Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Pandschschir: 1) Zwangsverheiratungen von Mädchen bzw. jungen Frauen seit 2009, insbesondere in der gebildeten Schicht; 2) staatlicher Schutz [a-10449]

2. Jänner 2018
 

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1) Zwangsverheiratungen von Mädchen bzw. jungen Frauen seit 2009, insbesondere in der gebildeten Schicht

Lutz Rzehak, Privatdozent am Zentralasien-Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin, schreibt in einer E-Mailauskunft vom Jänner 2018:

„Die Provinz Panjshir unterscheidet sich in Fragen der Eheschließungen nicht wesentlich von anderen Gegenden in Afghanistan. Eheschließungen werden in der Regel zwischen zwei Familien vereinbart. Erfahrungsgemäß werden Jungen und Mädchen dabei gefragt, ob sie mit einer potentiellen Braut oder mit einem potentiellen Bräutigam einverstanden sind, aber das ist eher eine Formsache. Bei Mädchen wird es schon als ‚ja‘ gewertet, wenn diese schweigen. Letzten Endes geht es aber um eine Vereinbarung zwischen zwei Familien. Familien aus gebildeteren Schichten machen dabei keine Ausnahme, zumindest nicht in ländlichen Gegenden wie in Panjshir.

Wenn wir aus westlicher Perspektive von Zwangsverheiratung sprechen, liegt das im Wesen des Konzepts, wonach Eheschließungen nicht zwischen zwei Individuen, sondern zwischen Verwandtschaftsgruppen vereinbart und vollzogen werden.“ (Rzehak, 3. Jänner 2018)

Im August 2014 veröffentlichten die afghanischen Nichtregierungsorganisationen Tawanmandi und Civil & Liberal Initiative for Peace (CLIP) einen Bericht, der sich auf Basis von Fallstudien in zehn Distrikten in den Provinzen Kabul, Parwan und Panjshir mit der Praxis des „bad“ (Verheiratung von weiblichen Familienmitgliedern zwecks friedlicher Beilegung von Konflikten zwischen Familien) beschäftigt. Dem Bericht zufolge hätten 70 Prozent der befragten Personen angegeben, dass die „bad“-Praxis in den vergangenen Jahren im jeweiligen Gebiet abgenommen habe. Nur 0,01 Prozent hätten angegeben, dass die Praxis zugenommen habe.

Dem Bericht zufolge würden mehrere Faktoren dazu beitragen, dass „bad“ anderen Mitteln der Konfliktlösung vorgezogen werde: Manche Dorfälteste und Mitglieder von Schuras (religiösen Räten) hätten erklärt, dass der „Erhalt“ eines Mädchens aus der Familie des Täters als Wiedergutmachung bei Konflikten, die etwa durch Mord oder das Weglaufen eines Mädchens ausgelöst würden, den Leuten mehr Genugtuung verschaffe als etwa der Erhalt einer Entschädigung in Form von Geld.

Ein weiterer Faktor für die Bevorzugung von „bad“ seien hoher Analphabetismus und mangelndes Verständnis religiöser Normen. Zahlreiche interviewte Mullahs hätten angegeben, dass die Leute weniger auf „bad“ zurückgreifen würden, wenn sie verstünden, wie sehr „bad“ in Widerspruch zu grundlegenden religiösen Werten stehe. Zudem würden die unverhältnismäßig hohen finanziellen Konsequenzen von schweren Streitfällen arme Familien im ländlichen Raum dazu veranlassen, eher ein Mädchen aus ihrer Familie aufzugeben als eine unmöglich hohe Geldsumme zu zahlen.

Weiters führe die Tatsache, dass lokale Dschirgas (Stammesversammlungen) und Schuras in manchen Gebieten starken Einfluss und informelle Autorität ausüben würden, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zum Einsatz von „bad“-Praktiken. Da in manchen Schuras nur begrenzte Mittel zur Konfliktlösung vorhanden seien, würden diese mangels Alternativen mit größerer Wahrscheinlichkeit auf „bad“ zurückgreifen. Nach Angaben eines Schura-Mitglieds in Panjshir hätten lokale informelle Autoritätsfiguren wie Mullahs, Arbabs und Schura-Mitglieder große Entscheidungsmacht. Wenn diese keine anderen Mittel zur Lösung eines Konflikts fänden, könnten sie „bad“ als Lösung vorgeben. Angesichts der Macht, die diese Personen ausüben würden, könnten sich die meisten Familien ihren Entscheidungen nicht widersetzen:

„BAD is the practice of trading a female member in marriage as means towards peaceful resolution of conflicts in cases that are involved with murder or any form of perceived affront to one’s honor a form of blood price.” (Tawanmandi/ CLIP, August 2014, S. 9)

„This study examines the practice of BAD in Afghanistan. Based on district-level case studies conducted in 10 districts of Kabul, Parwan and Panjsher provinces, the findings of the study could help government social policy makers, CSOs, local and international NGOs in Afghanistan to understand the harmful practice of BAD and establish effective social policies and programs in order to reduce and eliminate such illegal tradition in the longer term.” (Tawanmandi/ CLIP, August 2014, S. 11)

„The data shows that about 70% of the people surveyed said that practice of BAD has decreased in their areas in the recent years. Whereas merely 0.01% or in the other words 13 out of 662 respondents said that there is an increase in Practice of BAD.” (Tawanmandi/ CLIP, August 2014, S. 21)

„Several reasons contribute to localized preferences of BAD over alternative dispute resolution mechanisms. Some heads of villages and Shuras members say that getting a girl in compensation for serious disputes like murder or the fleeing of girl, psychologically satisfies people because they think it is the most precious and suitable revenge they can take. Money or other financial retribution cannot have the same effect as getting a girl of the family of the perpetrator of the crime.

Another reason BAD is preferred over other mechanisms is due to the high level of illiteracy and lack of understanding of religious laws. Many mullahs interviewed state that if people understood the way BAD contradicts with the core religious values, people would be less likely to resort to it as a solution. Additionally, many interviewees consider that the excessive financial repercussions of serious cases which lead to BAD drives from poor rural families to resolve disputes by giving up a girl from their family instead of an impossible sum of money.

The strong influence and informal authority of local Jirgas and Shuras in some areas also increase the likelihood of the use of BAD. Since some Shuras have limited resources for dispute resolution, they are likely to resort to BAD in the absence of other options. As per a Shura member from Panjshir: ‘The power of local informal officials like mullahs, Arbabs and Shuras to decide is very high, hence if they cannot find other ways to solve a dispute, then they might adhere to BAD as a solution, and due to their power most family cannot protest their decision.’” (Tawanmandi/ CLIP, August 2014, S. 27)

Es konnten keine weiteren Informationen zu dieser Teilfrage gefunden werden.

2) Staatlicher Schutz

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union zur Förderung der praktischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Asylbereich, schreibt in einem im Dezember 2017 veröffentlichten Bericht unter Berufung auf eine in Afghanistan tätige internationale Organisation, dass regierungsfeindliche Gruppen in Panjshir keine feste Präsenz hätten, da die Provinz geografisch isoliert und ethnisch homogen sei. Dennoch seien die Behörden besorgt über ein Eindringen von Aufständischen im Zuge von Bewegungen von Binnenvertriebenen, die vor allem aus der Provinz Nuristan kämen. In einem Bericht vom März 2017 hätten die Taliban angegeben, sie hätten Kämpfer in den Distrikten Dara Abdullah, Paryan und Rakha der Provinz Panjshir, jedoch keine Gebietskontrolle:

„Because of its geographical isolation and ethnic homogeneity, AGEs have not maintained a hold in this province. Nevertheless, authorities are concerned about insurgent intrusion through IDP movements, mainly coming from Nuristan. According to a report issued by the Taliban in March 2017, the group claims to have fighters present in Dara Abdullah, Paryan and Rakha districts, but without holding any territory.” (EASO, Dezember 2017, S. 222)

Das Long War Journal, eine von der US-Denkfabrik Foundation for Defense of Democracies (FDD) betriebene Nachrichtenwebsite, die sich mit Berichterstattung über den „globalen Krieg gegen den Terrorismus“ beschäftigt, veröffentlicht im September 2017 eine Karte basierend auf einer Evaluierung von Taliban-Berichten zu Gebietskontrolle in Afghanistan. Auf der Karte ist der Distrikt Dara der Provinz Panjshir als zwischen Regierung und Taliban „umkämpft“ markiert. Die Taliban hätten in dem Distrikt ihre Angriffe verstärkt. Im Mai 2015 hätten sie behauptet, das Distriktzentrum von Dara eingenommen zu haben:

·      LWJ – Long War Journal: LWJ Map Assessment: Taliban controls or contests 45% of Afghan districts, 26. September 2017
https://www.longwarjournal.org/archives/2017/09/lwj-map-assessment-taliban-controls-or-contests-45-of-afghan-districts.php

 

Laut einem älteren, im November 2016 veröffentlichten Artikel der US-Militärzeitung Stars & Stripes sei das Panjshir-Tal, das sich 50 Kilometer nördlich von Kabul befinde, eines der sichersten Gebiete Afghanistans. Eine zunehmende Zahl von Bewohnern sei jedoch darüber besorgt, dass das jüngste Wiedererstarken der Taliban dazu führen könnte, dass es auch in dieser Region zu Gewalt komme:

„The Panjshir Valley, about 50 miles north of Kabul, has been one of the safest places in this country. But a growing number of inhabitants fear the Taliban’s recent resurgence could bring violence to their quiet region.” (Stars & Stripes, 7. November 2016)

Es konnten keine weiteren Informationen zu dieser Teilfrage gefunden werden.

 

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 2. Jänner 2018)

·      EASO - European Asylum Support Office: Afghanistan Security Situation, Dezember 2017 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1514466342_easo-afghanistan-security-situation-2017.pdf

·      LWJ – Long War Journal: LWJ Map Assessment: Taliban controls or contests 45% of Afghan districts, 26. September 2017
https://www.longwarjournal.org/archives/2017/09/lwj-map-assessment-taliban-controls-or-contests-45-of-afghan-districts.php

·      Rzehak, Lutz: E-Mailauskunft, 3. Jänner 2017

·      Stars & Stripes: As Afghan war escalates, security fears grow in peaceful valley, 7. November 2016
https://www.stripes.com/news/as-afghan-war-escalates-security-fears-grow-in-peaceful-valley-1.438008

·      Tawanmandi/ CLIP - Civil & Liberal Initiative for Peace: Assessment of the practices of BAD and its adverse social impacts in Afghanistan, August 2014
http://openasia.org/en/g/wp-content/uploads/2015/01/Research-Draft-21-Oct-2014-3-1.pdf