Dokument #1457424
ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (Autor)
Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.
Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.
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Da zu bestimmten Aspekten der Fragestellung keine oder nur wenige öffentlich zugängliche Informationen gefunden werden konnten, wurden mehrere Experten befragt, denen der Fallhintergrund geschildert wurde. Im Folgenden finden Sie die Auskünfte von vier Experten, die jedoch zum Teil unterschiedliche Angaben machen und keine einheitlichen Ansichten vertreten.
Lejtschij Garsajew, der Leiter der ethnologischen Abteilung des Instituts für humanitäre Forschung der Akademie der Wissenschaften der Republik Tschetschenien, schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom 23. Jänner 2019, dass es im traditionellen Recht Adat gemäß den ethischen Normen begrüßenswert sei, wenn das Ziel einer Blutrache nur die „schuldige Person“ sei, die Familie des Opfers habe jedoch das Recht, jeden nahen Verwandten des Täters – den Vater, den Bruder, den Sohn – zu töten, allerdings beziehe sich das nur auf männliche Verwandte. Frauen und Kinder würden hierbei nicht berücksichtigt. In der Regel werde über Vermittler und geistliche Autoritäten sofort vereinbart, dass nur der Schuldige Ziel der Blutrache sei, dann werde den anderen Mitgliedern von dessen Familie sogar gestattet, ihr Beileid auszudrücken.
Was die Verbreitung der Blutrache angehe, könne man weder in Bezug auf Tschetschenien, noch in Bezug auf Inguschetien sagen, dass diese vollkommen ausgerottet sei. Es gebe Verbrechen, aufgrund derer der Schuldige nicht mehr das Recht habe, zu leben. Zu diesen Verbrechen würden beispielsweise der vorsätzliche Mord an Unschuldigen zum Zweck der Aneignung fremden Eigentums, die Vergewaltigung einer Frau sowie die Ermordung von Frauen und Kindern gehören. Der Staat verbiete die Blutrache und könne davor schützen, indem er den Schuldigen ins Gefängnis bringe. Auch die andere Seite könne vom Staat wegen Eigenmächtigkeit zur Verantwortung gezogen werden. Auf die Frage, ob es im vorliegenden Fall eine Möglichkeit gebe, dass der Inguschete und seine Familie in einer anderen Region Russlands in Sicherheit leben könnten, antwortet Garsajew, dass die ethischen Grundsätze fordern würden, dass der Schuldige der Opferseite aus den „Augen gehe“. Die Sicherheit des Schuldigen könne aber nicht garantiert werden, solange ihm nicht offiziell vergeben worden sei, wobei er die Prozedur der Vergebung im Heimatdorf der geschädigten Seite durchlaufen müsse. Ob es zu einer Vergebung komme oder nicht, hänge von der Schwere des Verbrechens sowie den Möglichkeiten und Ambitionen der geschädigten Seite ab. In dem geschilderten Fall müssten die Verwandten des verstorbenen Schuldigen Vermittler sowie eine geistliche Autorität zur geschädigten Seite schicken mit der Bitte, „das Blut von der Familie/der Sippe zu nehmen“, da der eigentlich Schuldige im Gefängnis verstorben sei. Es sei wenig wahrscheinlich, dass nach Versöhnungsverhandlungen mit Hilfe von „Diplomaten aus dem Volk“ und Geistlichen der Bruder zum Ziel von Blutrache werde. (Garsajew, 23. Jänner 2019)
Schachban Chapisow, Doktor der Wissenschaften am Institut für Geschichte, Archäologie und Ethnografie des dagestanischen Wissenschaftszentrums der Russischen Akademie der Wissenschaften, schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom 18. Jänner 2019, dass die Blutrache in Inguschetien nach wie vor verbreitet sei, obwohl es nicht wenige Berichte über Versöhnungen gebe, die mit Hilfe von Ältesten herbeigeführt würden. Es sei möglich, in einem Fall von Blutrache staatlichen Schutz zu erhalten, wenn das potentielle Opfer offiziell darum ansuche und beweise, dass seine Befürchtungen berechtigt seien. Etwas anderes sei es jedoch, dass dieser Schutz nicht so effektiv sei, wenn eine ganze Familie oder Sippe, deren Vertreter das Ziel der Blutrache auf unterschiedlichen Wegen erreichen könnten, die Blutrache erkläre. In dem geschilderten Fall seien nur der Vater der Familie und seine volljährigen Söhne von Blutrache bedroht. Blutrache betreffe keine Ehefrauen, Schwestern und andere Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts. Da die Inguscheten in Russland in vielen Regionen vertreten seien und das Arbeitsprinzip der Strafverfolgungsbehörden überall ähnlich sei, sei die Wahrscheinlichkeit, dass diese inguschetische Familie in einer anderen Region Russlands in Sicherheit leben könne, nicht hoch. Die Gefahr, dass die Blutrache angewandt würde, sei also geringer als in Inguschetien selbst, aber nicht wesentlich. (Chapisow, 18. Jänner 2019)
Emil Souleimanov, Osteuropaexperte am Institut für Internationale Beziehungen der Karls-Universität in Prag, schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom 24. Jänner 2019, dass Blutrache in Inguschetien nach wie vor verbreitet und üblicher sei als in Tschetschenien. Inguschetien sei durchschnittlich gesellschaftlich konservativer. Staatlichen Schutz gebe es kaum. Selbst wenn der Betroffene Unterstützung von irgendeiner Einrichtung erhalte, könnten seine Verwandten ins Visier genommen werden. Und man könne nicht sicherstellen, dass eine ganze Familie/ein ganzer Clan, die/der aus Dutzenden Personen bestehe, von irgendeiner staatlichen Einrichtung geschützt werden könne.
Blutrache betreffe üblicherweise Brüder, Cousins, selten Väter und Onkel. Kinder unter 16 Jahren und Frauen seien üblicherweise von Blutrache ausgeschlossen. Heutzutage sei es jedoch möglich, dass die geschädigte Familie, wenn sie den Täter oder seine männlichen Verwandten väterlicherseits nicht ins Visier nehmen könne, auch die Kinder töte. Das sei sehr selten, aber die strikten Normen hätten sich seit den 1990er Jahren geändert. Es gebe nicht wirklich eine Möglichkeit für die inguschetische Familie, in einer anderen Region Russlands in Sicherheit zu leben. Wenn die geschädigte Familie einflussreich und entschlossen sei und Informationen über den Aufenthaltsort des Schuldigen habe, könne die Familie auch in anderen Regionen ins Visier genommen werden. (Souleimanov, 24. Jänner 2019)
Ruslan Gerejew vom Zentrum für islamische Forschungen des Nordkaukasus in Machatschkala (Dagestan) schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom 19. Jänner 2019, dass Blutrache keine zeitlichen und räumlichen Grenzen kenne. Wenn die inhaftierte Person im vorliegenden Fall jemanden getötet habe, dann erstrecke sich die Rache auf die ganze Welt und beschränke sich nicht rein auf Inguschetien. Die Rache betreffe ausschließlich den männlichen Teil der Familie bzw. des Clans. Gemäß dem Adat könnten weder Frauen noch minderjährige Kinder zum Ziel von Blutrache werden. Man könne staatlichen Schutz erhalten, wenn man sich im Rahmen eines Zeugenschutzprogrammes oder eines analogen Programmes an die Behörden wende, aber das sei nur möglich, wenn es Beweise für die Gefährdung gebe. Allerdings betreffe eine Blutrache alle nahen Verwandten, und es sei rein physisch nicht möglich, alle zu schützen und eine absolute Sicherheit zu garantieren. Es gebe die Möglichkeit, sich an eine der Versöhnungskommissionen zu wenden, die es sowohl in Tschetschenien als auch in Inguschetien gebe. Das sei ein realer Ausweg aus der Situation und es sei nicht einmal nötig, dass sich der Hauptbetroffene selbst an diese Kommission wende. Das könnten auch seine Verwandten tun. Häufig seien auch die Ältesten einer Sippe oder Clans die Initiatoren von Versöhnungsverhandlungen. Was die innerstaatliche Fluchtalternative angehe, sei Russland ein säkularer Staat, der die Sicherheit seiner BürgerInnen garantiere. In Inguschetien selbst gebe es sowohl zivile als auch religiöse Einrichtungen, die Probleme wie Blutrache lösen könnten. (Gerejew, 19. Jänner 2019)
Verbreitung von Blutrache in Tschetschenien
Echo Kawkasa, ein Projekt des vom US-amerikanischen Kongress finanzierten Rundfunkveranstalters Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), schreibt in einem Artikel vom September 2011, dass die Blutrache in Inguschetien ein lebendiger Mechanismus eines nicht formellen, aber des derzeit einzig effektiven Rechts sei. In den vorangegangenen Jahren sei es den Machthabern, der Geistlichkeit und Ältesten gelungen, faktisch den Großteil der miteinander verfeindeten Familien zu versöhnen:
„Кровная месть в Ингушетии остается живым механизмом неформального, но подчас единственного эффективного права. За последние два года властям республики, духовенству и старейшинам удалось примирить фактически большинство враждующих семей.“ (Echo Kawkasa, 25. September 2011)
Makka Albogatschijewa von der Abteilung für Ethnografie des Kaukasus des Peters-des-Großen-Museums in Sankt Petersburg schreibt in einem 2015 veröffentlichten Artikel, dass der inguschetische Brauch der Blutrache zumindest in Teilen der modernen Gesellschaft noch existiere:
„The Ingush custom of blood feud (Ingush; chir, pkha, dov) continues to exist, at least in part, in modern society.“ (Albogatschijewa, März 2015 S. 51)
Takie Dela, das Informationsportal des wohltätigen Fonds Nuschna Pomoschtsch (russisch für „Es wird Hilfe benötigt“), zitiert in einem Artikel vom März 2017 Naima Nefljaschewa, eine Mitarbeiterin der Russischen Akademie der Wissenschaften, der zufolge heute die meisten Fälle von Blutrache in Tschetschenien und Inguschetien vorkommen würden. Laut der oben bereits erwähnten Makka Albogatschijewa, die Bräuche Inguschetiens erforsche, würden derzeit zwei Prozent der Morde in der Republik aufgrund von Blutrache erfolgen:
„По словам старшего научного сотрудника Центра цивилизационных и религиозных исследований РАН [Российская академия наук] Наимы Нефляшевой, сегодня больше всего случаев кровной мести происходит в Чечне и Ингушетии. Чуть меньше — в некоторых районах Дагестана. По данным исследователя обычаев Ингушетии Макки Албогачиевой (заведует отделом Кавказа Музея антропологии и этнографии имени Петра Великого РАН), в настоящее время около 2% всех убийств в республике совершаются по этой причине.” (Takie Dela, 16. März 2017)
Caucasian Knot, ein von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial im Jahr 2001 gegründetes Nachrichtenportal, das über menschenrechtliche Themen im Kaukasus informiert, erwähnt in einem Artikel vom Dezember 2017, dass Blutrache im Kaukasus nicht Geschichte sei, sondern weiterhin ein bestehender gesellschaftlicher Mechanismus sei:
„In recent months, several reasons have appeared to make sure – in Northern Caucasus, the blood feud is by no means a part of history; it continues acting as an actual social mechanism.“ (Caucasian Knot, 26. Dezember 2017)
Die russische, nicht-staatliche Nachrichtenagentur Interfax meldet im März 2018, dass die Behörden und die Geistlichkeit im Rajon Malgobek in Inguschetien zwei Clans miteinander versöhnt hätten, zwischen denen es mehr als acht Jahre eine Blutfehde gegeben habe. Laut Angaben des Pressedienstes des Oberhaupts von Inguschetien habe die Versöhnungskommission der Republik, die 2009 gegründet worden sei, mehrere Hundert verfeindete Familien versöhnt. Allein im vorangegangenen Jahr hätten 16 Familien eine Blutrache beigelegt:
„Благодаря усилиям духовенства и республиканских властей в Малгобекском районе Ингушетии примирились два тейпа (рода) ‚кровников‘, конфликтовавших на протяжении более восьми лет, сообщил агентству ‚Интерфакс‘ сотрудник пресс-службы главы региона в субботу. […]
По данным пресс-службы главы Ингушетии, примирительная комиссия при главе республики была создана в 2009 году, за это время ей удалось выявить и примирить несколько сотен враждующих семей. Только в прошлом году благодаря усилиям старейшин от кровной вражды отказались 16 семей.“ (Interfax, 24. März 2018)
Von Blutrache betroffene Familienmitglieder
Über die oben bereits angeführten Informationen der Experten hinausgehend wurde zu dieser Fragestellung noch folgendes Zitat gefunden:
Der oben bereits zitierte Emil Souleimanov erwähnt in einem 2018 veröffentlichten Artikel zu Blutrache in Tschetschenien und Inguschetien, dass im Adat das Gleichheitsprinzip gelte. Für einen getöteten Mann werde nur ein Mann getötete. Im Fall einer Vergewaltigung würden die Mitglieder der geschädigten Familie oder des geschädigten Clans normalerweise versuchen, mehr als einen Mann zu töten. Gewöhnlich richte sich die Vergeltung gegen den Schuldigen oder die Brüder, Cousins und Söhne väterlicherseits, wenn sich die Familie oder der Clan weigere, den Schuldigen zu übergeben. In seltenen Fällen werde auf den Vater abgezielt. Frauen, Kinder, Alte sowie psychisch oder physisch Behinderte seien von Blutrache üblicherweise ausgenommen:
„During retaliation, the principle of equivalence is respected: the customary law, adat, requires an eye for an eye. Only one male may be killed for the previous killing of one male. In the case of rape, however, the members of an offended family or clan usually seek to kill more than one male. As a rule, retaliation aims against either the actual culprit or, particularly when the culprit’s family refuses to hand him over to the offended family or clan (with the exception of rapists, this is a rare practice), the culprit’s patrimonially delineated brothers, cousins, and sons. It rarely aims against the actual culprit’s father, although such incidents have not been unheard of. Women, children, old, as well as psychically or physically disabled individuals are typically exempt from blood revenge.“ (Souleimanov, 2018)
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 25. Jänner 2019)