Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktivitäten der afghanischen Taliban in Pakistan; Rolle der Peshawar-Schura in Kabul; Rekrutierungspraktiken der afghanischen Taliban innerhalb Pakistans (speziell in Schulen); Rekrutierung von Jugendlichen und Folgen einer Verweigerung [a-10616]

30. Mai 2018

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Aktivitäten der afghanischen Taliban in Pakistan; Rolle der Peshawar-Schura in Kabul

Der Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi führt in einem im August 2017 vom norwegischen Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo veröffentlichten Bericht zur Struktur und Organisation der afghanischen Taliban an, dass die Taliban in vier Schuras unterteilt seien, darunter die Quetta-Schura, unter deren Autorität auch die Miran-Schura sowie die Peshawar-Schura stehen würden. Die Peshawar-Schura habe ihren Sitz in Peshawar und setze sich aus mehreren kleinen „Fronten“ zusammen, die von den östlichen Stämmen rekrutieren würden:

„As of mid-2017 the Taliban were organised in the following shuras:

Quetta Shura, under whose authority operate the following:

      Miran Shah Shura, based in Miran Shah, North Waziristan, and composed exclusively of the Haqqani network;

      Peshawar Shura, based in Peshawar, and composed of several small fronts recruiting from the eastern tribes.

Shura of the North […]

Mashhad Shura […]

Rasool Shura […]“ (Giustozzi, 23. August 2017b, S. 6)

In einem weiteren Bericht zum Geheimdienst der Taliban und ihren Einschüchterungskampagnen schreibt Giustozzi im August 2017, dass sich die unterschiedlichen Einheiten untereinander auf eine territoriale Aufteilung Afghanistan geeinigt hätten, obwohl sie nicht gänzlich einig über die Grenzen seien und ihre Einsatzgebiete sich in jenen Provinzen überschneiden würden, in denen mehr als eine Schura Ansprüche erhebe. Eine Ausnahme stelle Kabul dar, wo es zu einer Arbeitsteilung gekommen sei. In Kabul seien die Haqqanis (Miran-Schura) für spezielle Operationen des Geheimdienstes verantwortlich, während die Peshawar-Schura (unter der Quetta-Schura) Routinetätigkeiten des Geheimdienstes abwickle, darunter das Aufspüren von Personen, die auf der ‚schwarzen Liste‘ (Liste gesuchter Personen) stehen. Die genauen Modalitäten, wie die ‚schwarze Liste‘ geführt werde, seien unbekannt, doch abgesehen von der Rasool-Schura würden die anderen Schuras eine gemeinsame nationale ‚schwarze Liste‘ führen. Lokale Taliban hätten nur Zugang zu lokalen Teilen der Liste. Wenn man die Geheimdienst-Institutionen als Ganzes betrachtet, würden typischerweise rund 15 Prozent aller Geheimdienstmitarbeiter der Taliban ihren Sitz in Pakistan haben, darunter Teile von administrativen Strukturen, sieben bis acht Prozent hätten ihren Sitz im Iran und der Rest innerhalb Afghanistans:

„The entities agreed a territorial partition of Afghanistan among themselves, although they could not entirely agree on the boundaries, and their areas of operations overlapped in provinces in which more than one shura claimed for itself. […] The overlap was usually a result of the shuras not fully agreeing about their areas of responsibility, with the exception of Kabul city where it was a matter of division of labour. Here the Haqqanis (Miran Shah Shura) would manage intelligence for special operations, while the Peshawar Shura (under the Quetta Shura) would handle routine intelligence, including for the targeting of individuals on the blacklist (list of wanted individuals). The exact modalities of how the blacklist is operated are not known, but except for the Rasool Shura the other Shuras share the same national blacklist. Local Taliban only have access to local sub-sets of the blacklist.“ (Giustozzi, 23. August 2017a, S. 6)

„Typically, if we take the intelligence departments as a whole, around 15 % of all Taliban intelligence staff would be based in Pakistan, including as part of an administrative structure, 7-8 % in Iran, and the rest inside Afghanistan.“ (Giustozzi, 23. August 2017a, S. 8)

Rekrutierungspraktiken der afghanischen Taliban innerhalb Pakistans (speziell in Schulen)

Landinfo bezieht sich in einem Bericht vom Juni 2017 auf Giustozzi, laut dem die meisten der Elitetruppen der Taliban in Pakistan rekrutiert würden. Laut einem Think Tank vor Ort würden die Taliban persönliche und direkte Versuche unternehmen, um Menschen davon zu überzeugen, die Ideologie ihrer Bewegung und ihr Weltbild zu unterstützen. Viele dieser Aktivitäten würden über religiöse Netzwerke laufen. Dies könne in einer Moschee in Verbindung mit dem Freitagsgebet erfolgen oder bei anderen lokalen Veranstaltungen. Ein großer Apparat von politischen Vertretern und Unterstützern würde laut Giustozzi Moscheen und Medressen zum Rekrutieren nutzen, häufig in Pakistan:

„Further, Giustozzi claims that most of the elite forces are recruited in Pakistan.“ (Landinfo, 29. Juni 2017, S. 10)

„In addition, Taliban makes personal and direct attempts to convince people to support the movement’s ideology and worldview. Much of this activity is conducted through religious networks. This may be in the mosque in connection with Friday prayers, or other local events or arenas (conversation with local think tank, April 2016). A large apparatus of political agents and facilitators work with recruitment in mosques and madrassas, often in Pakistan (conversation with Giustozzi in Oslo, November 2015).“ (Landinfo, 29. Juni 2017, S. 12)

Der vom US-Kongress finanzierte Rundfunkveranstalter Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) berichtet im März 2018 von Pakistans sogenannter „Universität des Dschihad“, die von einem Mann geführt werde, der sich selbst als der „Vater der Taliban“ bezeichne und einige der berüchtigsten Terroristen als seine Absolventen gehabt habe. Das religiöse Darul Uloom Haqqania Seminar, das sich in Akora Khattak im Nordwesten Pakistans befinde, sei dafür bekannt, eine fundamentalistische Auslegung des Islam zu predigen und eine Generation von Kämpfern für die afghanischen Taliban wie auch für die Tehrik-e Taliban Pakistan (TTP), die auch als pakistanische Taliban bekannt seien, auszubilden.

Rund 3000 junge Männer mit Bärten und weißen Käppchen würden am rund 50 Kilometer östlich von Peshawar liegenden Haqqania-Campus studieren, was die Schule zu einer der größten islamischen Lehrzentren der Welt mache. Wie von einer islamischen Lehreinrichtung erwartet, würden die Schüler den Koran auswendig lernen und das islamische Recht und die Lehren des Propheten Mohammed studieren. Die Lehrtätigkeit am Seminar wurzle jedoch in der Sunni-Deobandi-Bewegung, die in Indien im späten 19. Jahrhundert im Widerstand gegen den britischen Kolonialismus entwickelt worden sei und ihre Anhänger zum gewaltsamen Dschihad aufrufe, was dem Seminar einen zweifelhaften Ruf eingebracht habe. Laut Michael Semple, einem Afghanistan- und Pakistan-Experten der Queen’s Universität in Belfast, würden Fakultäten, Studenten und Absolventen des Seminars eng mit einigen militanten Gruppierungen in Verbindung stehen. Die afghanischen Taliban hätten vermutlich die am besten entwickelten Verbindungen und würden die jungen Absolventen systematisch rekrutieren. Dies würde auch nicht geheim gehalten, sondern würde auf ähnliche Weise passieren wie das Anwerben von Absolventen auf Firmenkontaktmessen seitens hochkarätiger Unternehmen:

„Pakistan's so-called university of jihad is led by a man who proclaims himself ‘the father of the Taliban,’ and counts some of the world's most notorious terrorists among its alumni. The Darul Uloom Haqqania religious seminary, located in Akora Khattak in northwest Pakistan, is known for preaching a fundamentalist brand of Islam and schooling a generation of fighters for both the Afghan Taliban and the Tehrik-e Taliban Pakistan (TTP), also known as the Pakistani Taliban. Around 3,000 young men with beards and white skullcaps study at Haqqania’s sprawling campus -- located about 50 kilometers east of Khyber Pakhtunkhwa's capital, Peshawar, and 90 kilometers west of the national capital, Islamabad -- making it one of the largest Islamic teaching centers in the world.

As could be expected from an Islamic institution of learning, students memorize the Koran and study Islamic law and the teachings of the Prophet Muhammad. But the seminary’s teachings rooted in the Sunni Deobandi movement, which developed in India in the late 19th century in opposition to British colonialism, encourages its adherents to conduct violent jihad, earning the seminary a sordid reputation. ‚Faculty, students, and alumni of the seminary are intimately linked to several militant groups,‘ said Michael Semple, an expert on Afghanistan and Pakistan at Queen's University, Belfast. ‚The Afghan Taliban perhaps have the best-developed links, and they systematically recruit young graduates,’ he added. ‘This is not even a particularly secret activity. The recruitment works rather like the way blue-chip companies would approach a graduate recruitment fair.‘“ (RFE/RL, 11. März 2018)

Giustozzi schreibt in seinem oben zitierten Bericht, dass die Taliban neben dem Vereinnahmen von Gemeinschaften auch versuchen würden die Bevölkerung - vor allem die jüngeren Generationen wann immer sie können - direkt zu beeinflussen. Zu diesem Zweck würden sie zusätzlich zur finanziellen Förderung von hunderten ihrer eigenen Medressen Lehrer an Schulen und in Medressen rekrutieren:

„Aside from co-opting communities, the Taliban also try to influence the population directly, particularly the young generation wherever they can. For this purpose, they recruit teachers in schools and in madrasas, on top of funding their own madrasas in the hundreds.“ (Giustozzi, 23. August 2017b, S. 19)

Rekrutierung von Jugendlichen und Folgen einer Verweigerung

Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) berichtet im Februar 2016, dass die Taliban Kinder für unterschiedliche militärische Operationen, darunter die Produktion und der Einsatz von unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen, ausbilden und einsetzen würden. In der Provinz Kunduz hätten die Taliban zunehmend Medressen oder religiöse islamische Schulen benutzt, um Kinder zwischen 13 und 17 Jahren militärisch auszubilden, von denen viele im Kampf eingesetzt worden seien.

Da die Taliban mit der Indoktrinierung der Kinder schon in frühem Alter beginnen würden, seien diese leicht zum Kämpfen zu überreden. Verwandte von Kindersoldaten in Kunduz hätten Human Rights Watch berichtet, dass die Taliban auf Kinder abzielen würden, weil es einfach wäre, diese von der Rechtschaffenheit des Dschihad zu überzeugen, und weil diese in einem Alter wären, in dem sie sich noch nicht um eine eigene Familie kümmern müssten und sich deshalb leicht zu gefährlichen Aufgaben überreden lassen würden. Generell würden Kinder nicht gewaltsam rekrutiert. Allerdings seien Eltern, die versuchen würden, ihre Kinder zurückzuholen, nicht in der Lage dies zu tun, da die Taliban behaupten würden, die Kinder wären volljährig oder unabhängig von ihrem Alter dem Dschihad verpflichtet.

Laut Interviews von Human Rights Watch mit den Verwandten von 13 im Jahr 2015 von den Taliban rekrutiert Jungen sowie mit Gemeindeältesten, die versucht hätten den Familien bei der Befreiung der Kinder zu helfen, hätten die Eltern in allen Fällen ohne Erfolg versucht, die Rückkehr ihrer Söhne sicherzustellen. Manche der Kinder seien währen der Kämpfe in Kunduz getötet worden.

Einer der rekrutierten Jungen sei der sechzehnjährige Naijib aus einem Dorf im Distrikt Chahardara. Ein Verwandter habe angegeben, dass die Taliban den Jungen gegen den Willen der Eltern rekrutiert hätten. Sein Vater sei nicht mehr am Leben und sein Großvater hätte ihn in die Türkei geschickt, um die Rekrutierung durch die Taliban zu verhindern, doch als er zurückgekommen sei, hätten die Taliban ihn rekrutiert:

„New Human Rights Watch research shows that the Taliban have been training and deploying children for various military operations including the production and planting of improvised explosive devices (IED). In Kunduz province, the Taliban have increasingly used madrasas, or Islamic religious schools, to provide military training to children between the ages of 13 and 17, many of whom have been deployed in combat.

Because the Taliban begin the indoctrination of children from an early age, they are easily persuaded to fight. Relatives of child soldiers in Kunduz told Human Rights Watch that the Taliban target children because it is easy to convince them of the righteousness of jihad, and because they are at an age where they do not feel responsible for providing for a family and so are easily persuaded to take on dangerous tasks. In general, children are not recruited by force. However parents who have tried to retrieve their children are usually unable to do so because the Taliban claim that the boys are of age, or are committed to jihad regardless of their age.

The following accounts are based on Human Rights Watch interviews with the relatives of 13 boys recruited into the Taliban in 2015, and interviews with community elders who have worked with the families to try to get the boys released. […] In all cases, the parents tried unsuccessfully to secure the return of their sons. In some cases the children were killed during the fighting in Kunduz in 2015.

Najib, 16, is from a village, in Chahardara district. A relative said that the Taliban recruited him against the family’s wishes: His father is not alive and his grandfather sent him to Turkey to avoid Taliban recruitment, but he came back and the Taliban recruited him […].“ (HRW, 17. Februar 2016)

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union zur Umsetzung der praktischen Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Asylbereich, gibt an, dass sich Quellen uneins seien, ob es Kindern möglich sei eine Rekrutierung abzulehnen oder zu vermeiden. Sowohl Borhan Osman als auch Antonio Giustozzi würden erwähnen, dass es möglich sei, Geld zu zahlen um eine Rekrutierung zu vermeiden. Allerdings gebe es auch Quellen, die berichten, dass eine Weigerung keine Option sei. Selbst in Fällen, in denen die Rekrutierung mehr oder weniger ‚freiwillig‘ abgelaufen sei, seien sich Quellen nicht einig, ob es für Minderjährige möglich sei, die Taliban wieder zu verlassen, wenn sie dies wollten. Patricia Gossmann von Human Rights Watch habe angegeben, dass man die Taliban nicht einfach verlassen und erwarten könne, dass man somit frei sei. Antonio Giustozzi und Ali Mohammad Ali hätten allerdings mehrere Fälle untersucht, in denen Rekrutierungen über Schulkollegen erfolgt seien. Lehrer hätten den Experten erzählt, dass in manchen Fällen, in denen die Familie sich hartnäckig gegen eine Rekrutierung geweigert hätte, Familienmitglieder die Jugendlichen gezwungen hätten, die Taliban zu verlassen:

„Sources are divided on whether a child could refuse or avoid recruitment. Both Borhan Osman and Antonio Giustozzi mention the possibility of paying to avoid enrollment. However, there are sources that indicate that refusing is not an option (see section on Taliban, local Taliban fronts and consequences in case of refusal). Even when recruited on a more or less ‘voluntary’ basis, sources do not agree on whether it is possible for a minor to leave the ranks of the Taliban if he would wish. Patricia Gossman of HRW said: ‘You can’t just leave the Taliban and expect that you will be safe’. However, Antonio Giustozzi and Ali Mohammad Ali examined several cases of recruitment through peers in high schools. In some cases, where the family firmly opposed the enrollment, teachers told the researchers that the family members forced the youngsters to leave the Taliban.“ (EASO, September 2016, S. 44)

Das Institute for War and Peace Reporting (IWPR), ein in London ansässiges internationales Netzwerk zur Förderung freier Medien, gibt in einem Artikel vom Jänner 2017 an, dass es mit Familien gesprochen habe, die aufgrund von Drohungen der Taliban ihre Heimat verlassen hätten. Eine 60-jährige Frau aus dem Distrikt Shinwari habe berichtet, dass die Taliban ihren 18-jährigen Sohn getötet hätten, weil er sich geweigert habe, sich ihnen anzuschließen. Die Kämpfer hätten ihm vorgeworfen, dass er für die Regierung spioniere. Sie selbst sei mit ihren fünf Enkelsöhnen und ihrer Schwiegertochter von Zuhause geflohen und ins Zentrum der Provinz Parwan gekommen. Sie habe angegeben, dass sie auch von den Taliban getötet worden wären, wenn sie nicht geflohen wären:

„IWPR met and interviewed tens of families who had been displaced due to such threats. Bibi Ayesha, 60, is from Kuhn De in Shinwari district but now lives in rented accommodation in the centre of the province. ‚The Taleban killed my 18-year old young son because he refused to join them. The fighters accused him of spying for the government,’ she said. ‘I, along with my five grandsons and my daughter-in-law ran away from our home and came to the centre of Parwan province. If we had not escaped, we would have been killed by the Taleban too.‘” (IWPR, 27. Jänner 2017)

In den im April 2016 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Afghanistan des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) wird folgendes berichtet:

„Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, Berichten zufolge verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden“ (UNHCR, 19. April 2016, S. 51‑52)

Laut Landinfo-Bericht vom Juni 2017 gebe es nur sehr wenige Informationen zum Gebrauch von direkter Gewalt in Verbindung mit Rekrutierungen und Mobilisierung unter der Schirmherrschaft der Taliban. Das relativ eindeutige Bild der Rekrutierung durch Taliban zeige, dass die Organisation nicht systematisch Zwangsrekrutierungen einsetze oder dass Personen, die sich der Mobilisierung wiedersetzen würden, nicht der Gefahr von rechtsverletzenden Reaktionen ausgesetzt sein würden. Mehrere der Gesprächspartner von Landinfo in Kabul hätten angegeben, dass die Taliban keine Zwangsrekrutierungen durchführen würden. Eine NGO habe hervorgehoben, dass es sehr einfach sei zu desertieren.

Es seien in erster Linie strukturelle Bedingungen, die als Form von Zwangsrekrutierung durch die Taliban betrachtet werden könnten. Strukturelle Bedingungen seien generelle kulturelle, religiöse und soziale Parameter, in Kombination mit begrenztem Vertrauen in den Aufbau von staatlichen Strukturen. Traditionelle Verpflichtungen in Verbindung mit Stammes- und lokalen Macht-Gruppierungen würden dazu führen, dass Individuen aufgrund von Entscheidungen (Bildung von Allianzen), auf die sie selbst wenig Einfluss haben, Teil der Taliban werden würden. Selbst wenn ein Individuum in Verbindung mit der Entscheidung, sich den Taliban anzuschließen, nicht mit der spezifischen Bedrohung durch Sanktionen oder Angriffe konfrontiert werde, würden die begrenzten Optionen einen herausfordernden Druck ausüben:

„However, there is very limited information on the use of direct force in connection with recruitment and mobilisation under the auspices of the Taliban. […] The relatively unambiguous picture of recruitment to the Taliban indicates that the organisation is not systematically using forced recruitment or that persons who oppose mobilisation are subjected to threats of rights - violating reactions. Several of Landinfo’s interlocutors in Kabul (April 2016) considered that the Taliban did not carry out forced recruitment. An NGO (April 2016) pointed out that it is very easy to desert (conversation in Kabul, April 2016).“ (Landinfo, 29. Juni 2017, S. 18-19)

„It is first and foremost structural conditions that can be said to represent a form of coercion in recruitment to the Taliban. Structural conditions may be general cultural, religious and social parameters, in combination with limited confidence in the state-building process. Traditional obligations related to tribal and local power groups mean that individuals become part of the Taliban as a result of choices (alliance formation) which they themselves have little influence over.“ (Landinfo, 29. Juni 2017, S. 19)

„Even if the individual is not exposed to specific threats of sanctions and/or assaults in connection with the decision to join Taliban, the limited options represent a challenging pressure.“ (Landinfo, 29. Juni 2017, S. 20)

Das britische Upper Tribunal bezieht sich in seiner im April 2018 veröffentlichten Länder-Richtlinie zur Sicherheit in Kabul auf Emily Winterbotham, eine Wissenschaftlerin am Royal United Services Institute. Diese hätte zugestimmt, dass es nur begrenzt Beweise dafür gebe, dass bewaffnete Gruppen in Kabul Drohungen und Zwang nutzen würden, um Personen zu nötigen ihnen beizutreten, und dass es hierfür auch für andere Gebiete nur begrenzt Beweise gebe. Allerdings habe sie angemerkt, dass es einen Mangel an Informationen gebe. Dies bedeute, dass das Fehlen von dokumentierten Vorkommnissen nicht per se die Schlussfolgerung zulassen würde, dass sie nicht stattgefunden hätten:

„Ms Winterbotham accepted that there was limited evidence of armed groups using threats and coercion in order to force individuals to join them in Kabul and limited evidence of this elsewhere as well, albeit noting that there was a lack of monitoring information in Afghanistan which meant the absence of documented instances should not itself justify the conclusion that they did not occur.“ (Upper Tribunal UK, 16. April 2018, S. 27)

In ihrem Afghanistan Gutachten vom März 2018 geht Friederike Stahlmann auf Drohungen der Taliban und die Folgen von Nicht-Kooperation ein:

„Während die Opfer von Körperstrafen und Ermordungen z. B. durch die Paralleljustiz der Taliban in der UNAMA - Zusammenstellungen gelistet sind, werden andere Menschenrechtsverletzungen von UNAMA zwar teilweise vorgestellt, jedoch nicht gezählt, solange sie nicht nachweislich zu physischen Verletzung en oder dem Tod führen – darunter Zwangsrekrutierung und Entführungen. Auch wenn die Androhung von Gewalt an den Betroffen en oder ihren Angehörigen als Gewaltform Folter entspricht, sind somit jene ganz systematisch nicht in die UNAMA Statistiken aufgenommen, die sich unter Androhung von Gewalt den Forderungen militanter oder krimineller Gruppierungen beugen mussten, oder gezwungen waren zu fliehen. Sofern die Betroffenen sich der Drohung beugen, sind die Gewalt und den Gefahren, nicht mehr Teil der Listung, da sie dann offiziell als Kombattanten oder Kriminelle gewertet werden. Prominentestes Beispiel ist wohl die Taliban - Kriegsstrategie mit Hilfe von systematischer Überwachung und unter Androhung von Gewalt Gefolgschaft zu erzwingen. Das betrifft nicht nur all jene, die in Taliban - kontrollierten Gebieten leben und ihrer direkten Herrschaft unterworfen sind, sondern auch diejenigen, die sich in offiziell regierungskontrollierten Gebieten Erpressung beugen müssen, um ihr Leben oder das ihrer Familien nicht in Gefahr zu bringen (vgl. 3). Je größer die Macht der Taliban und je unausweichlicher die Zwangslage der Betroffenen, nicht zuletzt durch die eingeschränkten Optionen auf Flucht, desto umfassender wird diese Form der Gewalt.“ (Stahlmann, 28. März 2018, S. 183)

„Die Aufforderung zur Kooperation und damit dem Beweis der Loyalität, der die ansonsten drohende Verfolgung abwenden kann, kommt meist in Form eines sogenannten ‚Nachtbriefes‘ (shabnameh), der spezifiziert welche Forderungen die Taliban haben. […] Meistens sind die Drohungen bei Nicht-Erfüllung der Forderungen offen benannt, manchmal jedoch auch implizit - was sie nicht weniger bedrohlich macht, denn der Wille der Taliban zur auch gewaltsamen Durchsetzung ihrer Forderungen ist hinlänglich bekannt. Die praktischen Konsequenzen der Verweigerung reichen hierbei von Entführungen über Verstümmelungen […] bis hin zu Mord an den Betroffenen oder ihren Verwandten (s. u.). (vgl. Immigration and Refugee Board of Canada 22.02.2016, SFH 04.03.2016).“ (Stahlmann, 28. März 2018, S. 46)

Friedericke Stahlmann geht in ihrem Gutachten auf den zeitlichen Aspekt einer Bedrohung ein:

„Das Phänomen, dass die Gefahr der Verfolgung bestehen bleibt, auch wenn sie nicht notwendigerweise sofort vollzogen wird, ist hierbei Teil einer Drohkulisse, die nicht zuletzt traditionell etablierten Regeln der Vergeltung folgt. Da es nicht möglich ist, sich auf Dauer vor Verfolgung zu verstecken, sollte die zeitliche Unbegrenztheit, die von diesen 51 traditionellen Regeln vorgesehen wird, Tätern die Chance nehmen, ihrer Strafe zu entkommen. Dass im Gegensatz zu traditionellem Streitmanagement in diesem Fall die Verfolgten keine Straftäter, sondern politische Gegner sind und die Verfolger nicht das Opfer, sondern ein an Macht gewinnendes militant-religiöses Regime, macht die notwendige Sorge vor der Langfristigkeit von Verfolgung nicht kleiner. Dass diese Langfristigkeit auch offiziell Teil der Drohkulisse ist, zeigt sich daran, dass immer noch 3.000 unter ihrer ersten Herrschaft als Gegner Deklarierte und Verurteilte auf der Gesuchten-Liste stehen, obwohl sie sich laut Giustozzi offensichtlich im Ausland aufhalten (Giustozzi 23.08.2017b: 17). Dass es häufig gar nicht zu einer Flucht kommt, liegt wiederum an der sozialen Reichweite der Bedrohung. Genauso wie die Langfristigkeit der Bedrohung ist auch die Mithaftbarmachung des weiteren sozialen Umfelds eines deklarierten Feindes ein typisch afghanisches und nicht auf die Taliban beschränktes Charakteristikum der Verfolgung. So nutzen Taliban nicht nur Drohungen gegen Angehörige, um ihren Forderungen per Erpressung Gewicht zu verleihen. Auch durch den Widerstand, der sich im Akt der Flucht ausdrückt, sind Familienangehörige mitbedroht (vgl. Immigration and Refugee Board of Canada 15.02.2016 und 22.02.2016, SFH 04.03.2016, Tanha/IWPR 27.01.2017).“ (Stahlmann, 28. März 2018, S. 50-51)

Friederike Stahlmann bezieht sich hier unter anderem auf eine Anfragebeantwortung der kanadischen Einwanderungsbehörde (Immigration and Refugee Board, IRB) vom Februar 2016 zu den Möglichkeiten der Taliban, Menschen langfristig aufzuspüren:

·      IRB – Immigration and Refugee Board of Canada: Afghanistan: Whether the Taliban has the capacity to pursue individuals after they relocate to another region; their capacity to track individuals over the long term; Taliban capacity to carry out targeted killings (2012-January 2016) [AFG105412.E], 15. Februar 2016
https://www.ecoi.net/de/dokument/1148122.html

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 30. Mai 2018)

·      EASO – European Asylum Support Office: Afghanistan; Recruitment by armed groups, September 2016
https://www.ecoi.net/en/file/local/1131093/90_1474353951_2019-09-easo-afghanistan-recruitment.pdf

·      Giustozzi, Antonio: Afghanistan: Taliban’s Intelligence and the intimidation campaign, 23. August 2017a (veröffentlicht von Landinfo)
https://www.ecoi.net/en/file/local/1406312/1226_1504616087_170824551.pdf

·      Giustozzi, Antonio: Afghanistan: Taliban’s organization and structure, 23. August 2017b (veröffentlicht von Landinfo)
https://www.ecoi.net/en/file/local/1406310/1226_1504616422_170824550.pdf

·      HRW – Human Rights Watch: Taliban Child Soldier Recruitment Surges, 17. Februar 2016
https://www.ecoi.net/de/dokument/1285877.html

·      IRB – Immigration and Refugee Board of Canada: Afghanistan: Whether the Taliban has the capacity to pursue individuals after they relocate to another region; their capacity to track individuals over the long term; Taliban capacity to carry out targeted killings (2012-January 2016) [AFG105412.E], 15. Februar 2016
https://www.ecoi.net/de/dokument/1148122.html

·      IWPR - Institute for War and Peace Reporting: Afghanistan: Civilians Caught Up in Revenge Attacks, 27. Jänner 2017

https://iwpr.net/global-voices/afghanistan-civilians-caught-revenge-attacks

·      Landinfo – Norwegian Country of Origin Information Centre: Afghanistan: Rekruttering til Taliban, 29. Juni 2017
https://www.ecoi.net/en/file/local/1404573/1226_1500894367_3579-1.pdf

·      RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty: 'University Of Jihad' Gets Public Funds Even As Pakistan Fights Extremism, 11. März 2018
https://www.ecoi.net/de/dokument/1426393.html

·      Stahlmann, Friederike: Gutachten Afghanistan, Geschäftszeichen: 7 K 1757/16.WI.A, 28. März 2018
https://www.ecoi.net/en/file/local/1431611/90_1527075858_gutachten-afghanistan-stahlmann-28-03-2018.pdf

·      UNHCR – UN High Commissioner for Refugees: UNHCR Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan, 19. April 2016
https://www.ecoi.net/en/file/local/1057039/90_1471846055_unhcr-20160419-afg-richtlinien-de.pdf

·      Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (UK): AS (Safety of Kabul) Afghanistan CG [2018] UKUT 00118 (IAC), 16. April 2018
https://moj-tribunals-documents-prod.s3.amazonaws.com/decision/doc_file/58824/00118_ukut_iac_2018_as_afghanistan_cg.doc