Anfragebeantwortung zu Venezuela: Rolle der Guardia Nacional, insbesondere bei Überfällen auf politisch Andersdenkende [a-10864-2 (10865)]

12. Februar 2019

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In dem von Hannes Bahrmann, Journalist und Sachbuchautor, 2018 veröffentlichten Buch „Venezuela: Die gescheiterte Revolution“ finden sich folgende Informationen zur venezolanischen Nationalgarde:

„Zu den Teilstreitkräften Heer, Marine und Luftwaffe kommt noch die Nationalgarde (Guardia Nacional Bolivariana GNB) hinzu, die Aufgaben zur Sicherstellung der Ordnung im Land wahrnimmt. Allein diese Formation umfasst nahezu 100 000 Mann, ist auf alle Teile des Landes verteilt und untersteht direkt dem Präsidenten. Chávez sicherte sich die Loyalität des Offizierskorps des Landes durch zahllose Vergünstigungen. Schon in der Zeit von Chávez wurde das Militär durch eigene Wohnungskontingente, aufwändige Sport- und Freizeitzentren sowie Militärklubs privilegiert. Damit wollten die Regierenden sicherstellen, dass die Streitkräfte das demokratisch gewählte System respektierten und beschützten.

Der Putsch von Oberstleutnant Hugo Chávez 1992 beendete die jahrzehntelange Ruhe. Seit seiner Wahl sechs Jahre später rückte die Armee ins Zentrum der gesellschaftlichen Kontrolle. Eine Verfassungsänderung gestattete es ihren Angehörigen nun, politische Funktionen zu übernehmen. Sie wurden Minister, besetzten Gouverneursposten, kontrollierten ganze Ministerien, wie das Außenministerium oder das Ministerium für Infrastruktur und Kommunikation, sind Botschafter und haben im ganzen Land wichtige Funktionen innerhalb der öffentlichen Verwaltung. Parallel dazu wurden die Soldaten und Offiziere ideologisch geschult und in ihren Strukturen denen der kubanischen Revolutionären Streitkräfte FAR [Fuerzas Armadas Revolucionarias] angeglichen. Die Zahl der Generäle in Venezuela erhöhte sich von 50 im Jahre 1993 auf sagenhafte 2000 im Jahr 2016. (Die US-Streitkräfte haben 900).

Chávez sorgte sich bis zu seinem Tod innig um das Wohlergehen seiner Offizierskameraden. Er richtete für sie eine eigene Sozialversicherung ein, unterstellte sie allein der Militärgerichtsbarkeit, auch für zivile Straftaten, während Zivilisten wegen politischer Straftatbestände unter die Militärgerichtsbarkeit gestellt wurden. Das Militär unterhält zentral und in den Teilstreitkräften eigene Geheimdienste, die keiner zivilen Kontrolle unterstehen, wohl aber alle Bereiche der Gesellschaft ausforschen dürfen.

Militärs leiten die wichtigsten staatlichen Unternehmen, den Zoll, die Steuerbehörde, Banken und die Bankenaufsicht, kontrollieren die Devisenverwaltung, Flughäfen, die Metro in der Hauptstadt, Stromversorger und die nationale Sozialversicherung. Nach Schätzungen ist heute jeder fünfte Offizier oder General in der öffentlichen Verwaltung und nationalen Wirtschaftsunternehmen beschäftigt. Sie verdienen damit ein staatliches Gehalt.

In Doral bei Miami unterhielten die Bolivarianischen Streitkräfte sogar ein eigenes Beschaffungsbüro in den USA. Doch nicht etwa für militärisches Gerät: Hier konnten sich hohe Offiziere mit Konsum- und Luxusgütern eindecken, die zuhause nicht mehr erhältlich waren. […]

Mit dem Tod von Chávez 2013 und der Übernahme der Macht durch seinen Nachfolger Nícolas Maduro änderte sich das Bild. Maduro war kein Militär und besaß in den Streitkräften zunächst keinen starken Rückhalt, Dafür hatte er die Unterstützung der Kubaner, die ihrerseits die Streitkräfte durch Tausende Berater kontrollierten. Der neue Präsident löste das Problem durch die Schaffung neuer Sicherheitsorgane. […]

Zur Aufstandsbekämpfung wurde 2017 bei den monatelangen Protesten auf der Straße neben der Nationalgarde und der Polizei auch sogenannte Colectivos de l Paz (Friedenskollektive) eingesetzt, die sich bei der Niederschlagung der Proteste besonders unrühmlich hervortaten.“ (Bahrmann, 2018, S. 123-126)

Die der deutschen Christlich-Sozialen Union in Bayern (CSU) nahestehende Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) schreibt in einem 2013 erschienen Bericht zu Venezuelas Streitkräften Folgendes:

„Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Als Streitkräfte definiert die Verfassung in Artikel 328 ausschließlich das Heer (‚Ejército‘), die Marine (‚Armada‘), die Luftwaffe (‚Aviación Militar‘), und die Nationalgarde (‚Guardia Nacional‘), wobei letztere Aufgaben zur ‚Aufrechterhaltung der Ordnung‘ übernimmt. Chávez setzte die Nationalgarde erstmalig regelmäßig für Streifendienste und andere polizeiliche Aufgaben unmittelbar nach seinem Regierungsantritt ein.“ (HSS, 2013, S. 25)

„Insbesondere die Schaffung der Nationalen Bolivarischen Miliz (‚Milicia Nacional Bolivariana‘) im Jahr 2009, einer in der Verfassung bis heute nicht vorgesehenen, extrem politisierten und auf die Person des Präsidenten eingeschworene Volksmiliz von militärisch zweifelhaftem Wert, lässt Fragen bezüglich der dahinter stehenden Zielsetzung aufkommen. Auch illegale Bürgerwehren, die sogenannten Kollektive (‚Colectivos‘), dienen hierfür als Rekrutierungsquelle. Diese mindestens 150.000 Milizionäre umfassende Truppe mit dem von Chávez ausgegeben Aufwuchsziel von einer Million Kombattanten soll die ‚Bolivarische Revolution‘ gegen äußere und innere Feinde gemäß der neuen Militärdoktrin verteidigen, und ist dazu nach Verteidigungszonen (‚Zonas de Defensa Integral‘ – ZODI) gegliedert. Auch bei der ‚Absicherung‘ von Wahllokalen werden Angehörige der Miliz inzwischen zusammen mit der Nationalgarde eingesetzt. Die Miliz untersteht dem Präsidenten selbst, was in der Summe die Einschätzung stützt, dass es sich dabei zumindest auch um ein Instrument zur Machtabsicherung nach innen handelt – die politisierte Version einer Prätorianergarde.“ (HSS, 2013, S. 29)

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), eine Schweizer Tageszeitung, erwähnt in einem Artikel vom Jänner 2019 Folgendes:

„Laut der NGO Fundación Redes sind in Venezuela 12 subversive Gruppen aus Kolumbien – Guerilleros, Paramilitärs und Verbrecherkartelle – aktiv, in der Regel geduldet oder unterstützt von örtlichen Militäreinheiten und Polizei. Nicht nur Quellen der amerikanischen Regierung, sondern auch lokale Kritiker wie Edgar Zambrano und Luis Parra, führende Parlamentarier der vom Regime marginalisierten Nationalversammlung, berichten, dass die venezolanischen Sicherheitskräfte in illegale Ausbeutung von Bodenschätzen, Drogenhandel, Treibstoffschmuggel und Erpressung involviert seien.“ (NZZ, 28. Jänner 2019)

Das schweizerische Eidgenössische Department für auswärtige Angelegenheiten (EDA) erwähnt in seinen im Jänner 2019 aktualisierten Reisehinweisen für Venezuela:

„Ausser Taschen- und Entreissdiebstählen kommen auch Gewaltdelikte häufig vor: Entführungen zwecks Lösegelderpressung, bewaffnete Autodiebstähle (besonders Luxusautos), Raubüberfälle, Sexualdelikte und Morde. Bei sogenannten Express-Entführungen wird das Opfer zu Bargeldbezügen und Einkäufen mit der Kreditkarte gezwungen. Es sind Straffälle bekannt, an denen Polizisten beteiligt waren.“ (EDA, 24. Jänner 2019)

Die international tätige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) schreibt in ihrem im Jänner 2019 veröffentlichten Jahresbericht für 2018, dass die Regierung 2015 die „Operation Befreiung der Menschen“ gestartet habe, angeblich wegen steigender Sicherheitsbedenken. Polizisten und Mitglieder der Nationalgarde hätten Razzien durchgeführt, die zu den weit verbreiteten Behauptungen geführt hätten, dass es dabei zu außergerichtlichen Hinrichtungen, Massenverhaftungen, Misshandlungen von Gefangenen, Zwangsräumungen, Zerstörungen von Häusern und willkürlichen Abschiebungen gekommen sei. Im November 2017 habe der Generalstaatsanwalt angegeben, dass mehr als 500 Personen während Razzien im Zuge der „Operation Befreiung der Menschen“ getötet worden seien. RegierungsvertreterInnen hätten üblicherweise gesagt, dass diese während Zusammenstößen mit bewaffneten Kriminellen getötet worden seien. Diese Behauptungen seien aber in vielen Fällen von Zeugen oder den Familien der Opfer bestritten worden. In einigen Fällen seien die Opfer das letzte Mal lebend in Polizeigewahrsam gesehen worden:

„In 2015, the government launched ‘Operation Peoples’ Liberation’ (OLP), supposedly to address rising security concerns. Police and members of the Bolivarian National Guard carried out raids that led to widespread allegations of such abuses as extrajudicial killings, mass arbitrary detentions, maltreatment of detainees, forced evictions, destruction of homes, and arbitrary deportations.

In November 2017, the attorney general said more than 500 people had been killed during OLP raids. Government officials typically said they died during ‘confrontations’ with armed criminals, claims challenged in many cases by witnesses or families of victims. In several cases, victims were last seen alive in police custody.“ (HRW, 17. Jänner 2019)

Das sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut German Institute of Global and Area Studies (GIGA) schreibt in einem Bericht vom Oktober 2018, dass es 2014 und 2017 große Proteste in Venezuela gegeben habe mit 43 bzw. 165 Toten. Die Proteste seien unter anderem durch das Auftauchen bewaffneter Gruppen, die von der Regierung und der Nationalgarde geleitet worden seien, ausgelöst worden:

„In 2014 and 2017 Venezuela experienced large protests that ended with 43 and 165 deaths, respectively. The protests were triggered as much by economic factors as by political ones: the economic crisis, high inflation, and shortages of food and basic necessities, as well as the emergence of armed groups led by the government in complicity with the National Guard, high crime rates, media censorship, widespread corruption, and an institutional crisis among the national public powers (especially the denial of the 2016 presidential recall referendum and the convocation of a national plenipotentiary assembly under ‘chavista’ control in 2017). Other triggers included the arrest of politicians and student opponents, the links of the government and high-level military commanders with Colombian drug traffickers and guerrillas, as well as repeated violations of human rights.“ (GIGA, Oktober 2018, S. 2)

Das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem im April 2018 veröffentlichten Jahresbericht zur Menschenrechtslage 2017, dass die Regierung und NGOs schätzen würden, dass mindestens 125 Personen bei Antiregierungs-Protesten zwischen 1. April und 31. Juli 2017 getötet worden seien. Laut Angaben der Staatsanwaltschaft („Public Ministry”) seien 65 Prozent der Getöteten Opfer von staatlicher Repression geworden. Die NGO Penal Forum („Foro Penal“) habe diese Zahl auf 75 Prozent geschätzt, wobei sie für die Hälfte der Getöteten Colectivos (bewaffnete regierungsfreundliche Gruppen, Anm. ACCORD) verantwortlich gemacht habe, für die andere Hälfte die Nationalpolizei und die Nationalgarde. Laut Ermittlungen der Staatsanwaltschaft habe ein Beamter der Nationalgarde im April 2017 Juan Pablo Pernalete mit einem Tränengaskanister, der aus nächster Nähe abgefeuert worden sei, getötet. Die Regierung und Mitglieder des Geheimdienstes hätten diese Ermittlungsergebnisse des damaligen Generalstaatsanwaltes zurückgewiesen und sich geweigert, potenzielle Verdächtige festzunehmen. Am 7. September 2017 habe der neu ernannte Generalstaatsanwalt verkündet, dass dieser Fall und auch andere Fälle, in die Regierungskräfte verwickelt seien, neu aufgerollt würden. Die Ernennung des neuen Generalstaatsanwaltes und dessen Ankündigung seien von lokalen und internationalen NGOs kritisiert worden. Am 27. Juli 2017 hätten Beamte der Nationalgarde Wuilly Moises Arteaga, einen Demonstranten und Musiker, während einer Antiregierungs-Demonstration in Caracas festgenommen. Die Beamten hätten Arteaga, der wegen seines Geigespielens ein häufiges Ziel von Angriffen sei, mehrfach mit ihren Helmen geschlagen, wodurch er auf einem Ohr das Hörvermögen verloren habe. Sie hätten auch seine Haare mit Feuerzeugen angezündet. Ein 18-jähriger Bratschen-Spieler sei am 3. Mai 2017 während einer Demonstration ins Genick geschossen worden und seiner Verletzung erlegen.

Die Nationalpolizei habe in Zusammenarbeit mit der Nationalgarde eine führende Rolle bei der Unterdrückung der Antiregierungs-Demonstrationen zwischen 1. April und 31. Juli 2017 gespielt.

Auch ausländische JournalistInnen seien von RegierungsvertreterInnen angegriffen worden. Am 31. März 2017 sei Elyangelica Gonzalez von Beamten der Nationalgarde angegriffen worden, während sie vor dem Obersten Gerichtshof eine Reportage gemacht habe.

Am 5. April 2017 hätten Mitglieder der Nationalgarde Studenten an der Universität von Carabobo angegriffen, die demonstriert hätten. Dabei seien Dutzende Studenten verletzt worden:

„Government and NGO sources estimated at least 125 persons were killed in antiregime protests from April 1 to July 31. The Public Ministry reported 65 percent were victims of government repression. The NGO Foro Penal put the number at 75 percent, with ‘colectivos’ responsible for half the deaths and the remainder divided between the Venezuelan National Police (PNB) and National Guard (GNB) forces. […]

According to a Public Ministry investigation, in April a GNB officer shot and killed Juan Pablo Pernalete with a tear gas canister fired at point-blank range. Government and security officials rejected then attorney general Luisa Ortega’s findings and refused to apprehend potential suspects. On September 7, the newly appointed attorney general, Tarek William Saab, stated that this and other cases implicating government forces would be reopened. Saab’s appointment and subsequent decision to reopen investigations conducted during his predecessor’s tenure were widely criticized by local and international NGOs.“ (USDOS, 20. April 2018 Section 1a)

„On July 27, GNB officers arrested protester and musician Wuilly Moises Arteaga during antiregime protests in Caracas. GNB officers repeatedly beat Arteaga, a frequent target for playing the violin, on the head with their helmets, causing him to lose hearing in one ear. They also burned his hair with lighters. An 18-year-old viola player, Armando Canizales, a graduate of the Simon Bolivar Musical Foundation, was shot in the neck at a May 3 protest and died from the wound.” (USDOS, 20. April 2018 Section 1c)

„The PNB [Venezuelan National Police], in coordination with the GNB, took a leading role in repressing antigovernment protests between April 1 and July 31.” (USDOS, 20. April 2018 Section 1d)

„Government officials also harassed foreign journalists working in the country. On March 31, GNB officers attacked Elyangelica Gonzalez, a reporter for Univision Noticias and the Colombian-based station Caracol Radio, while she reported outside the Supreme Court.” (USDOS, 20. April 2018 Section 2a)

„Violent security force repression, often coordinated with armed ‘colectivos,’ resulted in thousands of injuries and more than 125 deaths. On April 5, GNB officers attacked student protesters at the University of Carabobo in Carabobo State and injured dozens of students, including one who was shot in the back.” (USDOS, 20. April 2018 Section 2b)

Amnesty International schreibt in seinem im Mai 2018 veröffentlichten Jahresbericht zu 2017 Folgendes:

„Die Bolivarische Nationale Polizei (Policía Nacional Bolivariana) und die Bolivarische Nationalgarde (Guardia Nacional Bolivariana) sowie andere zivile und militärische Sicherheitskräfte gingen weiterhin mit exzessiver und unnötiger Gewalt gegen Demonstrierende vor. Zwischen April und Juli 2017 wurde das Militär vermehrt zur Niederschlagung von Protesten eingesetzt. Dabei kam es zunehmend zu unverhältnismäßiger Anwendung „weniger tödlicher Gewalt“ und dem unnötigen Einsatz tödlicher Gewalt. So wurde Tränengas gezielt auf Menschen gerichtet. Zudem setzten die Militärangehörigen Gummigeschosse und Schusswaffen gegen die Protestierenden ein und traktierten sie mit Schlägen. Dieses Vorgehen setzte die Protestierenden der Gefahr schwerer oder gar tödlicher Verletzungen aus. […]

Im April 2017 wurden zwei Angehörige der Bolivarischen Nationalgarde wegen der Tötung von Geraldine Moreno während einer Demonstration im Bundesstaat Carabobo im Jahr 2014 schuldig gesprochen. In den meisten Fällen von Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteure wurde weder der Gerechtigkeit Genüge getan, noch erhielten die Überlebenden Entschädigungen“ (AI, 23. Mai 2018)

Die wirtschaftsliberale Bertelsmann Stiftung, eine deutsche gemeinnützige Denkfabrik mit Sitz in Gütersloh, schreibt unter Bezug auf Angaben des Penal Forum aus dem Jahr 2016 in ihrem 2018 veröffentlichten Transformationsindex, einem Ländergutachten zu politischer Partizipation, Rechtsstaatlichkeit, Stabilität demokratischer Institutionen, sozioökonomischer Entwicklung etc., (Berichtszeitraum 1. Februar 2015 bis 31. Jänner 2017), dass die systematische Beteiligung des venezolanischen Geheimdienstes und der Nationalgarde an Folter und willkürlichen Verhaftungen besonders besorgniserregend sei:

„Of particular concern is the systematic engagement of the Bolivarian Intelligence Service (SEBIN) police force and Bolivarian National Guard (GNB) officials in torture and arbitrary detention, with absolute impunity.“ (Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 12)

HRW schreibt in der Zusammenfassung eines Berichts vom November 2017, dass im April 2017 Zehntausende in Venezuela auf die Straße gegangen seien. Die Regierung habe mit weitverbreiteter Gewalt sowie Brutalität gegenüber DemonstrantInnen und Inhaftierten reagiert und letzteren das Recht auf ein ordentliches Verfahren verwehrt. Es sei nicht das erste harte Vorgehen gegen Andersdenkende unter Maduro gewesen, aber das Ausmaß und die Härte der Unterdrückung von 2017 seien in der jüngsten Geschichte Venezuelas einzigartig gewesen. Sicherheitskräfte und bewaffnete regierungsfreundliche Gruppen hätten DemonstrantInnen in den Straßen angegriffen und dabei extreme, manchmal tödliche Gewalt eingesetzt, was zu Dutzenden Toten und Hunderten Verletzten geführt habe. Die Behörden hätten Tausende DemonstrantInnen und Unbeteiligte festgenommen, von denen viele in der Folge vor Militärgerichte gestellt worden seien. Das harte Vorgehen sei auch über die Proteste hinausgegangen. Geheimdienstmitarbeiter hätten Menschen aus ihren Häusern gezerrt oder sie auf der Straße verhaftet, selbst wenn keine Demonstrationen stattgefunden hätten. Der zusammen mit dem Penal Forum erstellte Bericht dokumentiere 88 Fälle, bei denen mindestens 314 Personen Opfer von zwischen April und September 2017 begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen geworden seien. Diese Menschenrechtsverletzungen seien von verschiedenen Sicherheitskräften und regierungsfreundlichen Gruppen in Caracas und 13 Bundesstaaten verübt worden. Die Nachforschungen hätten ergeben, dass die Menschenrechtsverletzungen keine isolierten Fälle oder das Ergebnis von Exzessen einzelner Mitglieder der Sicherheitskräfte gewesen seien. Die Tatsache, dass die weitverbreiteten Menschenrechtsverletzungen sich wiederholt zugetragen hätten, von einer Vielzahl von Sicherheitskräften und in einer Vielzahl von Orten in den 13 Bundesstaaten und der Hauptstadt verübt worden seien, stütze die Schlussfolgerung, dass diese Menschenrechtsverletzungen Teil eines systematischen Vorgehens der Sicherheitskräfte gewesen seien. Diese Ergebnisse würden sich auch weitgehend mit denen des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (Office of the High Commissioner for Human Rights, OHCHR) decken, das im August 2017 berichtet habe, dass es eine Richtlinie gegeben habe, politisch abweichende Meinungen zu unterdrücken und der Bevölkerung Angst zu machen, um die Demonstrationen einzudämmen. OHCHR habe berichtet, dass es eine weitverbreitete und systematische Anwendung von Gewalt gegen DemonstrantInnen gegeben habe und letztere willkürlich festgenommen worden seien. Zudem habe es ein Muster anderer Menschenrechtsverletzungen gegeben, darunter gewaltsame Razzien, Folter und Misshandlung von denjenigen, die in Zusammenhang mit den Demonstrationen festgenommen worden seien:

„Summary

In April 2017, tens of thousands of people took to the streets in Venezuela to protest against the government-controlled Supreme Court’s attempt to usurp the powers of the country’s legislative branch. Demonstrations quickly spread throughout the country and continued for months, fueled by widespread discontent with the authoritarian practices of President Nicolás Maduro and the humanitarian crisis that has devastated the country under his watch.

The government responded with widespread violence and brutality against anti-government protesters and detainees, and has denied detainees’ due process rights. While it was not the first crackdown on dissent under Maduro, the scope and severity of the repression in 2017 reached levels unseen in Venezuela in recent memory.

Security forces and armed pro-government groups attacked protesters in the streets, using extreme and at times lethal force, causing dozens of deaths and hundreds of injuries. Authorities detained thousands of protesters and bystanders, many of whom have been subsequently prosecuted in military courts.

The crackdown has extended beyond the protests, with government intelligence agents pulling people from their homes or detaining them on the streets even when no demonstrations were taking place. […]

This joint report by Human Rights Watch and the Penal Forum, based on in-country research, documents 88 cases involving at least 314 people who were victims of serious human rights violations during the crackdown between April and September 2017. These abuses were committed by different security forces and armed pro-government groups known as colectivos in Caracas and 13 states—Anzoátegui, Aragua, Carabobo, Barinas, Bolivar, Lara, Mérida, Miranda, Monagas, Sucre, Táchira, Vargas, and Zulia.

While Human Rights Watch and the Penal Forum have, to date, been unable to determine the full scope of human rights violations committed during the crackdown, our research shows that the abuses were not isolated cases or the result of excesses by rogue security force members. On the contrary, the fact that widespread abuses by members of security forces were carried out repeatedly, by multiple security forces, in multiple locations across 13 states and the capital—including in controlled environments such as military installations and other state institutions—over the six-month period covered by this report, supports the conclusion that the abuses have been part of a systematic practice by the Venezuelan security forces.

Our findings are broadly consistent with those of the Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR), which in August 2017 reported ‘the existence of a policy to repress political dissent and instill fear in the population to curb demonstrations’ in Venezuela. In its report, the OHCHR stated that it found ‘a picture of widespread and systematic use of excessive force and arbitrary detentions against demonstrators,’ as well as ‘patterns of other human rights violations, including violent house raids, torture and ill-treatment of those detained in connection with the protests.’” (HRW, 29. November 2017)

Die regierungsunabhängige Nachrichtenagentur Inter Press Service (IPS), deren Schwerpunkt der Berichterstattung auf entwicklungspolitischen Themen liegt, schreibt in einem Artikel vom Februar 2019, dass während des harten Vorgehens gegen DemonstrantInnen zwischen 21. und 25. Jänner dieses Jahres 35 Personen getötet, Dutzende verletzt und 850 Personen verhaftet worden seien. Alleine am 23. Jänner seien laut Aussagen des Direktors von Penal Forum, einer Organisation, die sich um Personen kümmere, die aus politischen oder sozialen Gründen festgenommen worden seien, 696 Personen festgenommen worden. Die Verhaftungen seien in willkürlichen Wellen erfolgt, um Angst zu verbreiten und die Menschen vom Demonstrieren abzubringen. Einer der Betroffenen sei der 14-jährige Jickson Rodriguez gewesen, der aufgrund einer früheren Kopfverletzung Epileptiker sei. Er und seine Freunde hätten in der Nacht auf den 22. Jänner 2019 in Villa Bahia, 500 Kilometer südöstlich von Caracas, auf Töpfe und Pfannen geschlagen. Dann sei er zusammen mit sechs anderen von der Nationalgarde gefasst und in Baracken bei einem Stahlwerk gebracht worden. Rodriguez sei geschlagen worden, auch auf den Kopf, obwohl er angegeben habe, Epileptiker zu sein. Seine Mutter habe IPS erzählt, dass sie ihn am nächsten Tag in Handschellen gefunden habe. Er sei auf die Fußsohlen geschlagen worden, um keine sichtbaren Verletzungen zu verursachen. Er habe während der Haft einen Anfall gehabt, weshalb man ihr ihren Sohn übergeben habe. Jickson Rodriguez sei beschuldigt worden, an der Plünderung eines Ortes beteiligt gewesen zu sein, der sich Meilen von dem Ort entfernt befunden habe, wo er auf Töpfe und Pfannen geschlagen habe. Er müsse sich jetzt alle 30 Tage bei den Behörden melden:

„The Jan. 21-25 crackdown left 35 people dead, dozens injured by bullets or plastic pellets, and 850 arrested.

‘On Jan. 23 alone, 696 people were arrested – the largest number in a single day of protests in 20 years,’ lawyer Alfredo Romero, director of the Penal Forum, an organisation that follows the question of those detained for political or social reasons, told IPS. […]

The arrests, which included 100 women and at least 90 children and adolescents, ‘have been carried out in indiscriminate sweeps, to spread fear and discourage protests,’ Romero said.

One such case is that of Jickson Rodriguez, 14, who is epileptic as a result of an old head injury. He and his young friends were banging on pots and pans near his family’s barbershop on the night of Jan. 22 in Villa Bahia, which is located in Puerto Ordaz, an industrial city on the banks of the Orinoco River, 500 kilometers southeast of Caracas, when National Guard units captured him and six others and took him to a barracks that guards a steel plant.

‘Since I wasn’t crying, I was the one who received the most blows. I told the guards, ‘Why are you beating us when we’ve already been arrested?’ and they slapped me. They gave me blows to the head. I told them ‘you can’t hit me on the head, I have epilepsy, and they told me: ‘Shut up, you’re a detainee’,’ he told his family and journalists a few days later.

‘I found him, handcuffed, after searching for him in various places where they were holding people, the afternoon of the following day,’ his mother Rosmelys Guilarte, 39, a hairdresser who also has three daughters, told IPS. ‘He was beaten on the soles of his feet, so there would be no visible bruises. He had a convulsion while he was in detention, which is why he was handed over to me two days later.’

Jickson ‘was accused by the judicial police of participating in looting that took place miles from where we were banging on pots and pans that night – something that was impossible. He has orders to report to the authorities every 30 days. I try to get him to rest a lot, this has been really hard on him,’ she said from her home.“ (IPS, 1. Februar 2019)


 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 12. Februar 2019)