Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zur Entscheidungsfindung in Familien (Entscheidung des Vaters ohne Einbindung und Information von betroffenen Kindern, insbesondere Söhnen) [a-10586]

7. Juni 2018

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Die unabhängige, in Kabul ansässige Forschungseinrichtung Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) schreibt in einem Bericht vom Februar 2017, dass afghanische Frauen und Männer in einem Familienverband leben würden, der häufig Teil eines gemeinsamen Haushalts mit geteiltem Landbesitz, Viehbestand und Arbeitskraft sei, jedoch unter der Autorität eines Patriarchen stehe. Der Haushalt existiere innerhalb eines auf Herkunft, Heirat und guter Nachbarschaft basierenden Netzes von Verbindungen zu anderen Haushalten. Diese Haushalte seien in Dörfern angesiedelt, von denen jedes ein eigenes Wirtschaftssystem und eigene Strukturen in Bezug auf Landbesitz, Autorität und Herrschaft habe. Die Dörfer selbst stünden meist durch personalisierte Netzwerke mit Distrikt- und Provinz-Autoritäten und manchmal auch mit Machthabern auf nationaler Ebene in Verbindung. Diese Netzwerke würden von der Elite des Dorfes, die oft auch die Obrigkeit des Dorfes darstelle, kontrolliert. An jeder Schnittstelle dieser „Netzwerkketten“ seien persönliche Beziehungen das verbindende Element. Die Struktur dieser „halbunternehmerischen“ („semicorporate“) Institutionen des Dorfes und des Haushalts mit ihren starken patriarchalen Zügen, die von Gender-Normen gestützt würden, gehe klar auf Kosten der Unabhängigkeit des Einzelnen. Die Art und Weise, in der diese Kosten dem erlangten Nutzen gegenübergestellt würden, sei von der Persönlichkeit, dem Geschlecht, dem Alter, der Familienstruktur, der ökonomischen Klasse und dem Ort abhängig.

Der Haushalt als eine Institution, die trotz oder gerade aufgrund des Konflikts Bestand habe, sei laut Nancy Dupree (2004) die einflussreichste soziale Institution in der afghanischen Gesellschaft. Die Institution des gemeinsamen Haushalts mit geteiltem Einkommen und geteilten Ausgaben sei allerdings sowohl ein Ort der Kooperation als auch des Konflikts, und Zugehörigkeit gehe auf Kosten der Autonomie sowohl von Männern als auch von Frauen. Es gebe nur wenige Männer und noch weniger Frauen, die den damit einhergehenden Einschränkungen entgehen könnten. Innerhalb des Haushalts könne die Entscheidungsfindung am besten als unterschiedliche Sphären betrachtet werden, in denen Frauen und Männer ihre eigenen Autoritätsbereiche hätten und Arbeit geschlechterspezifisch aufgeteilt sei.

Die Mobilität und wirtschaftliche Tätigkeit von Söhnen und jüngeren Brüdern sei nicht eingeschränkt, sie seien allerdings, auch wenn sie schon verheiratet seien, immer noch der Autorität ihrer Väter oder ihrer älteren Brüder unterstellt. Die Verbindungen könnten durch Verlassen des Haushalts zerbrechen, was durch Konflikte innerhalb des Haushalts hervorgerufen werden könne:

„Afghan women and men live within a family which is often part of a joint household, sharing its assets of land, livestock and labour, but under the authority of a patriarch. The household exists within a web of relations of other households based on descent, marriage or neighbourliness. In turn, these households are located within villages, each with distinctive economies and land ownership patterns and their structures of authority and government, some customary, some introduced. The villages themselves are linked, mainly through personalised networks controlled by the village elite who are often also the village authorities, to district and provincial authorities and sometimes to national-level power-holders as well (Pain 2016). At every link in this chain of networks of access (Jackson 2016) personal relationships are the glue that can bond everything together. The structures of the semicorporate institutions of the village and household and their strong patriarchal attributes, underpinned by gendered norms, clearly carry costs with respect to individual autonomy. But the ways in which these are played out against the benefits gained depend on personality, gender, age, family structure, economic class and location. […]

We start with the household because as it is an institution that has endured despite, or maybe because of the conflict and, as Nancy Dupree has remarked (2004: 1), it is ‘the most influential social institution in Afghan society’. But the institution of the joint household, with shared income and expenditure, is a location both of cooperation and conflict and allegiance to it comes at the cost of autonomy, for both men and women. There are few men and even fewer women who can easily exit from its constraints. Within the household, decision-making can be best conceptualised as separate spheres (Lundbert and Pollack 1993) where men and women have their own domains of authority and work is gendersegregated. […]

For sons and younger brothers mobility and economic activity is not constrained, but even when married they still live subject to the authority of their father or elder brother. The ties can be broken by exit from the household, and conflict within the household can induce this. This separation can have economic consequences for the household as well as for the departing family.” (AREU, Februar 2017, S. 34-35)

Laut einem Bericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) aus dem Jahr 2015 würden Familienstrukturen einer sehr traditionellen, patriarchalen Gliederung folgen und sich um Vorstellungen von Ehre und Schande drehen, die von Stammesgesetzen und Interpretationen des Islam bestimmt würden. Der Vater werde als der Ernährer angesehen und die Frau als die Mutter. Im Allgemeinen sei der Mann der vorrangige Entscheider und die vorrangige Disziplinierungsinstanz. Innerhalb des Zuhauses würden die Eltern mit Unterstützung der weiteren Familie als für die Kindererziehung verantwortlich betrachtet werden. Außerhalb der Familie werde von religiösen Führern, Gemeindeältesten, Lehrern und Mullahs erwartet, als Orientierung in der Erziehung zu dienen. Söhne würden dazu erzogen, ihrem Vater zu helfen und würden dabei lernen, eine Familie zu ernähren und der zukünftige Ernährer ihrer eigenen zukünftigen Familie zu werden. Bei der Erziehung der Töchter konzentriere man sich mehr auf häusliche Fertigkeiten, wobei soziale Normen, die mit Ehre in Verbindung stehen würden, auf eine zukünftige Ehe vorbereiten sollen:

„Family structure follows a very traditional, patriarchal structure and is centred on notions of honour and shame, governed by tribal codes and interpretations of Islam. The father is seen as the breadwinner, and the wife is seen as the mother. The man generally is the primary decision maker and discipliner in the family. Within the home, the parents are seen as responsible for the upbringing of the child, with support from extended family. Outside of the family, religious leaders, community elders, teachers and mullahs are all seen as responsible for providing guidance in upbringing. Sons are raised to help their father, learning how to provide for the family and become a future breadwinner for their own future family. Daughters are raised to focus more on domestic skills, with social norms attaching honour to preparing for a future marriage.” (UNICEF, 2015, S. 22)

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union zur Umsetzung der praktischen Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Asylbereich, schreibt in einem Bericht vom Jänner 2018, dass Loyalität gegenüber Familie, Klan und lokalen Anführern stärker sei als die Verbundenheit mit dem Staat oder mit Obrigkeiten. Das Kollektiv komme vor den Wünschen und Bedürfnissen des Einzelnen. Es gebe nur bedingt Raum, um sich gegen Entscheidungen des Kollektivs aufzulehnen:

„Loyalty to family, clan and local leaders is stronger than the attachment to the state or the authorities. The collective comes before individual wishes and needs. There is limited room for opposing decisions made by the collective.” (EASO, Jänner 2018, S. 10)

Das Afghanistan Analysts Network (AAN), eine unabhängige, gemeinnützige Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, die sich mit politischen Themen beschäftigt und sich zum Ziel gesetzt hat, Analysen zu Afghanistan und der umliegenden Region zu erstellen, veröffentlicht im April 2016 eine auf zwölf Tiefeninterviews basierende Studie über Fluchtentscheidungen in Afghanistan. Laut der Studie variiere die Art der Entscheidungsfindung zwischen Familien. In den meisten Fällen seien es die Migranten selbst gewesen, die das Gespräch über das Verlassen des Landes initiiert hätten. Der Großteil der Interviewten habe beschrieben, wie vor allem junge Migranten ihren Wunsch nach Europa zu gehen mit dem Mangel an ökonomischen und bildungstechnischen Möglichkeiten in Afghanistan und den als hauptsächlich trostlos empfundenen Aussichten für die Zukunft gerechtfertigt hätten.

In rund der Hälfte der befragten Haushalte seien die Migranten dem Verlassen des Landes anfangs abgeneigt, unentschlossen oder gleichgültig gegenübergestanden, laut Aussage von Familienmitgliedern hätten die Umstände sie aber davon überzeugt, dass das Verlassen des Landes das Richtige oder das einzig Mögliche sei. In diesen Fällen seien es entweder die Eltern oder die Geschwister gewesen, die die Migranten gedrängt oder ihnen geraten hätten, das Verlassen des Landes in Betracht zu ziehen und diese Aufforderung mit der steigenden Unsicherheit und/oder dem ökonomischen Druck, der auf der Familie laste, begründet hätten:

„How decisions were reached varied between families. In the majority of cases, it was the migrants themselves who initiated the conversation about going. The majority of interviewees described how the younger migrants, in particular, justified their wish to go to Europe by pointing to the lack of economic and educational opportunities in Afghanistan and what they felt were their generally bleak prospects for the future. […]

In about half of the cases, the migrants had initially been either reluctant to leave, or undecided or indifferent, but their family members said they were persuaded by circumstances that leaving was the right thing or the only thing to do. In these cases, it was either the parents or older siblings who urged or advised the migrants to consider leaving, justifying this request by pointing to increasing insecurity and/or economic pressures on the family.” (AAN, April 2016, S. 4-5)

Im Dezember 2014 veröffentlicht AREU einen Bericht zur Motivation von afghanischen Minderjährigen, das Land zu verlassen. Unter den Befragten des dem Bericht zu Grunde liegenden Forschungsprojekts sei der Wunsch nach ökonomischer Stabilität und ökonomischen Chancen der meist genannte Faktor hinsichtlich der Motivation, das Land zu verlassen, gewesen. Unabhängig davon, ob die Entscheidung von den Kindern, den Eltern oder gemeinsam getroffen worden sei, seien die sozioökonomische Situation der Familien und die wenigen Arbeitsmöglichkeiten innerhalb Afghanistans wichtige Erwägungen bezüglich der Entscheidung, eine unbegleitete Reise anzutreten, gewesen. Es werde davon ausgegangen, dass Minderjährige Zugang zu besseren Arbeitsmöglichkeiten im Ausland hätten, und man erwarte von ihnen, Geldsendung an ihre Familien zu schicken. AREU verweist auf Stellungnahmen von Befragten und gibt an, dass diese Erwartungen auf der Beobachtung von jenen Gemeinschaftsmitgliedern, die Verwandte im Ausland hätten, und auf Informationen, die in der Gemeinschaft weitergegeben werden würden, basieren würden. Diese Ergebnisse würden sich in den vier untersuchten Provinzen (Kabul, Bamiyan, Nangarhar, Paktia) decken.

In jenen Gebieten von Nangarhar und Kabul, von wo aus viele ins Ausland geschickt würden, würden die Entscheidungen hauptsächlich gemeinsam von der Familie (meistens den Vätern) und den Kindern getroffen. Oft hätten die Kinder bereits an die Idee gedacht und beschlossen, die Reise auf sich zu nehmen und würden dies dann ihren Eltern oder dem Haushaltsvorstand vorschlagen. Dies bestätige die Ergebnisse der UNICEF-Studie „Children on the Move“ (2010), wonach die Entscheidung, eine unbegleitete Reise in den Westen zu machen, oft eine gemeinsame Entscheidung der Eltern und des Kindes sei. Die Kinder würden an der Entscheidung teilhaben und mit der Zustimmung und der Kenntnis der Eltern abreisen:

„Amongst the respondents for this research project, the most frequently mentioned factor in relation to motivation for travel was the desire for economic stability and opportunity. Whether the decision was made by children, parents, or both together, the poor socioeconomic situation of their families and low employment opportunities within Afghanistan were important considerations in deciding to undertake an unaccompanied journey. Children were seen to have access to better opportunities for employment abroad, and were expected to send remittances to benefit their families. As seen below, this expectation is based upon observation of those community members who have relatives abroad, as well as information passed around the community. These findings cut across the four provinces.” (AREU, Dezember 2014, S. 12)

„In the high-sending areas of Nangarhar and Kabul, the decision was generally shared between the family (usually the fathers) and the children. Often the children had already thought of the idea and resolved to undertake the journey, and would then propose it to their parents or the household head. This affirms the finding of UNICEF’s Children on the Move study that the decision to undertake an unaccompanied journey to the West is often a collaborative decision between parents and children; the children participate in the decision-making, and they depart with their parents’ permission or knowledge.” (AREU, Dezember 2014, S. 16-17)

In der von AREU erwähnten Studie von UNICEF vom Februar 2010, die sich auf Fallbeispiele bezieht, wird berichtet, dass die Entscheidung, das Land zu verlassen, von den Kindern und Familienmitgliedern gefällt worden sei. Bei einem Drittel der Fälle sei es das Kind gewesen, das die Entscheidung initiiert habe. Dies würde mit Kommentaren von Mitgliedern des Child Protection Action Networks (CPAN) in den Provinzen übereinstimmen. Heutzutage würden Kinder sich untereinander unterhalten und entscheiden, in den Westen zu gehen. Abgesehen von einem Fall hätten alle Kinder an der Entscheidung, das Land zu verlassen, teilgehabt und sie akzeptiert. In allen Fällen hätten die Kinder wenig bis gar keine Informationen über die Reise, wohin sie reisen würden oder wie man sich um sie kümmern würde, erhalten:

„The decision to move was made by children and family members. In one third of the cases it was the child who initiated the decision to move. This corresponds with comments made members of the Child Protection Action Networks (CPAN) in the provinces - nowadays children talk amongst themselves and decide that they will go to the west. With the exception of one case, children participated and agreed with the decision that they would make the journey. In all cases the children had little or no information about the journey, where they would travel or how they would be cared for.” (UNICEF, Februar 2010, S. 7)

In einer Studie des UNO-Flüchtlingskommissariats (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) zur unbegleiteten Reise afghanischer Kinder nach Europa wird im Juni 2010 darauf hingewiesen, dass die genauen Umstände einer Abreise eines Kindes nach Europa ganz spezifisch und das Ergebnis einer komplexen Mischung von Faktoren sei, wobei es hierbei große Unterschiede gebe. Ein Vater eines 13-jährigen Paschtunen aus der Provinz Laghman habe zum Beispiel entschieden, dass sein Sohn nach dem Verschwinden des älteren Bruders, eines Taliban-Kämpfers, das Land verlassen solle.

Das andere Extrem sei ein in Ghazni geborener, 17-jähriger Hazara, dessen Familie nach dem Tod der Mutter in den Iran gezogen sei, als er sieben Jahre alt gewesen sei. Sein Vater sei später nach Afghanistan zurückgekehrt, doch habe er es für seine Söhne als sicherer erachtet, im Iran bei seiner verheirateten Schwester zu bleiben. Vier Jahre später habe der 17-Jährige beschlossen, dass er genug von den Schwierigkeiten und Schikanen im Iran habe und habe daher entschieden, mit einem Freund das Land Richtung Europa zu verlassen.

Wie diese Fälle zeigen würden, werde die Entscheidung, nach Europa zu gehen, manchmal vom Vater oder der Mutter, oder bei Abwesenheit des Vaters von einem Onkel mütterlicherseits getroffen und das Kind würde diese Entscheidung in manchen Fällen widerwillig und in anderen enthusiastisch akzeptieren.

Es sei ziemlich wahrscheinlich, dass die Gründe für das Verlassen des Landes, die ein Junge wahrnehme, nicht notwendigerweise mit dem übereinstimmen würden, was tatsächlich zur Entscheidung der Eltern geführt habe. Ein anderer wichtiger Aspekt, der in diesem Zusammenhang bedacht werden solle, sei das Ausmaß, zu dem ein Junge von seinen Eltern, Schleppern, Anwälten oder Beratern angeleitet worden sei, eine bestimmte Geschichte im Kontext eines Asylansuchens zu erzählen:

„The precise circumstance of each child’s departure for Europe is, of course, unique and a result of a complex mixture of factors. Vast differences exist. For example, the father of a 13 year-old Pushtun boy from Laghman Province decided that he should leave following the disappearance of his elder brother, a Taliban fighter.

At the other extreme is a 17 year-old Hazara boy, born in Ghazni, whose family moved to Iran after the death of his mother when he was seven. His father later returned to Afghanistan but felt it safer for his son to remain in Iran with his married sister. Four years later, the boy concluded that he had had enough of hardship and harassment in Iran and decided to leave for Europe with a friend.

The decision to leave for Europe, as indicated above, is sometimes made by the father or mother, or, in the absence of the father, often by a maternal uncle, with the child accepting the decision reluctantly in some cases and enthusiastically in others. […]

It is quite likely that a boy’s perceived reason for leaving might not necessarily correspond to whatever actually made his parents reach that decision. Another important element to be considered here is the extent to which a boy has been ‘guided’ to tell a particular story by his parents, smugglers, lawyers or other advisors, especially in the context of making a claim for refugee status.” (UNHCR, 14. Juni 2010, S. 12-13)

AREU widmet sich in einem Bericht vom Februar 2009 den Heiratspraktiken in Afghanistan und geht hier auch auf die Entscheidungsfähigkeit der heiratenden Männer ein. Dem Bericht zufolge sei es wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht nur Mädchen seien, die zu einer Ehe gezwungen würden. Dies betreffe auch Jungen, ältere Männer und Frauen. In ähnlicher Weise würden nicht nur Frauen unter den vorherrschenden Geschlechternormen und den Geboten, nach denen Eheschließungen entschieden und praktiziert würden, leiden, sondern auch Männer. Männer, die gezwungen würden, in einem Alter, das sie sich nicht aussuchen könnten, eine Person, die sie nicht selbst gewählt hätten, zu heiraten, könnten ebenfalls deprimiert und frustriert in schlechten Ehen enden. Dies solle aber nicht das Leiden ihrer Frauen negieren, die unter diesen Umständen zudem zum Opfer von Gewalt durch den Ehemann werden könnten:

„It is important to recognise that it is not only girls who are forced into marriages; so too are boys and older men and women. Similarly, not only do women suffer due to prevailing gender norms and the dictates these place on how marriages are decided on and practised; so too do men. Men who are compelled to marry at an age or time they do not choose or to a person they do not want can also end up in bad marriages, depressed and frustrated. This is not to negate the suffering of their wives, who may also be the victim of their husband’s violence under these circumstances.” (AREU, Februar 2009, S. vi)

Aus einem weiteren Bericht von AREU vom Juni 2009 geht hervor, dass die Eltern, sowohl die Väter als auch die Mütter, normalerweise die wesentlichen Entscheider seien, wenn es darum gehe, wer arbeite und wer in die Schule geschickt werde. Kinder hätten selbst auch eine gewisse Mitsprache, abhängig von der spezifischen Familiendynamik, ihren Verhandlungsfähigkeiten und den individuellen Persönlichkeiten. Dennoch würden sich Kinder häufig zum Arbeiten gezwungen fühlen, um den Haushalt zu unterstützen und würden den Wünschen der Eltern zustimmen. Obwohl Väter und Mütter normalerweise die Entscheider seien, werde die Entscheidung, dass ein Kind die Schule verlassen und arbeiten müsse, in manchen ländlichen Gemeinden von einer größeren Gemeinschaft, darunter die lokale Schura, Dorfälteste und Lehrer, gefällt. Dies könne dann der Fall sein, wenn das lokale soziale Unterstützungssystem sich nicht länger um einen besonders gefährdeten Haushalt ohne eine erwachsene männliche Arbeitskraft kümmern könne:

„Parents, both fathers and mothers, are usually the major decision-makers concerning who works and who goes to school. Children themselves also have some agency, depending on specific family dynamics, their ability to negotiate and individual personalities. However, children often feel compelled to work in order to support their households and agree to their parents’ wishes. In addition, although fathers and mothers are usually the decision-makers, in some rural communities the decision that a child must withdraw from school and work may be made by the larger community, including the local shura, village elders, and teachers. This may occur when local social support systems can no longer provide for extremely vulnerable households lacking an adult male worker.“ (AREU, Juni 2009, S. 50)

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 7. Juni 2018)