. Vermutet werden Hunderte. Es ist schwierig, im Irak belastbare Statistiken zu finden. Medienberichten zufolge wurden bis April 2018 in den ungefähr 10.000 verhandelten Fällen mit Verbindung zum IS rund 2900 Urteile gefällt. 300 davon lauteten auf Todesstrafe. Die Verurteilten haben das Recht, das Urteil anzufechten. In wie vielen Fällen davon Gebrauch gemacht wurde, ist unbekannt. Der Rechtsexperte Abdullah betont, dass die schiere Zahl an Fällen eine andere Lösung erfordere. Auch neue Gesetze würden gebraucht, da es im Irak derzeit keine Vorkehrungen gebe, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhandeln. 'Es gibt im irakischen Recht keinen Artikel, der gegen diejenigen angewendet werden kann, die der Sklaverei oder des Genozids verdächtigt werden.‘ Die Prozesse gegen mutmaßliche IS-Anhänger laufen unter dem Terror-Gesetz. Jeder, der terroristische Angriffe geplant, durchgeführt oder finanziert hat, kann zum Tod verurteilt werden. Allein eine Verbindung zur Dschihadistenmiliz reicht für eine lebenslange Freiheitsstrafe aus. Während ihres Gerichtstermins verbringen die Angeklagten höchstens zehn Minuten im Verhandlungsraum. In 98 Prozent der Fälle ergehen Schuldsprüche. Alle anderen Gerichte, die sich nicht mit Terrorismus befassen, sprechen ungefähr ein Drittel der Angeklagten frei. […]

Wie Menschenrechtsorganisationen und lokale Anwälte berichten, beruhen Urteile häufig auf der Aussage von Informanten, die oft anonym bleiben und nicht immer vertrauenswürdig sind. Verdächtige würden auch zu Geständnissen gezwungen, zum IS gehört zu haben. Die Organisation Human Rights Watch (HRW) schreibt in ihren Berichten, nicht die Beweise der Staatsanwaltschaft führten zu Gerichtsverfahren, sondern das Geständnis des Beschuldigten. Als müsste er diese Aussage unterstreichen, veröffentlichte der oberste Justizrat die Geständnisse von französischen IS-Kämpfern, kurz nachdem sie von Syrien nach Bagdad kamen. Nach Angaben von HRW und anderen kommen viele der Geständnisse durch Folter zustande. HRW beruft sich auf Fälle von Jungen, die behaupten, sie hätten die Geständnisse nur unterschrieben, damit sie nicht mehr geschlagen und mit Zigaretten verbrannt würden. Ein Einwohner aus Mossul, der aus anderen Gründen aufgegriffen wurde und anonym bleiben möchte, sagt, er sei gezwungen worden dabei zuzusehen, wie mutmaßliche Mitglieder des IS im Gefängnis gefoltert wurden. Alle hätten unter Zwang gestanden. Für gewöhnlich ignorieren Richter solche Beschwerden von Verdächtigen, bemerkt HRW, nachdem die Organisation einigen Verfahren beiwohnte. 'Durch Folter erzwungene Geständnisse sind nach der irakischen Verfassung illegal‘, sagt Abdullah. Sollte die Folter nachgewiesen werden, werden die Vorwürfe gegen den Beschuldigten aufgehoben und die Person wird freigelassen. Aber die Angeklagten vor den irakischen Terror-Gerichten haben meistens keinen Anwalt, der sie verteidigt. Rechtsanwälte waren in solchen Fällen nicht gewillt zu erscheinen, nachdem Kollegen, die IS-Verdächtige vertreten hatten, selbst wegen einer Verbindung zur Terrormiliz angeklagt worden waren.“ (DW, 24. März 2019)

Das US-Magazin The New Yorker veröffentlicht im Dezember 2018 den Beitrag eines Reporters, der in Bagdad bei Gerichtsverhandlungen von mutmaßlichen IS-Mitgliedern teilnehmen konnte. Laut ihm würde in den Fällen, die mit Terrorismus zu tun hätten, den AnwältInnen normalerweise bis zur Verhandlung der Zugang zu ihren KlientInnen verwehrt. Der Reporter beschreibt im Folgenden den Verlauf einer Verhandlung. Der Richter, Suhail Abdullah Sahar, habe an dem Tag 21 Fälle zu verhandeln gehabt, 16 davon hätten mit Terrorismus zu tun gehabt. Einem Angeklagten sei vorgeworfen worden, sich in Qayyara dem IS angeschlossen zu haben. Der Angeklagte habe gesagt, dass er nie in Qayyara gewesen sei. Daraufhin habe der Richter erwidert, dass er ein schriftliches Geständnis vorliegen habe, das der Angeklagte mit seinem Fingerabdruck unterzeichnet habe. Der Angeklagte habe angegeben, dass er diesen Fingerabdruck auf ein leeres Blatt Papier habe setzen müssen und von den Sicherheitskräften gefoltert worden sei. Der Richter habe ihn mit den Namen mutmaßlicher IS-Kollegen konfrontiert, der Angeklagte habe bestritten, jemanden davon zu kennen. Der Staatsanwalt habe eine Verurteilung gefordert. Der Angeklagte selbst habe keinen Verteidiger gehabt, daher habe der Richter einen Staatsanwalt, der im Zuschauerraum gesessen habe, dazu aufgefordert, spontan eine Verteidigung zu improvisieren. Dieser Staatsanwalt habe schließlich nicht die Freilassung des Angeklagten, sondern lediglich eine mildere Strafe gefordert. Die gesamte Verhandlung habe laut Angaben des Reporters viereinhalb Minuten gedauert. Der nächste in den Gerichtssaal gebrachte Angeklagte habe vorgebracht, dass er fälschlicherweise festgenommen worden sei, da sein Name dem eines IS-Mitglieds ähnle. Der private Verteidiger des Angeklagten habe vorgebracht, dass sein Mandant eine Mitgliedschaft beim IS unter Folter gestanden habe und dass eine medizinische Untersuchung die Folter bestätige. Keiner der Richter habe diesem Vorbringen jedoch zugehört. Diese Anhörung habe acht Minuten gedauert. Laut dem Reporter seien tausende Männer und Jungen in Zusammenhang einer Mitgliedschaft beim IS schuldig gesprochen und hunderte von ihnen erhängt worden. Laut Angaben eines leitenden Geheimdienstbeamten würden diese Fälle jedoch nur einen kleinen Anteil der insgesamt im Irak Inhaftierten darstellen. Einige wenige Verdächtige würden dem Richter vorgeführt, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass es ein funktionierendes Rechtssystem gebe, so der Geheimdienstbeamte weiter. Verdächtige würden unter einem Gesetz angeklagt, das keinen Unterschied zwischen einer Person mache, die „Terroristen unterstütze“ und einer, die Gewaltstraftaten im Namen einer extremistischen Organisation verübe. Die Verurteilungsrate liege bei 98 Prozent:

„In terrorism cases, lawyers are usually denied access to their clients until the hearing begins. […]

Shortly after ten o’clock, three judges in long black robes shuffled into Courtroom 2 and sat at the bench. Suhail Abdullah Sahar, a bald, middle-aged man with a thin, jowly face, sat in the center. There were twenty-one cases on his docket that day, sixteen related to terrorism. He quietly read out a name; a security officer shouted it down the hall to one of his colleagues, who shouted it to the guard, who shouted it into the cell. Out came a young man named Ahmed. A security officer led him to a wooden cage in the middle of the courtroom. Judge Sahar accused him of having joined ISIS in Qayyarah, a small town south of Mosul. ‘Sir, I swear, I have never been to Qayyarah,’ Ahmed said. Sahar was skeptical. ’I have a written confession here, with your thumbprint on it,’ he said. ’Sir, I swear, I gave my thumbprint on a blank paper,’ Ahmed replied. ’And I was tortured by the security services.’ Sahar listed Ahmed’s supposed jihadi associates; Ahmed denied knowing any of them. ’Enough evidence,’ the prosecutor said. ’I ask for a guilty verdict.’ Ahmed had no lawyer, and so Sahar called upon an elderly state attorney named Hussein, who was seated in the gallery, to spontaneously craft a defense. Hussein walked over to a lectern, repeated from memory what Ahmed had said, and, without requesting his release, concluded with a plea for ‘mercy in his sentencing.‘ Ahmed wept as he was led out of the room. His trial had lasted four and a half minutes. The next suspect insisted that he had been arrested by mistake—that his name was similar to that of someone in ISIS. A private defense lawyer explained that his client had confessed to ISIS affiliation under torture - he had a medical examination to prove it - but none of the judges appeared to be listening. As the lawyer spoke, they cracked jokes, signed documents, and beckoned their assistants to collect folders from the bench. Sahar yawned. The trial lasted eight minutes. […]

Thousands of men and boys have been convicted of ISIS affiliation, and hundreds have been hanged. But, according to the senior intelligence official, these cases represent only a small fraction of the total number of detainees. ‘A few of the suspects are sent to court, but only to maintain the illusion that we have a justice system,’ he said. Suspects are tried under a law that makes no distinction between a person who ‘assists terrorists’ and one who commits violent crimes on behalf of an extremist group. The conviction rate is around ninety-eight per cent. Family members of the accused rarely show up to watch the hearings, out of fear that they will be detained, too.” (The New Yorker, 24. Dezember 2018)

Ein Reporter des Zeit Magazin hatte ebenfalls die Gelegenheit, in Bagdad Strafprozessen von mutmaßlichen IS-Mitgliedern beizuwohnen. In einem Artikel vom Dezember 2018 schildert er seine Eindrücke vom irakischen Justizsystem wie folgt:

„Die Verhandlungen dauern selten länger als ein paar Minuten. Das Arbeitspensum der irakischen Gerichte ist seit dem militärischen Sieg über den IS im Sommer 2017 enorm. Über Jahre hatten die Aufständischen ein Drittel des Staatsgebiets kontrolliert, bevölkert von Millionen Menschen. Mit jeder Stadt, die die Regierungstruppen und die mit ihr verbündeten Milizen zurückeroberten, stieg die Zahl der Inhaftierten. Nach offiziellen Angaben wurden 31.000 Menschen unter dem Verdacht der IS-Mitgliedschaft festgenommen, tatsächlich sollen es sehr viel mehr sein. Menschenrechtsanwälte sprechen von über 100.000. Sie alle sind nach dem Anti-Terror-Gesetz, Paragraf 4, angeklagt. Einem Gesetz ohne Gnade. Das Gericht muss im Prinzip nur feststellen, ob jemand für den IS tätig war oder nicht. Es gibt nur zwei Strafen: lebenslänglich für Mitläufer, für alle anderen den Tod am Galgen. […]

Die Politik in Bagdad wird von den siegreichen Schiiten dominiert, vor allem von ihren Milizen. Sie setzen sich aus kriminellen Straßengangs zusammen, die von Erpressung und Schutzgeldern leben. Ohne sie hätte der IS vermutlich auch Bagdad erobern können. Rache ist für sie die einzige Gerechtigkeit. In dieser Atmosphäre riskieren Richter, die milde Urteile fällen, ihr Leben und Anwälte, die zu leidenschaftlich IS-Verdächtige verteidigen, auch. […]

Noch nie gab es im Irak eine so komplexe Gesetzgebung, in der amerikanisches Recht mit dem alten irakischen verschmilzt, und eine so gravierende Korruption. Noch nie gab es im Irak so viele Anwälte, und manche verdienen ein Vermögen. Nur wenige wagen es, IS-Verdächtigte zu verteidigen. Sie haben Angst, selbst zum Ziel zu werden. […]

Anwälte verschwinden, werden getötet, bedroht, ihre Kinder werden entführt. Anwälte schwärzen sich auch gegenseitig an, konspirieren mit den Geheimdiensten, arbeiten manchmal für beide Parteien, Angeklagten und Kläger. […]

Nach der Verhaftung verschwinden die meisten für Monate in Gefängnissen von Armee und Milizen, die nicht dem Justizministerium unterstellt sind. Jede Brigade unterhält eigene Knäste. […]

In den folgenden vier Verhandlungstagen verurteilt Richter Suhail 28 Männer zum Tod durch den Strang. Fast alle Angeklagten sind abgemagert und offensichtlich durch Folter gezeichnet. Vierzigjährige sehen aus wie Siebzigjährige. Viele humpeln, manche können sich nur mit Mühe im Käfig aufrecht halten, stützen sich auf Krücken. Etliche kommen mit frischen Brüchen, die ihnen sehr wahrscheinlich beim Verhör zugefügt wurden. Manchmal sind sie nur schwer zu verstehen, weil ihre Zunge geschwollen ist. Es gibt Männer, die nur mithilfe von metallenen Stützgurten laufen können, sie haben gebrochene Wirbel.“ (Zeit Magazin, 12. Dezember 2018)

Der Artikel enthält noch weitere Eindrücke vom Verlauf der Verhandlung. Der gesamte Artikel ist unter folgendem Link abrufbar:

 

Ältere Informationen zur Strafverfolgung von der IS-Mitgliedschaft verdächtigten Personen (Überprüfung; Haftbedingungen; mangelhafte Gerichtsverfahren; Misshandlung von Gefangenen; Todesstrafe) finden sich auch in folgendem HRW-Bericht vom Dezember 2017:

 

In seinen im Mai 2019 erschienenen Erwägungen zu internationalem Schutz für Menschen, die aus dem Irak fliehen widmet das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) ein Kapitel der Lage von Personen, die verdächtigt werden, den IS zu unterstützen. Die Informationen sind auf den Seiten S. 59-61 des Berichts unter folgendem Link abrufbar:

 

Der im März 2019 veröffentlichte Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO) enthält im Kapitel 1.2 einen Abschnitt zu Vergeltungsgewalt, von denen Sunniten, die als Unterstützer oder Sympathisanten des IS wahrgenommen werden, betroffen sind. Die Informationen sind auf den Seiten S. 26-34 des Berichts unter folgendem Link abrufbar:

 


Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 21. Mai 2019)