(Ramallah) - Die von der Fatah geführte Palästinensische Behörde im Westjordanland und die Hamas-Behörden im Gazastreifen verhaften und foltern routinemäßig friedliche Kritiker und Gegner, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Da sich der Konflikt zwischen der Palästinensischen Behörde und der Hamas verschärft hat, haben beide Parteien die Unterstützer der jeweils anderen ins Visier genommen.

Der 149-seitige Bericht „Two Authorities, One Way, Zero Dissent’: Arbitrary Arrest and Torture Under the Palestinian Authority and Hamas“ untersucht wiederkehrende Muster bei Festnahmen und Haftbedingungen im Westjordanland und im Gazastreifen, 25 Jahre nachdem das Oslo-Abkommen den Palästinensern eine gewisse Selbstbestimmung über diese Gebiete eingeräumt und mehr als ein Jahrzehnt nachdem die Hamas de facto die Kontrolle über den Gazastreifen übernommen hat. Human Rights Watch schildert mehr als zwei Dutzend Fälle von Menschen, die festgenommen und inhaftiert wurden, nur weil sie einen kritischen Artikel oder Facebook-Post verfasst hatten oder der falschen Studentengruppe oder politischen Bewegung angehörten.

 „25 Jahre nach Oslo haben die palästinensischen Behörden nur begrenzte Macht im Westjordanland und im Gazastreifen erlangt, dennoch haben sie dort, wo sie autonom sind, parallele Polizeistaaten aufgebaut“, so Tom Porteous, stellvertretender Programmdirektor bei Human Rights Watch. „Aufrufe von palästinensischen Beamten, die Rechte von Palästinensern zu schützen, klingen hohl, wenn gleichzeitig jegliche Kritik zerschlagen wird.“

Human Rights Watch führte Interviews mit 147 Zeugen, darunter ehemalige Häftlinge und ihre Angehörigen, Anwälte und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen. Zudem wertete Human Rights Watch Fotomaterial aus und prüfte medizinische Berichte und Gerichtsdokumente. Der Bericht beinhaltet fundierte Antworten zu den Erkenntnissen der wichtigsten Sicherheitsbehörden, die in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind.

Systematische, willkürliche Festnahme und Folter verstoßen gegen Menschenrechtsabkommen, denen Palästina kürzlich beigetreten ist. Nur wenige Sicherheitsbeamte wurden strafrechtlich verfolgt und keiner wurde wegen unrechtmäßiger Verhaftung oder Folter verurteilt, soweit Human Rights Watch feststellen konnte.

Die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und andere Regierungen, welche die Palästinensische Behörde und die Hamas finanziell unterstützen, sollen die Hilfe für die spezifischen Einheiten oder Agenturen, die an weit verbreiteten willkürlichen Verhaftungen und Folterungen beteiligt sind, aussetzen, bis die Behörden diese Praktiken unterbinden und die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen.

„Dass Israel systematisch die Grundrechte der Palästinenser verletzt, ist kein Grund dafür, zu schweigen angesichts der systematischen Unterdrückung von Dissens und der Folter durch palästinensische Sicherheitskräfte“, so Shawan Jabarin, Vorsitzender der palästinensischen Menschenrechtsorganisation al-Haq und Mitglied des Advisory Boards von Human Rights Watch für den Nahen Osten und Nordafrika.

Human Rights Watch traf sich mit den Nachrichtendiensten der Palästinensischen Behörde in Ramallah. Ein Angebot der Hamas-Behörden für ein Treffen in Gaza konnte nicht wahrgenommen werden, da Israel sich weigerte, leitende Human Rights Watch-Mitarbeiter deshalb in den Gazastreifen einreisen zu lassen. Zudem haben die israelischen Behörden eine Anfrage von Human Rights Watch zurückgewiesen, hochrangige Vertreter im Oktober 2018 in den Gazastreifen einreisen zu lassen, um den Bericht bei einer Pressekonferenz vorzustellen.

Beide Behörden beharren darauf, dass es sich bei Menschenrechtsverletzungen lediglich um Einzelfälle handelt, die untersucht werden und für welche die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Belege, die Human Rights Watch gesammelt hat, widersprechen diesen Behauptungen jedoch.

Die palästinensischen Behörden berufen sich häufig auf sehr weit gefasste Gesetze, wonach die Beleidigung „höherer Autoritäten“ unter Strafe steht, wenn diese zu „konfessionellen Unruhen“  führt oder „der revolutionären Einheit schadet“, um Dissidenten tage- oder wochenlang festzuhalten. Die meisten werden dann wieder freigelassen, ohne dass sie vor Gericht gestellt werden, doch die Anklagepunkte bleiben weiter erhalten. Die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde hielten zudem 221 Palästinenser über diverse Zeiträume zwischen Januar 2017 und August 2018 ohne Anklage oder Gerichtsverfahren auf Anordnung eines Regionalgouverneurs in Verwaltungshaft, so die palästinensische Überwachungsbehörde Independent Commission for Human Rights. 

Eine Reihe ehemaliger Gefangener der Palästinensischen Behörde, die von Human Rights Watch befragt wurden, waren auch von Israel festgenommen worden, das sich mit den Sicherheitskräften der Palästinensischen Behörde in Sicherheitsfragen abstimmt. In Gaza verlangen die Hamas-Behörden bisweilen von Häftlingen, eine Erklärung zu unterzeichnen, mit der sie sich verpflichten, jegliche Kritik oder Proteste einzustellen.

Am 27. September berichtete die Unabhängige Menschenrechtskommission, dass Sicherheitskräfte der Hamas in Gaza mehr als 50 mit der Fatah verbundene Personen verhaftet hatten und dass Beamte der Palästinensischen Behörde im Westjordanland innerhalb weniger Tage mehr als 60 mit der Hamas verbundene Personen festgenommen hatten.

In den dokumentierten Fällen wurden die Gefangenen von palästinensischen Sicherheitskräften bedroht und geschlagen. Zudem wurden sie gezwungen, über längere Zeiträume in schmerzhaften Positionen zu verharren. Hierfür wurden u.a. Kabel oder Stricke verwendet, um die Arme der Gefangenen hinter dem Rücken hochzuheben und zu fixieren.  Die Polizei wendete oft ähnliche Methoden an, um Geständnisse von Personen zu erzwingen, die wegen Drogendelikten oder anderer Vorwürfe inhaftiert waren. Die Sicherheitskräfte zwangen die Gefangenen auch routinemäßig dazu, ihnen Zugang zu ihren Mobiltelefonen und Social Media Accounts zu gewähren. Diese Maßnahmen scheinen darauf abzielen, Dissidenten zu bestrafen und sie und andere von weiteren Aktivitäten abzuhalten.

Während die Behörden regelmäßig Bürgerbeschwerden erhalten und über Systeme zu deren Untersuchung verfügen, hat nach Angaben der Behörden nur eine Minderheit zu einer Feststellung von Fehlverhalten geführt. Noch weniger führten zu einer administrativen Sanktion oder einer Strafverfolgung.

Die palästinensischen Behörden sollen sich an die internationalen Menschenrechtsabkommen halten, denen sie in den letzten fünf Jahren beigetreten sind. Die Behörden der Hamas sagten in einem Schreiben an Human Rights Watch, dass sie sich in der Pflicht sähen, alle vom Staat Palästina ratifizierten internationalen Verträge zu respektieren. Die Einhaltung dieser Verträge verpflichtet die palästinensischen Behörden dazu, dafür zu sorgen, dass eine unabhängige Stelle die Hafteinrichtungen inspiziert und dass die Behörden Beschwerden ernsthaft untersuchen und gegebenenfalls geeignete Sanktionen verhängen.

Die systematische Folter durch palästinensische Behörden könnte einem vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) strafbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen. Schon seit geraumer Zeit ermutigt Human Rights Watch die Anklägerin des IStGH, eine formelle Untersuchung des israelischen und palästinensischen Verhaltens in Palästina, das dem IStGH beigetreten ist, einzuleiten.

Die USA und europäische Staaten unterstützen die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde. Die USA haben 2018 die Mittel für Gesundheits- und Bildungsleistungen für Palästinenser, einschließlich ihrer gesamten Unterstützung für das Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA), gekürzt. Die USA leisten jedoch weiter nichtletale Unterstützungsmaßnahmen für die palästinensische Sicherheitskräfte im Bereich International Narcotics Control and Law Enforcement (INCLE), darunter 60 Millionen Dollar für das Haushaltsjahr 2018  und 35 Millionen Dollar für das Haushaltsjahr 2019 . Katar, Iran und die Türkei unterstützen die Hamas-Behörden finanziell. Diese Länder sollen die Unterstützung für Behörden und Agenturen aussetzen, die routinemäßig Dissidenten foltern. Zu den betroffenen Agenturen der Palästinensischen Behörde gehören der Nachrichtendienst und der Präventions- und Sicherheitsausschuss und für die Hamas die Agentur für Innere Sicherheit. Die Unterstützung soll solange ausgesetzt werden, wie systematische Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen andauern.  

„Die Angriffe der Palästinensischen Behörde und der Hamas gegen Dissidenten und Demonstranten, Reporter und Blogger haben System und niemand wird für sie zur Rechenschaft gezogen“, so Porteous. „Wenn Regierungen dem palästinensischen Volk beim Aufbau eines Rechtsstaates helfen wollen, dann sollten sie keine Sicherheitskräfte unterstützen, die einen Rechtsstaat aktiv untergraben.“

Berichte von ehemaligen Häftlingen

„Ich war auf dem Weg nach Hause. Am Einab-Kontrollpunkt sah ich zufällig den Konvoi des Premierministers, der am Kontrollpunkt aufgehalten wurde. Ich habe diese Szene gefilmt. Nachdem mein Wagen und der Konvoi den Kontrollpunkt passieren durften, wurden wir von einer seiner Eskorten angehalten. Ich wurde verhaftet und zur Station der Präventiven Sicherheitskräfte in Tulkarm gebracht. Ich wurde in Tulkarm und in Ramallah vier Tage lang festgehalten.“ 

  • Jihad Barakat, 29, Journalist, über seine Verhaftung durch die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde im Westjordanland im Juli 2017.

„Ich hatte an einem heißen Sommertag geschrieben: „Schlafen Ihre Kinder [Bezug nehmend auf die Führer der Hamas] auf dem Boden wie unsere?“ Ich glaube, dieser Post hat die Sicherheitskräfte gestört, und deshalb wurde ich vor die Behörde für Innere Sicherheit zitiert und später wegen „Missbrauch von Technologie“ angeklagt.... Ich wurde 15 Tage lang festgehalten.... Später wurde ich nach einer Vereinbarung mit dem Innenministerium entlassen. In dieser Vereinbarung verpflichtete sich mich dazu, nicht negativ über die Regierung zu schreiben oder gegen sie zu hetzen.“

  • Amer Balousha, 26-jähriger Aktivist und Journalist über seine Verhaftung im Juli 2017 durch die Hamas-Behörden in Gaza.

„Ein Zivilbeamter traf mich an der Tür [des Geheimdienstgefängnisses in Jericho]. Er verband mir die Augen, fesselte meine Hände hinter meinem Rücken und fing an, mich zu schlagen und gegen die Wände zu schubsen... das dauerte etwa 10 Minuten. Der Beamte brachte mich zum Büro des Direktors, nahm mir die Augenbinde ab und sagte mir, dass dies mein „Willkommen“ sei......  [ein Beamter] sagte dann: Hängt ihn auf, also bringt ihn nach Shabeh. Ich wurde vom Büro zu den Toiletten gebracht, dort haben sie mir wieder die Augen verbunden, meine Hände hinter meinem Rücken mit Handschellen gefesselt, ein Stück Stoff und Seil in die Mitte der Handschellen gelegt und es zur Seite der Tür gezogen. Es gab einen Haken zwischen der Tür und der Decke. Sie zogen das Tuch hoch und hoben meine Hände hinter meinem Rücken. Meine Beine waren nicht gefesselt und meine Fußspitzen berührten den Boden. Ich musste 45 Minuten lang in dieser Position ausharren. Ein Beamter schlug mir mit einem großen Stock auf den Rücken, zwischen die Schultern, mehr als einmal..... Nachdem sie mich wieder runtergelassen hatten, fühlte ich, dass meine Hände bis zu meinen Schultern taub waren, und ich konnte mich nicht auf dem Beinen halten....[am nächsten Tag] sagte mir der Entsafter (Spitzname für seinen Vernehmer in Jericho): „Ich verspreche dir, dass du diesen Ort nicht verlassen wirst und wenn doch, dann nur im Rollstuhl“.

  • Alaa Zaqeq, 27, wurde im April 2017 von den Sicherheitskräften der PA aufgrund seiner Aktivitäten als Absolvent mit einer der Hamas angeschlossenen Studentengruppe für drei Wochen festgehalten.

„Ich wurde gezwungen, den ganzen Tag mit verbundenen Augen in einem Raum namens Bus zu stehen. Es waren 5 oder 10 Leute mit mir in dem Raum. Gelegentlich setzten sie uns auf kleine Stühle, aber wir brauchten die Erlaubnis für alles, was wir taten, auch für das Schlafen oder Sprechen. Ich verbrachte 30 Tage dort.... Nach dem ersten Tag begannen die Schläge. Ich musste meine Hände öffnen und sie fingen an, mich mit einem Seil zu schlagen und meine Füße auszupeitschen.“

  • Fouad Jarada, 34-jähriger Journalist der Palestinian Broadcasting Corporation, wurde im Juni 2017 von den Hamas-Kräften verhaftet, drei Tage nach einem Facebook-Post von ihm, in dem er sich kritisch über einen Hamas-Verbündeten äußerte, und einer Reihe kritischer Nachrichtenberichte. Die Behörden hielten ihn mehr als zwei Monate lang fest. Ihm wurde vorgeworfen, die revolutionäre Einheit „zu schädigen“. Er wurde erst freigelassen, als die PA zustimmte, Journalisten im Westjordanland zu verhaften, die der Hamas nahestehen.

 „Ich habe immer noch Albträume...[dass] die Zelle mich erwürgt und ich nicht atmen kann.“

  • Fares Jbour, 24, wurde im Januar 2017 für 24 Tage festgehalten aufgrund seiner Aktivitäten mit einer der Hamas angeschlossenen Studentengruppe an einer Universität in Hebron im Westjordanland. 

 „Die Jungs haben Angst vor dem Schreiben. Sie versuchen nichts. Sie teilen nichts. Sie klicken nicht mal „Gefällt mir“, wenn jemand etwas Regierungskritisches schreibt. Sie haben Angst.“ 

  • Mohammad Lafi, 24-jähriger Rapper aus dem Flüchtlingslager Jabalia in Gaza, wurde im Januar 2017 von den Hamas-Behörden für fünf Tage festgehalten, nachdem er ein Musikvideo mit dem Titel „Your Right“ veröffentlicht hatte, in dem Menschen aufgefordert wurden, gegen die Stromkrise zu demonstrieren, und er selbst an entsprechenden Protesten teilgenommen hatte.

„Ich spüre förmlich, dass ich überwacht werde, als läge ich unter einem Mikroskop. Ich wurde zwar freigelassen, aber bis jetzt habe ich das Gefühl, dass ich nicht wirklich frei bin. Sie haben unseren Wunsch gebrochen, die Rechte der Bürger zu verteidigen.“ 

  • Taghreed Abu Teer, 47-jähriger Journalist der Palestinian Broading Corporation, wurde im April 2017 von den Hamas-Behörden für 11 Tage festgehalten, nachdem er an Konferenzen der Fatah in Ramallah teilgenommen hatte.

„Ich lebe in einem Land, in dem es mir verboten ist, meine Meinung zu äußern. Dieses Land ist nicht das Land, von dem wir träumen, überhaupt nicht. Ich glaube nicht, dass es einen Palästinenser gibt, der akzeptieren würde, dass dieser Kampf enden würde, und all die Jahre unseres Lebens, nicht nur unseres, sondern auch derer vor uns, so dass wir am Ende ein Regierungssystem haben, das die Form einer Diktatur angenommen hat. Das darf nicht sein... es ist sehr schmerzhaft, dass wir ein Regime haben, bevor wir jemals einen Staat hatten. Unser Problem mit der PA ist, dass sie Sicherheitskräfte aufbauen und Menschen kontrollieren, obwohl wir nicht einmal den Kontrollpunkt kontrollieren.“

  • Hamza Zbeidat, 31-jähriger Mann, der für eine nichtstaatliche Entwicklungsgruppe arbeitet, wurde im Mai 2016 von den Sicherheitskräften der PA für zwei Tage festgehalten aufgrund eines Facebook-Posts, in dem die Palästinenser aufgefordert wurden, „gegen die PA zu kämpfen, so wie wir gegen Israel kämpfen“.